Schmerzmessungen sind fehleranfällig, sie führen zu ungenauen und manchmal „merkwürdigen“ Ergebnissen. Auch die Interpretation der Schmerzschätzung ist anfällig für Fehler und Missverständnisse, die Konsequenzen für die Einschätzung von Patienten haben („der kann keine
Schmerzen haben, der lächelt doch“). Bei Schmerzäußerungen bestehen vergleichbare Probleme wie beim Ausdruck von Gefühlen: Subjektives Erleben und sichtbares Verhalten sind nicht notwendig kongruent.
Patientenperspektive
„Diskrepanzen“ sind regelmäßig und irritierend: Die Patientin, die ihre Schmerzintensität mit „10, aber eigentlich genügt das nicht, ich müsste 15 sagen“ angibt, der schmerzgeplagt und gequält wirkende Tumorpatient, der feststellt: „Heute ist es ganz gut, ich würde 4 sagen“ oder Patienten mit einer über längere Zeit konstanten Stärke – „Das ist bei mir immer 10“ – führen zu Verwirrung, Ärger und zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit der Patientenangaben.
Einflüsse, die in die Schmerzangaben der Patienten einfließen und zu Irritationen führen können, haben Williams et al. (
2000) untersucht:
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Patienten beziehen in ihre Schmerzschätzungen Vermutungen darüber mit ein, was andere über ihre Angaben denken könnten.
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Sie gehen davon aus, dass sie erst ab einer bestimmten Schmerzstärke das Recht auf Behandlung haben.
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Sie werden durch ihre Stimmung in der Schätzung beeinflusst.
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Sie integrieren die empfundenen Einschränkungen im Alltag in die Intensitätsangabe.
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Einige gehen von „eigenen“ Skalierungen aus: Stärken von 5 und weniger gelten als „nicht weiter erwähnenswert“, für andere beginnen
Schmerzen erst bei 8.
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Skalen von 0–20 oder 0–100 werden zwar noch immer verwendet. Je höher jedoch der Endpunkt der Skala festgesetzt ist, desto stärker ist die Hemmung der Patienten, die gesamte
Spannweite der Skala zu nutzen.
Gelegentlich finden sich unlogische Angaben: z. B. wird der durchschnittliche
Schmerz höher angegeben als der maximale Schmerz, oder der momentane Schmerz liegt unter der niedrigsten Schmerzstärke (Nilges und Gerbershagen
1999). Diese Widersprüche sind Hinweise auf mögliche Verständnisprobleme, mangelnde Sorgfalt oder besonders nachdrückliche Schmerzschilderung, die auf jeden Fall geklärt werden sollten. Ohne Nachfrage ist die Gültigkeit der Schätzung in diesen Fällen eingeschränkt; auch Angaben, die in weiteren Verfahren (z. B. Fragebogen zur Depression) erhobenen werden, können zweifelhaft sein.
Behandlerperspektive
Auf Behandlerseite finden sich wiederholt typische Interpretationsfehler (Chibnall et al.
1997; Marquie et al.
2003; Tait und Chibnall
1997):
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„Übertriebene“ Schätzungen werden „nach unten korrigiert“ oder durch veränderte Instruktionen zu beeinflussen versucht, indem z. B. „Selbstmordschmerz“ als Ankerpunkt eingeführt wird: „Also 10 heißt, dass Sie eigentlich sofort Selbstmord begehen müssten. Wie stark sind die
Schmerzen denn nun tatsächlich?“
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„Zu niedrige“ Schmerzstärken werden aufwärts korrigiert.
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Vor allem bei vorhandenen körperlichen Befunden wird die Schmerzstärke mit einem „Bonus“ versehen und stärker als die Patientenangabe „verrechnet“.
Solche Fehler auf Beurteilerseite sind häufig und bei erfahrenen Behandlern sogar wahrscheinlicher als bei Anfängern (Marquie et al.
2003).
Schmerz als subjektives Phänomen einzuschätzen und mitzuteilen setzt voraus, dass zwischen Patient und Behandler als Interaktionspartnern eine vertrauensvolle Beziehung besteht. Die persönlichen Angaben der Patienten wie „objektive Messungen“ zu behandeln und evtl. zu korrigieren („Sie können doch nicht ständig 10 angeben, da müssten Sie ja eigentlich aus dem Fenster springen“), führt immer wieder zu fruchtlosen Diskussionen und zu Misstrauen und versperrt schließlich den Zugang zum Patienten.
Die Kriterien „Zumutbarkeit“ und „sinnvolle Informationsgewinnung“ sind für die Schmerzmessung entscheidend.
Motivation und Kooperation kann dann erwartet werden, wenn die Angaben der Patienten ausreichend beachtet, d. h. ausgewertet und v. a. mit den Patienten besprochen werden.
Irritationen sollten Anlass für Nachfragen sein. Bewertungen und Diskussionen über „falsche“ oder „richtige“ Angaben sind mit einem differenzierten Schmerzverständnis nicht vereinbar.
Als „nur“ subjektiver Wert wird die Schmerzmessung durch die Selbstauskunft von Patienten gelegentlich aus methodischen Gründen angezweifelt. Wie zuverlässig sind die Schmerzangaben reproduzierbar (Reliabilität) und welche Bedeutung haben sie für die Patienten (
Validität). Zur Überprüfung der Reliabilität verglichen Letzen et al. (
2016) die Test-Retest-Reliabilität von VAS-Angaben mit der Messung funktionaler Konektivität im fcMRI. In drei Durchgängen wurde bei gleichzeitiger Messung der Gehirnaktivität eine Schmerzstimulation mit einem Hitzereiz durchgeführt. Die Autoren stellen fest: „Overall, self-reported pain was more reliable than fcMRI data.“
Zur (Inhalts-)Validität liegen ebenfalls neuere Untersuchungen vor. Die Reduzierung der Schmerzintensität ist ein zentrales Kriterium für Schmerztherapeuten und für die Bewertung einer Therapie als Erfolg oder Misserfolg. Bei interventionellen Maßnahmen (z. B. Lokalanästhesie, Injektionen mit Cortison), Pharmakotherapie oder operativen Eingriffen sind Messungen des Schmerzverlaufs im Anschluss an eine Behandlung Standard, Schmerzfreiheit oder zumindest der deutliche Rückgang der
Schmerzen haben Priorität und werden als wichtigstes Erfolgskriterium gewertet. Erst in letzter Zeit wurde die Frage untersucht, welche Bedeutung die Schmerzstärke und deren Veränderung für Patienten selbst hat. Das überraschende Ergebnis: Die Schmerzintensität steht erst an 3. Stelle. Für Patienten mit chronischen Schmerzen ist das wichtigste Ziel der bessere Umgang mit den Beschwerden und an 2. Stelle, noch vor Schmerz selbst, emotionales Wohlbefinden (Kaiser et al. im Druck).
Die Schmerzintensität mit zuverlässigen Verfahren zu erfassen und die Daten angemessen zu interpretieren, ist ein grundlegender Aspekt der Schmerzdiagnostik. Sich nicht darauf zu beschränken und weitere für die Patienten wichtige(re) Therapieziele im Blick zu haben, entspricht unserem bio-psycho-sozialen Verständnis von
Schmerz.