Hypergonadotroper Hypogonadismus bei Jungen
Mit einer
Prävalenz von 1:500–1000 ist das
Klinefelter-Syndrom die häufigste Ursache eines hypergonadotropen
Hypogonadismus bei Jungen. Grundlage ist das Vorhandensein eines zusätzlichen X-Chromosoms. Bei 80 % der Betroffenen liegt ein
Karyotyp 47,XXY vor. Bei den anderen 20 % der Klinefelter-Patienten finden sich Mosaike oder Varianten mit einer höheren Anzahl von X-Chromosomen. Die Häufigkeit und Schwere neurologischer Symptome nimmt mit steigender Zahl der X-Chromosomen zu. Einige Patienten werden im Rahmen einer
Pränataldiagnostik diagnostiziert. Wegen der im pädiatrischen Altersbereich gering ausgeprägten, variablen Symptomatik wird ansonsten die Diagnose oft erst im Erwachsenenalter gestellt. Eine Klinodaktylie des 5. Fingers, Hypertelorismus, hoher Gaumen, Ellenbogendysplasie und ein reduzierter Muskeltonus sind häufig anzutreffende Befunde (Visootsak und Graham Jr.
2006). Bereits im vorpubertären Alter sind Hoden und Penis kleiner als bei den Altersgenossen. Jenseits eines Hodenvolumens von 2 ml ab einem Alter von 12 Jahren finden sich kaum mehr A
d-Spermatogonien in den Tubuli des Hodens, es entwickelt sich eine interstitielle
Fibrose, eine hyaline Umformung der Tubuli mit Sertoli-Zell-Dysfunktion und eine Leydig-Zell-Hyperplasie. Während die Testosteronkonzentrationen zu Pubertätsbeginn noch normal ansteigen, fallen die Inhibinkonzentrationen ab, das FSH im
Serum steigt an. Das erhöht die Aromataseaktivität,
Testosteron wird vermehrt in Östradiol umgewandelt. Die meisten Jungen entwickeln unter Einfluss dieses erhöhten Östradiol/Testosteron-Quotienten in der
Pubertät eine hüftbetonte Fettverteilung und eine ausgeprägte rückbildungsresistente
Gynäkomastie, aus der überdurchschnittlich häufig
Mammakarzinome entstehen. Ab einem Pubertätsstadium 3 steigt auch das LH im Serum an. Darunter kann noch einige Zeit lang ein normaler Testosteronanstieg aufrechterhalten werden, schließlich stagnieren die Testosteronkonzentrationen unterhalb des adulten Normbereichs und sinken gelegentlich noch ab. Im Erwachsenenalter wird ein Hodenvolumen von 6 ml nur selten überschritten. Die Patienten sind infertil oder subfertil. In manchen Fällen kann in Lakunen des Hodens eine Spermatogenese erhalten sein, sodass dann bioptisch Spermien für eine spätere In-vitro-Fertilisierung gewonnen werden können (Lanfranco et al.
2004). Ein
Hochwuchs bildet sich offenbar schon ab dem 2. Lebensjahr heraus, früher als bisher angenommen. Im pubertätsreifen Alter nimmt wegen zunehmender Beinlänge der Oberlängen/Unterlängen-Quotient ab. Die Erwachsenengröße ist mit +0,6 SD gegenüber der Bevölkerung erhöht. Dies entspricht im Mittel einem Zuwachs von 6–7 cm, der ausschließlich durch den Zuwachs an Unterlänge bedingt ist (Schibler et al.
1974). Bei vielen Jungen sind Spracherwerb und psychomotorische Entwicklung verzögert, sie benötigen eine Sprachförderung und weisen im Schulalter Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen auf. In der Mittellinie des Körpers liegende, hCG-produzierende
Keimzelltumoren kommen bei Kindern und Jugendlichen mit Klinefelter-Syndrom gehäuft vor.
46,XX-Individuen mit männlichem Phänotyp weisen zu 80 % eine Translokation Y-chromosomalen Materials, einschließlich des Testis determinierenden Faktors (SRY), auf ein X-Chromosom auf und verhalten sich dann endokrinologisch wie Klinefelter-Männer.
Es hatten 90 % der Feten, die im Rahmen einer Amniozentese mit einem
Karyotyp 45,X/46,XY diagnostiziert wurden, bei Geburt einen normalen männlichen Phänotyp und anscheinend normale Hoden. Bei einigen 45,X/46,XY-Jungen entwickelt sich später im Rahmen einer testikulären Dysgenesie ein
hypergonadotroper Hypogonadismus.
Das Noonan-Syndrom
hat mit einer Reihe klinisch überlappender Syndrome den
Kleinwuchs, ein charakteristisches Spektrum angeborener Herzfehler und kraniofaziale Auffälligkeiten gemein. Diese Gruppe von Erkrankungen ist durch Mutationen verursacht, die Komponenten der intrazellulären RAS-MAPK-Signalkaskade betreffen (Jorge et al.
2009). Bei Jungen mit Noonan-Syndrom liegt in 75 % aller Fälle eine Pubertätsverzögerung vor. Das Spektrum der Veränderungen der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse ist variabel. Ein signifikanter Anteil der Jungen weist einen hypergonadotropen
Hypogonadismus auf, der einerseits durch Sekundärschäden nach
Hodenhochstand, andererseits durch eine primäre testikuläre Insuffizienz bedingt sein kann.
Bei einer großen Gruppe von Jungen mit hypergonadotropem
Hypogonadismus ist dieser das Resultat einer primären testikulären Insuffizienz bei Anorchie
oder nach Noxen. Hierzu gehören Traumen, Infektionen (Orchitis), Exposition mit toxischen Substanzen, Radiatio und Kombinationschemotherapie. Eine komplette Leydig-Zell-Insuffizienz
tritt bei einer Hodenbestrahlung erst ab Dosen von 30 Gy ein. Im Rahmen einer Kombinationschemotherapie weisen Alkylanzien (Ifosfamid, BCNU, CCNU, Chlorambucil, Busulfan) und Procarbazin das höchste Risiko für eine Hodentoxizität auf. Von einer Strahlen- und Chemotherapietoxizität ist der Tubulusapparat des Hodens stets mehr betroffen als die Leydig-Zellen, sodass bei LH- und FSH-Anstieg nach Therapie im Kindesalter Vorhersagen über die Notwendigkeit eines späteren Testosteronersatzes schwierig sind.
Eine primäre testikuläre Insuffizienz kann auch Begleiterscheinung einer schweren chronischen Systemerkrankung sein. Gelegentlich sind die Hoden bei der autoimmun bedingten Polyendokrinopathie Typ 1 (mit und ohne Mutation der AIRE-Gens) oder Typ 2 beteiligt.
Partiell inaktivierende Mutationen des
LH-Rezeptor-Gens und partielle Defekte der Testosteronbiosynthese führen beim Jungen mit erhaltenem männlichen Phänotyp zum hypergonadotropen
Hypogonadismus.
Hypergonadotroper Hypogonadismus bei Mädchen
Bei Mädchen steht bei den Ursachen des hypergonadotropen
Hypogonadismus mit einer
Prävalenz von 1:2000–2500 weiblichen Individuen das
Ullrich-Turner-Syndrom und seine Varianten im Vordergrund. Der Phänotyp des Ullrich-Turner-Syndroms ist gekennzeichnet durch einen früh einsetzenden
Kleinwuchs ohne Hinweise auf Wachstumshormonmangel, eine primäre Ovarialinsuffizienz und zusätzliche klinische Zeichen wie Epikanthus, Strabismus, Ptosis, Mikrognathie, hoher Gaumen, nach oben gerichteter Nackenhaaransatz,
Pterygium colli, flacher Thorax mit lateralisierten Mamillen, multiple Pigmentnävi, steil ansetzende, hyperkonvexe Fingernägel,
Lymphödeme der Fuß- und Handrücken im Neugeborenenalter, Cubitus valgus, kurzes 4. Metakarpale und Fehlbildungen des linken Herzens (bikuspide Aortenklappe,
Aortenisthmusstenose, Aortenaneurysma) und der Nieren („Hufeisenniere“, Fehlrotationen, Duplikationen). Endokrinologisch werden die Mädchen durch eine ausbleibende oder sistierende Pubertätsentwicklung oder eine primäre Amenorrhö auffällig. Eine Autoimmunthyreopathie und ein
Diabetes mellitus (Typ 1 und 2) kommen häufiger vor als bei nichtbetroffenen Gleichaltrigen.
Grundlage des
Ullrich-Turner-Syndroms ist das Fehlen X-chromosomalen Materials. Bei 50 % liegt ein 45,X-Karyotyp vor. Etwa 20 % der Patientinnen weisen ein X-Isochromosom und 10 % der Patientinnen ein Mosaik einer 45,X-Zelllinie mit einer 46,XX-Zelllinie auf. Varianten mit Y-chromosomalem Material werden in weniger als 5 % angetroffen. Es sind 2/3 des
Kleinwuchses von etwa –3 SD (entspricht –20 cm Unterschied zum Endgrößenmittelwert gesunder erwachsener Frauen) durch eine Haploinsuffizienz des
SHOX-Gens in der
pseudoautosomalen Region des X-Chromosoms (Xp22) bedingt. Dagegen sind für die prämature Ovarialinsuffizienz verantwortliche Gene auf dem distalen langen Arm des X-Chromosoms lokalisiert. Bis zur 18. Fetalwoche enthalten die Ovarien von Mädchen mit Ullrich-Turner-Syndrom eine normale Zahl von Keimzellen. Anschließend kommt es zu einer schnell fortschreitenden Keimzellapoptose
, die bei den meisten Patientinnen vor dem Erreichen eines pubertätsreifen Alters zu einem vollständigen Keimzellverlust geführt hat. Die Ovarien sind zu bindegewebigen Strängen umgewandelt. Bei etwa 10–20 % aller Mädchen mit Ulrich-Turner-Syndrom reicht vorhandenes Ovarrestgewebe für die Aufnahme einer spontanen Pubertätsentwicklung aus. Diese wird jedoch meist nicht zu ihrem Ende fortgeführt. Bei bis zu 7,6 % aller Frauen mit Ullrich-Turner-Syndrom im gebärfähigen Alter wurden spontane Schwangerschaften berichtet. Hierbei handelt es sich aber überwiegend um Patientinnen mit Mosaiken vom Typ 45,X/46,XX und 46,XX mit Varianten im Sinne eines X-Isochromosoms (Gravholt
2004).
Im Gegensatz zu Jungen sind Mädchen mit Noonan-Syndrom selten von einer Ovarialinsuffizienz betroffen. Ähnlich wie bei Jungen führen bei Mädchen Noxen durch Traumen, Infektionen (Oophoritis), Exposition mit toxischen Substanzen, Radiatio und Kombinationschemotherapie, eine
Galaktosämie sowie schwere chronische Systemerkrankungen oder eine autoimmun bedingte Polyendokrinopathie Typ 1 (mit und ohne Mutation der
AIRE-Gens) oder Typ 2 zu primärer Ovarialinsuffizienz mit hypergonadotropem
Hypogonadismus.
Partielle Defekte der Östradiolbiosynthese
und speziell der Aromatasemangel gehören bei Mädchen zu den seltenen Ursachen der
Pubertas tarda. Komplett inaktivierende Mutationen des LH-Rezeptor-Gens und vollständig ausgeprägte Defekte der Testosteronbiosynthese haben bei männlichem
Karyotyp einen weiblichen Phänotyp mit ausbleibender Pubertätsentwicklung zur Folge. Klinischer Hinweis auf das Vorliegen dieser Störungen ist das Fehlen von Uterus und Tuben (Sonografie, Laparoskopie).