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Praktische Schmerzmedizin
Info
Verfasst von:
Paul Nilges
Publiziert am: 14.12.2017

Klinische Schmerzmessung

Schmerzmessung ist die Voraussetzung für Diagnostik, Behandlung und wissenschaftliche Erforschung von Schmerz. Stärken und Schwächen der verschiedenen Methoden werden dargestellt und verglichen. Daraus lassen sich Empfehlungen ableiten, die zweckmäßig und aussagekräftig sind, die den klinischen Alltag erleichtern und zur Verbesserung der Qualität in der Patientenversorgung beitragen. Dargestellt werden Gründe für Irritationen und Missverständnisse bei der Bearbeitung von Schmerzmessverfahren durch Patienten, aber auch typische Beurteilerfehler bei der Interpretation der Ergebnisse.
Schmerzmessung ist die Voraussetzung für Diagnostik, Behandlung und wissenschaftliche Erforschung von Schmerz. Stärken und Schwächen der verschiedenen Methoden werden dargestellt und verglichen. Daraus lassen sich Empfehlungen ableiten, die zweckmäßig und aussagekräftig sind, die den klinischen Alltag erleichtern und zur Verbesserung der Qualität in der Patientenversorgung beitragen. Dargestellt werden Gründe für Irritationen und Missverständnisse bei der Bearbeitung von Schmerzmessverfahren durch Patienten, aber auch typische Beurteilerfehler bei der Interpretation der Ergebnisse.

Schmerz – eine komplexe Erfahrung

Schmerz – in der Zeit Beechers noch eher als Sinneswahrnehmung wie Hören oder Sehen verstanden – ist inzwischen durch die IASP (International Association for the Study of Pain) als unangenehme Sinnes- und Gefühlserfahrung definiert („unpleasant sensory and emotional experience“; IASP 1994). Aber damit scheinen neue Probleme verbunden zu sein:
Die Messung von Schmerz ist vermutlich eine der anspruchsvollsten und schwierigsten Aufgaben der Gesundheitswissenschaften. (Elliott et al. 2003)
Solange Schmerz lediglich Symptom für eine zu beseitigende (und definitiv heilbare) Pathologie ist bzw. als solches betrachtet wurde, war Schmerzfreiheit ein eindeutiges Erfolgskriterium für eine Behandlung. Bei chronischen Schmerzen ist dieses Resultat eher eine Ausnahme. Die zunehmende Beschäftigung mit chronischen Schmerzen hat zu differenzierten Schmerzkonzepten und Therapiezielen geführt. Diese Entwicklungen führten auch zu klinisch praktikablen Messmethoden für Schmerz in seinen Abstufungen und unterschiedlichen Facetten (Melzack 1975).
In Schmerzkliniken, -ambulanzen und schmerztherapeutischen Praxen ist Schmerzmessung inzwischen Routine. Außerhalb dieser Versorgungsstrukturen sind jedoch auch bei der Behandlung „typischer“ Schmerzpatienten selbst einfache Messverfahren noch wenig verbreitet (Wirz et al. 2003).
Die Schmerzerfahrung von Menschen ist durch die Situation, durch Emotionen, Kognitionen und Verhalten beeinflusst (Beecher 1956). Wenn wir Schmerzen messen, müssen wir diese Kontexteinflüsse bei so unterschiedlichen Zuständen wie unklaren Rückenschmerzen oder scheinbar einfachen und klaren Beschwerden wie Schmerz bei Krebs in Betracht ziehen (Turk und Fernandez 1990).
Die Messung von somatischen Parametern wie Herzfrequenz, Blutdruck oder Blutzuckerwerten ist vergleichsweise einfach: Es handelt sich um (vorwiegend) objektive Daten, d. h. diese Werte können z. B. auch beim bewusstlosen Patienten erhoben werden.
Für die klinische Schmerzmessung gelten diese Prinzipien nicht: Wir messen Schmerz, indem wir Patienten veranlassen, die Stärke einer individuellen Empfindung einem Beobachter (Arzt, Psychologe, Pflegekraft, Forscher) in verstehbarer Form zu vermitteln, sei es quantitativ in Form von Intensitätsangaben oder qualitativ durch Begriffe und Beschreibungen.
Objektive Messungen von Schmerz gibt es nicht, auch besteht keine lineare Beziehung zwischen dem Ausmaß einer vorhandenen Gewebsschädigung und der Schmerzintensität (Turk 1993; Wright et al. 1993).

Inhalte und Methoden – ein Überblick

Die Verwendung zuverlässiger, valider und sinnvoller Verfahren ist keineswegs schwieriger als die Anwendung uninterpretierbarer oder ungeeigneter Methoden. (Williams 1995, S. 55)
Die Wahl der Messung hängt davon ab, welche Aspekte von Schmerz im Vordergrund stehen. Meist liegt der Fokus auf der Schmerzintensität. Weitere Facetten des Schmerzes betreffen die mit ihm verbundenen Gefühle, die sensorische Qualität sowie die Lokalisation (Duncan et al. 1989; Jensen et al. 1986, 1999; Jensen und Karoly 2001).
Schmerz als alleiniger Messparameter in Diagnostik und Therapie ist in der Regel nicht ausreichend. Wichtige Aspekte der Messung betreffen schmerzassoziierte Bereiche; eine Ausweitung der verwendeten Messmethoden auf physiologische Parameter, Verhalten (z. B. Alltagsaktivität, Nutzung des Gesundheitswesens, Arbeitsfähigkeit), Kognitionen und Emotionen ist daher erforderlich. Diese Variablen werden im Kap. „Psychologische Schmerzdiagnostik“ dargestellt.
Inhaltliche Schwerpunkte und klinisch erprobte Methoden der Schmerzmessung
Inhalte:
  • Intensität: momentane, übliche, maximale, geringste Schmerzstärke
  • Schmerzaffekt: Ausmaß der Belästigung/Unannehmlichkeit, affektive Beschreibung
  • Qualität: sensorische Beschreibung
Methoden:
  • Begriffe (verbale Schätzskalen, Adjektivlisten)
  • Skalen ohne Unterteilung (visuelle Analogskala), mit Unterteilung (numerische Skala)
  • Zahlen von 0–10, 0–20 oder 0–100 (numerische Schätzung)
  • Symbole (z. B. Gesichtsschemata – „smiley“ – für Kinder)
Die Übersetzung von Schmerz in für Außenstehende nachvollziehbare Angaben ist ein unerlässlicher Schritt zur Kommunikation, Diagnostik und Therapieevaluation. Dabei ist nicht nur die Kommunikation zwischen Patient und Arzt gemeint. In einem Schmerzbehandlungsteam verschiedener Professionen ist auch der Austausch zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen über die Art und Intensität von Beschwerden der Patienten in verschiedenen Situationen nur mit einer gemeinsamen Sprache möglich.

Erfassung der Schmerzintensität

Verbale Schätzungen

Verbale Intensitätsschätzungen (z. B. kein Schmerz, schwache Schmerzen, starke Schmerzen, unerträgliche Schmerzen) sind unmittelbar verständlich und entsprechen unserer Alltagskommunikation. Die Akzeptanz dieser Methode ist deshalb hoch. Für die klinische Anwendung oder gar wissenschaftliche Untersuchungen ist dieses Verfahren aber nicht ausreichend differenziert. Auch ist die für Patienten mit den Begriffen jeweils verbundene Bedeutung unklar. Probleme ergeben sich zudem bei der Auswertung, wenn die Ergebnisse zur weiteren statistischen Berechnung verwendet und in Zahlen übersetzt werden sollen.
Verbale Schätzungen sollten nur bei Patienten eingesetzt werden, die mit anderen Formen der Schmerzmessung nicht zurechtkommen (Verständnisprobleme, Überforderung durch visuelle Analogskalen oder numerische Skalen).

Visuelle Analogskala

Das traditionelle Verfahren zur Bestimmung der Intensität ist die visuelle Analogskala (VAS). Es handelt sich um eine 10 cm lange Linie mit Endpunkten, die mit Begriffen bezeichnet sind (z. B. kein Schmerz – stärkster vorstellbarer Schmerz). Ihre Akzeptanz in Forschung und Therapie hängt mit der theoretisch unbegrenzten Zahl von Antwortmöglichkeiten zusammen.
Die Annahme, dass eine stärkere Differenziertheit und damit Genauigkeit der Schätzung erreicht wird, scheint falsch zu sein:
  • Patienten verwenden für ihre eigene „innere“ Skalierung – unabhängig von den Vorgaben – lediglich 10 bis maximal 21 Abstufungen (Jensen et al. 1994).
  • Selbst wenn eine VAS benutzt wird, bearbeiten Patienten diese „intern“ wie eine numerische Skala (Williams et al. 2000).
  • Vor allem bei älteren Patienten ist die VAS anfällig für Verzerrungen und Verständnisfehler.
  • Die Fehleranfälligkeit ist durch einen notwendigen Zwischenschritt (Messung der Strecke vom Nullpunkt links bis zur Markierung durch den Patienten) erhöht.
Gegenüber einfachen Schätzungen mit Hilfe von Zahlen hat die visuelle Analogskala keine ausreichenden Vorteile, um ihre Anwendung als bevorzugte Methode zu empfehlen.

Numerische Schätzung

Unsere Patienten (und auch viele Behandler) sind, im Unterschied zu Menschen im angloamerikanischen Sprachraum, den Umgang mit Schätzmethoden wie der numerischen Schätzskala (NSS) oder der visuellen Analogskala (VAS) nicht gewohnt. Eine kurze und eindeutige Instruktion ist die Voraussetzung für einen sinnvollen Einsatz dieser Methode:
Erklärung der numerischen Schätzskalen für den Patienten:
„Schmerz ist immer eine persönliche/subjektive Erfahrung! Es gibt keine richtige oder falsche Schmerzschätzung. Die einzige ‚richtige‘ Schmerzstärke ist die, die Sie empfinden. Es geht uns darum, zunächst einmal Ihre Einschätzung der Beschwerden zu erfahren. Auch geht es darum, Veränderungen im Verlauf der Behandlung mit Ihnen zusammen herauszufinden. Das ist wichtig, damit wir gemeinsam Ansatzpunkte für die weitere Behandlung finden und herausfinden, was Ihnen am besten hilft.“
Im klinischen Alltag mit seinem Zeitdruck und den eingeschränkten Möglichkeiten schriftlicher Dokumentation ist das Ziel meist die schnelle Information über die momentane Schmerzintensität. Die numerische Schätzskala (NSS) ist für diesen Zweck gut geeignet. Aufgabe der Patienten ist es, nach kurzer Instruktion eine der aktuellen Schmerzstärke entsprechende Zahl zwischen 0 und 10 zu nennen. Dabei ist prinzipiell keine schriftliche Angabe erforderlich, die Instruktion und Information kann mündlich gegeben und durch den Arzt oder das Pflegepersonal dokumentiert werden.
Die Instruktion für den Patienten kann lauten:
„Bitte schätzen Sie Ihre Schmerzstärke mit Hilfe der Zahlen von 0 bis 10 ein. 0 heißt dabei kein Schmerz, 10 bedeutet stärkster vorstellbarer Schmerz. Welche Zahl würden Sie Ihrem momentanen Schmerz zuordnen?“
Diese Form der Schmerzstärkeeinschätzung kann auch bei den täglichen Visiten oder Praxiskontakten problemlos und zügig eingesetzt werden. Die Dokumentation ist einfach, die Zahl muss lediglich notiert werden.
Patienten mit chronischen Schmerzen haben regelmäßig mehr als ein Schmerzproblem (Williams et al. 2000). Meist ist es daher sinnvoll, die unterschiedlichen Lokalisationen zu erfassen: Gleichzeitig bestehende Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation können getrennt erfragt und mit unterschiedlichen Symbolen auf der numerischen Skala dokumentiert werden (z. B. „o“ für Kopf- und „x“ für Kreuzschmerzen). Bei einigen Patienten ist eine Differenzierung in die „Intensität der Grundschmerzen“ und „zusätzliche Attacken“ notwendig, um Informationen über die Wirksamkeit von Behandlungen zu erhalten.
Patienten bevorzugen die numerische Schätzung von 0–10 gegenüber Einteilungen von 0–100 oder visuellen Analogskalen.
Fazit
Diese Form der Schmerzschätzung ist nicht nur für die klinische Anwendung ideal. Auch für wissenschaftliche Studien ist sie völlig ausreichend, wie Jensen und Karoly (2001) feststellten. Diese Autoren haben in einer Übersichtsarbeit die unterschiedlichen Verfahren verglichen und geben Empfehlungen für deren Anwendung.

Globalmaße

Die Angaben der Patienten können zu verschiedenen Schmerzaspekten erhoben werden (Abb. 1):
  • aktuelle Schmerzen,
  • durchschnittliche Schmerzen,
  • maximale Schmerzen,
  • geringste Schmerzen,
  • akzeptable Schmerzstärke,
  • Zeitdauer mit Schmerzen.
Diese unterschiedlichen Maße zu erfassen ist sinnvoll, um realistische Ziele zu vereinbaren bzw. unrealistische Erwartungen zu korrigieren und um mögliche Missverständnisse bei der Verwendung der Skala frühzeitig zu erkennen und auszuräumen.

Tagebücher

Diskrepanzen bestehen zwischen retrospektiver Schätzung („Wie stark waren Ihre Schmerzen in der vergangenen Woche?“) und den realen Werten in diesem Zeitraum. Patienten neigen im Rückblick zu einer Überschätzung ihrer Beschwerden (Stone et al. 2004). Ein Teil dieser Verzerrung ist darauf zurückzuführen, dass v. a. schmerzfreie oder deutlich schmerzreduzierte Zeiten retrospektiv ignoriert bzw. unterbewertet werden. Schmerzattacken und kurzfristige Schmerzverstärkungen haben einen stärkeren Einfluss auf die Beurteilung zurückliegender Zeitabschnitte als Phasen mit geringen oder keinen Schmerzen.
Um zuverlässige Angaben der Schmerzstärke über einen bestimmten Zeitraum (z. B. eine Woche) zu erhalten, sind daher aktuelle Angaben mit mehreren Messzeitpunkten notwendig, die dann zu Tages- oder Wochenwerten zusammengefasst werden können. Schmerztagebücher mit bis zu 4 Zeitpunkten pro Tag sind dafür geeignet (Abb. 2). Bei – oder besser vor – Beginn einer Behandlung ist eine Baseline von mindestens einer Woche Dauer zu empfehlen. Zur Erfolgskontrolle sind Schmerztagebücher während und gegen Ende bzw. nach Abschluss einer Behandlung sinnvoll. Bei stationären oder teilstationären Schmerzbehandlungen sind sie zwingend erforderlich.
Falls nur retrospektive Daten erhoben werden können (z. B. bei epidemiologischen Studien), sollten unterschiedliche Intensitätsmaße zusammengefasst werden: Werte, die sich aus durchschnittlicher und geringster Schmerzintensität oder durchschnittlicher, momentaner, stärkster und geringster Schmerzintensität zusammensetzen, sind am besten geeignet (Jensen et al. 1999).
Zahlreiche Verfahren liegen inzwischen vor, die syndromspezifische Aspekte berücksichtigen, z. B. Kopfschmerztagebücher, die Begleitsymptomatik, Medikamenteneinnahme und Anfallsdauer miterfassen. Die Entscheidung für eine Methode sollte von den Behandlungszielen und der jeweiligen Schmerzcharakteristik bestimmt sein.
Auch wenn in Studien die befürchtete Fokussierung von Patienten auf Schmerz durch häufige Schätzungen nicht belegt werden konnte, ist eine täglich mehrfache Messung über Monate wenig sinnvoll (Frede 2017).

Veränderung der Schmerzintensität: relevant oder nur signifikant?

Ziel der Schmerzmessung ist v. a. die Dokumentation der Behandlungsergebnisse und – durch Prä-post-Vergleiche – die Einschätzung des Therapieerfolges. Eine Veränderung der Schmerzschätzung von 9 auf 8 nach Gabe starker Analgetika wird vermutlich nur bei wenigen Patienten als Erfolg verbucht. Als minimale Verbesserung wird eine Reduktion um 20 % gewertet. Etwa 30 % Schmerzreduktion sind notwendig, um von einer klinisch relevanten Veränderung bei Patienten mit chronischen Schmerzen zu sprechen (Cepeda et al. 2003; Farrar 2000; Farrar et al. 2001).

Schmerzaffekt und -qualität

Affektive und sensorische Aspekte bei Schmerz sind immer gleichzeitig beteiligt. Mit Hilfe numerischer Skalen oder visueller Analogskalen kann eingeschätzt werden, wie unangenehm, lästig, ärgerlich etc. die Schmerzen empfunden werden. Die sensorische Qualität (z. B. brennend, stechend, glühend) kann ebenfalls auf diese Weise beurteilt werden.
Diese beiden Dimensionen von Schmerz – affektiv und sensorisch – können allerdings zuverlässig mit einer Adjektivliste gemessen werden. Die Schmerzempfindungsskala (SES; Geissner 1996) ist Bestandteil des Schmerzfragebogens der deutschen Schmerzgesellschaft (früher DGSS). Die affektive Dimension beschreibt dabei den eigentlichen „Leidensaspekt“. Es bestehen enge Beziehungen zu Angst und Depression sowie zu Hilflosigkeit und Behinderung. Eine hohe Ausprägung auf der affektiven Schmerzdimension weist auf die Bedeutung psychischer Einflussfaktoren hin, besagt aber nichts über die Genese: Auch Schmerz bei einer Krebserkrankung ist oft stark affektiv gefärbt. Die Erfassung der Schmerzempfindung ergänzt die Intensitätsschätzungen und sollte vor und nach schmerztherapeutischen Behandlungen Standard sein.

Praktische Hinweise

Schmerzmessungen sind fehleranfällig, sie führen zu ungenauen und manchmal „merkwürdigen“ Ergebnissen. Auch die Interpretation der Schmerzschätzung ist anfällig für Fehler und Missverständnisse, die Konsequenzen für die Einschätzung von Patienten haben („der kann keine Schmerzen haben, der lächelt doch“). Bei Schmerzäußerungen bestehen vergleichbare Probleme wie beim Ausdruck von Gefühlen: Subjektives Erleben und sichtbares Verhalten sind nicht notwendig kongruent.

Patientenperspektive

„Diskrepanzen“ sind regelmäßig und irritierend: Die Patientin, die ihre Schmerzintensität mit „10, aber eigentlich genügt das nicht, ich müsste 15 sagen“ angibt, der schmerzgeplagt und gequält wirkende Tumorpatient, der feststellt: „Heute ist es ganz gut, ich würde 4 sagen“ oder Patienten mit einer über längere Zeit konstanten Stärke – „Das ist bei mir immer 10“ – führen zu Verwirrung, Ärger und zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit der Patientenangaben.
Einflüsse, die in die Schmerzangaben der Patienten einfließen und zu Irritationen führen können, haben Williams et al. (2000) untersucht:
  • Patienten beziehen in ihre Schmerzschätzungen Vermutungen darüber mit ein, was andere über ihre Angaben denken könnten.
  • Sie gehen davon aus, dass sie erst ab einer bestimmten Schmerzstärke das Recht auf Behandlung haben.
  • Sie werden durch ihre Stimmung in der Schätzung beeinflusst.
  • Sie integrieren die empfundenen Einschränkungen im Alltag in die Intensitätsangabe.
  • Einige gehen von „eigenen“ Skalierungen aus: Stärken von 5 und weniger gelten als „nicht weiter erwähnenswert“, für andere beginnen Schmerzen erst bei 8.
  • Skalen von 0–20 oder 0–100 werden zwar noch immer verwendet. Je höher jedoch der Endpunkt der Skala festgesetzt ist, desto stärker ist die Hemmung der Patienten, die gesamte Spannweite der Skala zu nutzen.
Gelegentlich finden sich unlogische Angaben: z. B. wird der durchschnittliche Schmerz höher angegeben als der maximale Schmerz, oder der momentane Schmerz liegt unter der niedrigsten Schmerzstärke (Nilges und Gerbershagen 1999). Diese Widersprüche sind Hinweise auf mögliche Verständnisprobleme, mangelnde Sorgfalt oder besonders nachdrückliche Schmerzschilderung, die auf jeden Fall geklärt werden sollten. Ohne Nachfrage ist die Gültigkeit der Schätzung in diesen Fällen eingeschränkt; auch Angaben, die in weiteren Verfahren (z. B. Fragebogen zur Depression) erhobenen werden, können zweifelhaft sein.

Behandlerperspektive

Auf Behandlerseite finden sich wiederholt typische Interpretationsfehler (Chibnall et al. 1997; Marquie et al. 2003; Tait und Chibnall 1997):
  • „Übertriebene“ Schätzungen werden „nach unten korrigiert“ oder durch veränderte Instruktionen zu beeinflussen versucht, indem z. B. „Selbstmordschmerz“ als Ankerpunkt eingeführt wird: „Also 10 heißt, dass Sie eigentlich sofort Selbstmord begehen müssten. Wie stark sind die Schmerzen denn nun tatsächlich?“
  • „Zu niedrige“ Schmerzstärken werden aufwärts korrigiert.
  • Vor allem bei vorhandenen körperlichen Befunden wird die Schmerzstärke mit einem „Bonus“ versehen und stärker als die Patientenangabe „verrechnet“.
Solche Fehler auf Beurteilerseite sind häufig und bei erfahrenen Behandlern sogar wahrscheinlicher als bei Anfängern (Marquie et al. 2003).
Schmerz als subjektives Phänomen einzuschätzen und mitzuteilen setzt voraus, dass zwischen Patient und Behandler als Interaktionspartnern eine vertrauensvolle Beziehung besteht. Die persönlichen Angaben der Patienten wie „objektive Messungen“ zu behandeln und evtl. zu korrigieren („Sie können doch nicht ständig 10 angeben, da müssten Sie ja eigentlich aus dem Fenster springen“), führt immer wieder zu fruchtlosen Diskussionen und zu Misstrauen und versperrt schließlich den Zugang zum Patienten.
Die Kriterien „Zumutbarkeit“ und „sinnvolle Informationsgewinnung“ sind für die Schmerzmessung entscheidend.
Motivation und Kooperation kann dann erwartet werden, wenn die Angaben der Patienten ausreichend beachtet, d. h. ausgewertet und v. a. mit den Patienten besprochen werden.
Irritationen sollten Anlass für Nachfragen sein. Bewertungen und Diskussionen über „falsche“ oder „richtige“ Angaben sind mit einem differenzierten Schmerzverständnis nicht vereinbar.
Als „nur“ subjektiver Wert wird die Schmerzmessung durch die Selbstauskunft von Patienten gelegentlich aus methodischen Gründen angezweifelt. Wie zuverlässig sind die Schmerzangaben reproduzierbar (Reliabilität) und welche Bedeutung haben sie für die Patienten (Validität). Zur Überprüfung der Reliabilität verglichen Letzen et al. (2016) die Test-Retest-Reliabilität von VAS-Angaben mit der Messung funktionaler Konektivität im fcMRI. In drei Durchgängen wurde bei gleichzeitiger Messung der Gehirnaktivität eine Schmerzstimulation mit einem Hitzereiz durchgeführt. Die Autoren stellen fest: „Overall, self-reported pain was more reliable than fcMRI data.“
Zur (Inhalts-)Validität liegen ebenfalls neuere Untersuchungen vor. Die Reduzierung der Schmerzintensität ist ein zentrales Kriterium für Schmerztherapeuten und für die Bewertung einer Therapie als Erfolg oder Misserfolg. Bei interventionellen Maßnahmen (z. B. Lokalanästhesie, Injektionen mit Cortison), Pharmakotherapie oder operativen Eingriffen sind Messungen des Schmerzverlaufs im Anschluss an eine Behandlung Standard, Schmerzfreiheit oder zumindest der deutliche Rückgang der Schmerzen haben Priorität und werden als wichtigstes Erfolgskriterium gewertet. Erst in letzter Zeit wurde die Frage untersucht, welche Bedeutung die Schmerzstärke und deren Veränderung für Patienten selbst hat. Das überraschende Ergebnis: Die Schmerzintensität steht erst an 3. Stelle. Für Patienten mit chronischen Schmerzen ist das wichtigste Ziel der bessere Umgang mit den Beschwerden und an 2. Stelle, noch vor Schmerz selbst, emotionales Wohlbefinden (Kaiser et al. im Druck).
Die Schmerzintensität mit zuverlässigen Verfahren zu erfassen und die Daten angemessen zu interpretieren, ist ein grundlegender Aspekt der Schmerzdiagnostik. Sich nicht darauf zu beschränken und weitere für die Patienten wichtige(re) Therapieziele im Blick zu haben, entspricht unserem bio-psycho-sozialen Verständnis von Schmerz.
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