Die Tatsache einer häufig bestehenden Komorbidität zwischen chronischen Schmerzerkrankungen und psychischen Störungsmustern stellt für schmerztherapeutische Behandlungsinstitutionen mittlerweile eine Alltagserfahrung dar. Depressive Zustandsbilder spielen hier auch zahlenmäßig die bedeutendste Rolle. Da die Erfolgschancen der eingeleiteten Schmerzbehandlung in den meisten Fällen sehr stark von dem Verlauf der begleitenden psychischen Erkrankung abhängen, erscheint es sinnvoll, das Problem
Schmerz einmal von psychiatrischer Seite aus zu betrachten.
Psychische Erlebnisdimension chronischer Schmerzen
Schmerz stellt nicht nur ein Krankheitssymptom dar, sondern trägt den Stellenwert eines grundsätzlichen, ubiquitär erfahrenen Lebensmerkmals mit folgenden Eigenschaften:
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Der Schmerz wird in seiner Wahrnehmungsqualität als Negativeindruck schlechthin erlebt und ruft reflexhaft die sofortige Intention hervor, den auslösenden Reiz zu unterbinden, weil sein Erleben in allen Lebensbezügen eine unmittelbare Nachbarschaft mit dem Tatbestand der Gefährdung bis hin zur Möglichkeit der Auslöschung des eigenen Organismus bedeutet.
Schmerz bringt uns so nahe wie nur möglich an die Erkenntnis der eigenen Vernichtung heran. (Morris
1994)
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Schmerz regt sehr stark die zwischenmenschliche Kommunikation an, da er Krisensituationen offenbart, deren Bewältigung häufig die Aktivierung bzw. Intensivierung vielfältiger sozialer Kontakte notwendig macht. Auch die hier erlebten Erfolge und Misserfolge, Zuwendung, Ablehnung, erfahrene oder verweigerte Hilfe werden sehr intensiv wahrgenommen und prägen entscheidend das Weltbild des einzelnen Menschen. Schmerz als direkter Weg zu neuem Leben wird besonders stark im Geburtsvorgang erlebt.
Der
Schmerz ist seit jeher direktes Mittel der Kommunikation gewesen. Hierbei wird er in der Regel als drastisches Medium zur rigorosen Durchsetzung sozialer Ansprüche eingesetzt. In früheren Jahrhunderten wurden peinigende Strafen durchaus als hilfreiches Mittel zur Sozialisierung von Menschen angesehen. Auch heute führen uns die alltäglichen Nachrichten ständig vor Augen, dass sich Folterinstitutionen in aller Welt in einem Punkt bemerkenswert einig sind: Der Schmerz eignet sich am besten als Mittel der Demütigung bis hin zur völligen psychophysischen Demontage des menschlichen Organismus.
Insgesamt lassen die genannten Charakteristika augenscheinlich werden, welches zerstörerische Potenzial dem
Schmerz selbst innewohnt, und es wird verständlich, dass im Sprachgebrauch der philosophischen Literatur die Begriffe Schmerz und Leid (als grundsätzliches Existenzmerkmal) weitgehend synonym gebraucht werden. Eine entsprechend große Rolle spielte der Schmerz seit jeher im soziokulturellen Leben der Menschen, wobei jeweils das Ausmaß der psychophysischen Unbeeindruckbarkeit, die der Einzelorganismus dem Schmerz entgegenzusetzen vermochte, als direkter Maßstab seiner Lebensstärke galt (z. B. im Rahmen von Initiationsriten).
Im religiösen Gedankengut spitzt sich ein besonderer Zwiespalt der Schmerzerfahrung zu: Wo
Schmerz entsteht, ist (noch) Leben, wird auf wunderbare Weise neues Leben, aber die Gefährdung und der Tod rücken in unmittelbare Nähe. Und so vereint der Schmerz die Vorstellungen der Menschheit über Vernichtung und Verdammnis einerseits und die Hoffnung auf völlige Erlösung andererseits als die im Prinzip unvereinbaren Lebensgegensätze schlechthin in seinen Überzeugungs- und Erlebnisdimensionen.
Das Bemühen um diese Zusammenhänge hat immer wieder in unterschiedlichem Ausmaß auch die naturwissenschaftliche Diskussion um den
Schmerz mit beeinflusst, und so hat Ferdinand Sauerbruch bereits 1936 in seinem Buch über den Schmerz ganz selbstverständlich einen Abschnitt über ethische, religiöse und weltanschauliche Deutungen eingefügt.
Die Bedeutungsmerkmale des
Schmerzes lassen folgende Sachverhalte plausibel erscheinen:
1.
Chronische Schmerzen stellen (unabhängig von ihrem Entstehungsmodus) eine existenzielle psychische Beunruhigung dar und sind entsprechend ohne Weiteres geeignet,
psychische Störungen zur Dekompensation zu bringen – mit der Konsequenz einer schwerwiegenden gegenseitigen Negativverstärkung der jeweiligen Symptomkomplexe. In ihrer Fehlverarbeitung führen sie besonders häufig zu einer depressiven Prägung der emotionalen Reaktion. Entsprechend hoch ist die Komorbidität mit der Ausbildung depressiver Verstimmungszustände unterschiedlichen Schweregrades, wie sie mittlerweile Gegenstand vielfältiger wissenschaftlicher Untersuchungen und Betrachtungen war.
2.
Auch neu auftretende Schmerzerkrankungen treffen bei den einzelnen Patienten immer auf ein umfängliches Spektrum an Vorerfahrungen, die insbesondere in ihrem emotionalen Erlebnismuster eine Reaktivierung erfahren können und eine entsprechende psychische Dekompensationsgefahr mit sich bringen.
3.
Der Schmerz steht in seiner destruktiven Erfahrungscharakteristik in unmittelbarer Nähe zu den zahlreichen Erscheinungsformen psychischer Erkrankungssymptome, u. a. aus dem Formenkreis der Psychosen, und er kann als direktes Teilsymptom (etwa im Sinne von Leibeshalluzinationen) Anteil haben an der unheilvollen Veränderung der Lebensbezüge im Rahmen des Voranschreitens psychischer Erkrankungen.
Schmerz als Symptom psychischer Erkrankungsformen
Schmerzen können in unterschiedlicher Ausprägung ein Teilsymptom nahezu sämtlicher psychischer Erkrankungen darstellen. Für den Alltag von Schmerztherapeuten stellen hierbei folgende Sachverhalte ein enormes Problem dar:
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Die Dynamik des psychischen Erkrankungsverlaufs projiziert sich häufig in die Intensität des Schmerzerlebens, sodass die psychopathologischen Auffälligkeiten trotz ihrer Bedeutung für den Krankheitsverlauf in ihrem Erscheinungsbild eine relativ blande Ausprägung zeigen, zumal der Schmerz für das psychische Problemspektrum selbst eine stabilisierende Funktion bekommen kann. Aus diesem Grund wird die oft entscheidende Bedeutung der psychischen Grundstörung nicht nur von Schmerztherapeuten, sondern selbst von Psychiatern häufig unterschätzt.
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Nur bei wenigen Schmerzpatienten mit der Beschwerdeausprägung im Sinne einer somatoformen
Schmerzstörung ist der psychische Entstehungsmechanismus als
alleiniger pathognomonischer Erklärungsfaktor von Bedeutung. Für die überwiegende Anzahl dieser Patienten ist eine
mehrdimensionale psychophysische Genese bzw. Determination der Schmerzerkrankung anzunehmen mit der Notwendigkeit eines multimodalen Behandlungsansatzes – bei leider oft schlechten prognostischen Aussichten, insbesondere im Falle der Ausbildung destruktiver Verhaltensstrukturen.
Insgesamt unterstreicht die Fülle der ganz unterschiedlichen psychischen Erkrankungsbilder mit einem fakultativ schmerzerzeugenden oder häufiger noch schmerzverstärkenden Wahrnehmungspotenzial die eingangs dargestellte Bedeutung des
Schmerzes als einer die menschliche Existenz schlechthin herausfordernden Erlebnisqualität.
Die Anwendung des DSM-5-Kodiermanuals erscheint aufgrund des umfassenden wissenschaftlichen Evaluationshintergrundes sinnvoll. Die im deutschsprachigen Raum allgemein zum Einsatz kommende ICD-10 stellt für den alltäglichen Gebrauch das Standardwerk dar.
Evaluation der diagnostischen Einschätzung
Erhebung des psychischen Befundes
Bedeutungsbesonderheiten
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Störungen des Bewusstseins und der Orientierung sind primär hirnorganischer Natur.
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Zerfahrene
Denkabläufe stellen eine spezifische Strukturproblematik der
Schizophrenie dar, während der Gedankengang bei hirnorganischen Störungen als zusammenhanglos, inkohärent, perseverierend zu bezeichnen ist. Die Ideenflucht mit Lockerung der Assoziationsgefüge ist vorwiegend der Manie zuzuordnen.
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Inhaltliche Denkstörungen sind häufig den sekundär symptomatischen oder auch primären Psychosen zuzuordnen. Hierbei weist der Verständnisverlust für die grundsätzlichen Lebensstrukturen in ihren Bedeutungsgehalten mit der Manifestation von
Ich-Störungen v. a. in Form von Gedankeneingebung oder -entzug eher auf eine Schizophrenie hin.
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Halluzinationen (insbesondere optische) und
Wahnwahrnehmungen mit voll oder partiell erhaltenem Realitätserleben (auch mit der Fähigkeit zur angemessenen Selbstdeutung der Erlebnisinhalte) findet man bei sekundären symptomatischen Psychosen (z. B. im Rahmen eines M.
Parkinson etc.).
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Der Übergang zu diffusen hirnorganischen Psychosyndromen, z. B. bei subkortikaler arteriosklerotischer Enzephalopathie (SAE), mit einem im Vordergrund stehenden Verlust an neuropsychologischer Funktionalität ist hierbei fließend.
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Hirnlokale Psychosyndrome zeichnen sich eher durch Schwerpunktstörungen neuropsychologischer Natur aus (z. B. mit Beeinträchtigungen der Reflexions- und Entscheidungsabläufe bei stirnhirnbetonten Läsionen).
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Antriebsstörungen mit einer psychomotorischen Verlangsamung sind als hirnorganisch zu werten, eine Antriebshemmung stellt ein depressives Syndrom dar (und spielt z. B. für perzeptive Vorgänge bei der Pseudodemenz eine Rolle).
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Affektstörungen im Sinne einer Affektlabilität oder Verminderung der Schwingungsfähigkeit lassen sich zur Beschreibung hirnorganischer Störungen einsetzen. Die Modulation des emotionalen Erlebnis- und Ausdrucksspektrums ist eher psychoreaktiv zu werten.
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Die Beschreibung der
Lebensgestaltung kann zusammen mit einer Darstellung der psychosozialen Belastungs-/Spannungs-/Konfliktfelder in der Anamnese einen erklärenden Hintergrund für somatoforme Körperstörungen in ihren psychosomatischen Reaktionsmustern oder für lebensgeschichtlich verankerte Entwicklungsbeeinträchtigungen (mit entsprechender psychischer Symptombildung oder als Persönlichkeitsstörung) liefern. Die Darstellung einer Erlebnis- und Handlungsinstabilität weist v. a. auf frühe
Persönlichkeitsstörungen hin (Borderline-Störung). Eine allgemeine, andauernde Beeinträchtigung der Fähigkeit zur aktiv-konstruktiven Alltagsgestaltung auf den praktischen Lebens- und Handlungsebenen ist zu beobachten bei Oligophrenien, Demenzentwicklungen, chronisch hirnorganischen Psychosyndromen oder Defektsyndromen als Folge primärer Psychosen.
Bei der Beschreibung des psychischen Befundes ist eine Beschränkung auf die krankheitsrelevanten Störungsebenen sinnvoll.
Nosologische Zuordnung der Schmerzstörung
Fragestellung
Besteht ein psychosomatisches, psychoreaktives oder psychoorganisches (einschließlich primärer Psychosen) Ursachenspektrum für die Schmerzerkrankung, entweder im Sinne einer ausschließlichen Genese oder einer wesentlichen Determination des Beschwerdebildes (bei multimodalem Entstehungsmuster)?
Therapie
Auf therapeutische Maßnahmen wird in diesem Kapitel nicht näher eingegangen, da sich diese weitgehend an den psychiatrischen Notwendigkeiten für eine Behandlung der entsprechend diagnostizierten psychischen Grunderkrankungen orientieren müssen. Das gilt sowohl für die medikamentöse Therapie als auch für die gesprächstherapeutischen, rehabilitativen und sozialmedizinischen Maßnahmen. Auf die entsprechende psychiatrische Literatur wird verwiesen.
Gerade die beschriebenen „Mischbilder“ erfordern allerdings häufig ein interdisziplinäres Vorgehen, wobei es nicht das Ziel der gemeinsamen Bemühungen sein darf, den Patienten von den psychischen Anteilen seiner Schmerzerkrankung zu „überzeugen“. Vielmehr muss für das psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungsangebot das Bemühen um die Kompensation der psychischen Grundstörung im Vordergrund stehen; über eine daraus resultierende Kompetenzverbesserung der allgemeinen Erlebnisintegration kann die pathologische Schmerzwahrnehmung bzw. -verarbeitung dann gewissermaßen „überflüssig“ gemacht werden.
Die psychosoziale Stabilisierungsfunktion, die chronischen somatoform geprägten Schmerzerkrankungen häufig zukommt, kann allerdings als gemeinsames Therapieziel auch immer wieder eine „Beschränkung“ der Behandlungsbemühungen auf eine Zustandskompensation ohne entscheidende Besserung der Schmerzproblematik sinnvoll und notwendig machen.
Im Hinblick auf die psychotherapeutischen Maßnahmen kann ein sehr belangvoller Abstimmungsbedarf zwischen den auf die psychische Grundstörung ausgerichteten Behandlungskonzepten einerseits und den verhaltenspsychologisch primär eine Verbesserung der Schmerzbewältigung anstrebenden Interventionsverfahren andererseits entstehen. Auch für die medikamentöse Therapie ist fallweise eine Angleichung unterschiedlicher Behandlungsstandards (z. B. hinsichtlich der Dosierung trizyklischer
Antidepressiva und des Einsatzes von
Neuroleptika oder evtl. auch
Tranquilizern) notwendig.