Zum Einstieg
Der Begriff Schmerzgedächtnis kann mehrere Prozesse beschreiben, die jeweils klinisch relevant sind. Episodisches Gedächtnis bezieht sich auf das bewusste Erinnern selbst erlebter
Schmerzen. Da diese Erinnerung ungenau ist, werden Schmerztagebücher „online“ geführt. Neben dieser expliziten Form von Schmerzgedächtnis gibt es mehrere Formen des impliziten Gedächtnisses, die beim chronischen Schmerz relevant sind: Assoziatives Gedächtnis in Form von klassischer oder operanter Konditionierung ist an der Chronifizierung von Schmerz beteiligt und wird umgekehrt auch zur Behandlung chronischer Schmerzen eingesetzt. Nichtassoziatives Schmerzgedächtnis in Form von Sensibilisierung ist eine fundamentale Eigenart des nozizeptiven Systems.
Die Sensibilisierung der peripheren nozizeptiven Nervenendigungen erfolgt nach jeder Verletzung; die daraus resultierende Hyperalgesie gegen Hitzereize trägt zum akuten Entzündungsschmerz bei. Schon im Rahmen des Akutschmerzes kommt es auch zu einer zentralen Sensibilisierung der synaptischen Übertragung und in deren Folge zur Hyperalgesie gegen mechanische Reize. Die zentrale Sensibilisierung ist beim chronischen
Schmerz besonders ausgeprägt.
Gibt es ein Schmerzgedächtnis?
Die phylogenetisch ältesten Formen von Lernen und Gedächtnis sind vermutlich mit dem Geruchssinn und dem Schmerzsinn verbunden. Olfaktorische Reize steuern einen Großteil des Appetenzverhaltens (z. B. bei Nahrungs- oder Partnersuche), während die Detektion noxischer Reize eine wichtige Steuerungsfunktion für Vermeidungsverhalten besitzt. Lernprozesse für beide Reizarten kann man bereits bei wirbellosen Tieren nachweisen (Gillette et al.
2000; Roayaie et al.
1998; Wittenburg und Baumeister
1999). Viele der klassischen Lernparadigmen zu Sensibilisierung oder zu emotionaler Konditionierung arbeiten mit noxischen Reizen als unkonditioniertem aversiven Reiz (Prescott
1998). Gedächtnisforschung und Schmerzforschung bearbeiten also stark überlappende Themen, aber diese thematische Nähe wird nur selten explizit benannt (Sandkühler
2000; Tan und Waxman
2012; Treede et al.
2006).
Lernen und Gedächtnis können nach der Zeitdauer in Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis unterteilt werden (primäres und sekundäres Gedächtnis), und nach Inhalten und Mechanismen in explizites und implizites Gedächtnis. Explizites Gedächtnis wird auch als deklaratives Gedächtnis bezeichnet. Die Inhalte sind verbal beschreibbar und werden bewusst verarbeitet. Implizites Gedächtnis wird auch als nichtdeklaratives Gedächtnis bezeichnet. Hierbei geht es um unbewusstes, gelerntes Verhalten. Die Inhalte können aus einfachen Reflexen oder komplexen Verhaltensmustern bestehen.
Mit dem Begriff Schmerzgedächtnis wird oft die Vorstellung verbunden, dass es sich um implizites Gedächtnis für Schmerzverhalten handelt und dass dieses Gedächtnis beim chronischen
Schmerz irreversibel konsolidiert sei. Die nachfolgenden Abschnitte sollen erläutern, dass dies eine zu enge Sicht auf das Schmerzgedächtnis darstellt. Gedächtnisprozesse sind an vielen Mechanismen des chronischen und akuten Schmerzes beteiligt.
Explizites, deklaratives Gedächtnis
Das explizite Gedächtnis wird unterteilt in semantisches Gedächtnis für Fakten (Wissensgedächtnis) und episodisches Gedächtnis für Ereignisse (u. a. autobiografisches Gedächtnis). Beide Gedächtnisarten spielen eine Rolle in der praktischen
Schmerztherapie.
Inhalte des
semantischen Gedächtnisses beeinflussen das Arzt-Patient-Verhältnis: Arzt und Patient besitzen jeweils eigene Vorstellungen über mögliche Schmerzmechanismen; dieses Vorwissen spielt eine Rolle bei der Anamnese, beim Untersuchungsgang und sogar für den Therapieerfolg (Jensen et al.
1999; Williams und Thorn
1989).
Eine zweite Form des expliziten Gedächtnisses ist das
episodische Gedächtnis für Ereignisse. Hierzu gehört insbesondere auch das autobiografische Gedächtnis für selbst erlebte
Schmerzen. Die Erhebung einer Anamnese setzt voraus, dass die Patienten sich hinreichend genau erinnern können. Gerade für die Schmerzqualitäten und ihre affektive Komponente wird jedoch allgemein angenommen, dass diese nur sehr ungenau erinnert werden (Erskine et al.
1990).
Vom expliziten Gedächtnis ist bekannt, dass dessen Inhalte schnell verblassen, wenn sie nicht durch Wiederholungen konsolidiert werden. Auch das Langzeitgedächtnis ist nicht resistent gegen das Vergessen, und nur wenige Inhalte gehen in das permanente Gedächtnis über (tertiäres Gedächtnis); hierzu gehört z. B. der eigene Name. Nicht alle Gedächtnisinhalte sind dem unmittelbaren Zugriff zugänglich. Wenn ein Gedächtnisinhalt aktuell nicht abgerufen werden kann, ist möglicherweise nur der Prozess des Erinnerns gestört. Mittels welcher Mechanismen Gedächtnisinhalte abgerufen werden, ist weniger gut untersucht als die Mechanismen des Lernens.
Implizites Gedächtnis: assoziatives Lernen
Zum assoziativen impliziten Gedächtnis gehören die klassische Konditionierung und die operante Konditionierung (Kandel et al.
2000). Beim assoziativen Lernen geht es um den Zusammenhang zwischen zwei Reizen (klassische Konditionierung nach Pawlow) oder zwischen einem Reiz und einem Verhalten (operationale Konditionierung nach Skinner). Beide Formen des assoziativen Lernens tragen zum chronischen Rückenschmerz bei (Turk und Flor
1984).
Durch
klassische Konditionierung können verschiedenartige Ereignisse von einem neutralen Reiz in einen konditionierten Schmerzreiz transformiert werden, wenn sie häufig mit einem nachfolgenden Schmerzerlebnis (unkonditionierter Reiz) gepaart auftreten. Dies gilt z. B. für Bewegungsmuster und nachfolgenden Rückenschmerz, aber auch für komplexe Reizsituationen oder sogar für Gedanken und Vorstellungen (Flor
2000; Schneider et al.
2004). Die Assoziation kann aufgehoben werden, wenn der ursprünglich neutrale Reiz häufig ohne nachfolgenden
Schmerz erlebt wird. Diese Situation herzustellen, ist eines der Ziele der aktivierenden
Schmerztherapie.
Durch
operante Konditionierung können Verhaltensmuster verstärkt werden, wenn ihnen regelmäßig eine Belohnung folgt. Dies gilt auch für das Erlernen funktionell ungünstiger Verhaltensmuster beim chronischen
Schmerz: Einnahme von Medikamenten nach Bedarf und körperliche Schonung werden durch Schmerzlinderung belohnt, das Äußern von Beschwerden durch verstärkte Zuwendung der Angehörigen. Verhaltenstherapeutische Ansätze versuchen, diesen Lernprozess durch Umlernen zu durchbrechen, indem die positiven Verstärker für Schmerzverhalten entzogen und positive Verstärker für anderes Verhalten (z. B. körperliche Aktivität) aufgebaut werden (Turk und Flor
1984).
Ein Spezialfall der klassischen Konditionierung ist die Furchtkonditionierung, bei der ein neutraler Sinnesreiz (z. B. ein Ton) mit einem aversiven Reiz gekoppelt wird (in Tierexperimenten meist ein elektrischer Reiz) und dann als konditionierter Reiz zu einer Schreckstarre führt („freezing response“). Bei dieser Konditionierung spielt die Langzeitpotenzierung der synaptischen Übertragung in den Mandelkernen (laterale Amygdala) eine entscheidende Rolle.
Unter den psychosozialen Faktoren, die an der Chronifizierung von Rückenschmerz beteiligt sind, spielt die angstmotivierte Vermeidung von Bewegung und Belastung eine herausragende Rolle (
Fear-Avoidance-Modell). Angstvermeidungsüberzeugungen können mit entsprechenden Fragebögen erfasst werden (Pfingsten
2004). Die
kognitive Verhaltenstherapie hat das Ziel, die aus dem Angstvermeidungsverhalten resultierende Schmerzverstärkung rückgängig zu machen (Vlaeyen und Linton
2000). Es ist zu hoffen, dass die bisher eher auf den empirischen Sozialwissenschaften basierende Forschung zum Rückenschmerz durch analoge Arbeiten zur Furchtkonditionierung eine neurobiologische Basis erhält.
Implizites Gedächtnis: nichtassoziatives Lernen
Nichtassoziatives Lernen geschieht durch Reizwiederholung. Nach der Dual-Process-Theorie der Plastizität werden hierdurch gleichzeitig zwei konkurrierende Prozesse aktiviert: Habituation und Sensibilisierung (Prescott
1998).
Habituation ist definiert als Abnahme einer Verhaltensantwort bei wiederholter Reizung. Habituation erfolgt früh im Signalweg, v. a. als Funktion der Anzahl der Reize und der Reizfrequenz.
Sensibilisierung ist definiert als Zunahme der Verhaltensantwort bei wiederholter Reizung. Sensibilisierung erfolgt später im Signalweg und tritt insbesondere nach neuartiger, starker oder noxischer Reizung auf.
In den meisten sensorischen Systemen sind die Reizantworten selbst bei hoher Reizstärke nur initial für kurze Zeit gesteigert, während nach wenigen Reizwiederholungen die Habituation dominiert (Quiroga und Luijtelaar
2002). Wenn die Abnahme der Reizantworten bei Reizwiederholung vermindert ausfällt oder ganz fehlt, wird daraus indirekt auf eine Sensibilisierung geschlossen. Berichte über die Sensibilisierung des auditorischen Systems bei Gendefekten im Glyzinrezeptor oder bei
Migräne beruhen auf solchen indirekten Schlussfolgerungen (Plappert et al.
2001; Thomas et al.
2002).
Im nozizeptiven System ist dies anders. Unter experimentellen Bedingungen kann zwar auch hier eine Abnahme der Reizantworten bei Reizwiederholung beobachtet werden (Adriaensen et al.
1984), nach einer Verletzung kommt es aber zu einer massiven Zunahme der Antworten auf nachfolgende nozizeptive Reize, d. h. die Sensibilisierung dominiert (Treede et al.
1992). Dies liegt daran, dass sowohl die Signaltransduktion an den nozizeptiven Nervenendigungen im Gewebe als auch die Übertragungsstärke an den zentralen Synapsen durch akute Plastizität des nozizeptiven Systems leicht gesteigert werden können (Cervero und Laird
1991; Woolf und Salter
2000).
Periphere Sensibilisierung der nozizeptiven Nervenendigungen kann man als „peripheres Schmerzgedächtnis“ auffassen. Im Unterschied zur zentralen Sensibilisierung beruht sie nicht auf synaptischer Signalübertragung, sondern auf der peripheren Interaktion von Immunsystem und Nervensystem (Schaible et al.
2005). Wie lange diese Sensibilisierung anhält und ob sie durch wiederholte Verletzungen konsolidiert wird, ist bisher nicht beschrieben.
Zentrale Sensibilisierung der synaptischen Übertragung im Rückenmark ist der Prototyp eines zentralen Schmerzgedächtnisses. Sie wird nicht direkt durch eine periphere Verletzung ausgelöst, sondern indirekt durch die dadurch verursachte Erregung nozizeptiver Afferenzen (LaMotte et al.
1991). Hochfrequente Erregung nozizeptiver Afferenzen durch chemische oder elektrische Reize ohne eine periphere Verletzung führt daher ebenfalls zu einer zentralen Sensibilisierung (Klein et al.
2004).
Nach einem einmaligen Ereignis dauert die zentrale Sensibilisierung ungefähr 24 h (Simone et al.
1989; Pfau et al.
2011).
In der Gedächtnisforschung wird zwischen intrinsischer und extrinsischer Sensibilisierung unterschieden (Prescott
1998). Bei der
intrinsischen Sensibilisierung stammen auslösender Reiz und Testreiz aus derselben Modalität und vom selben Ort. Experimente zur Langzeitpotenzierung in Schnittpräparaten des Rückenmarks entsprechen einer intrinsischen Sensibilisierung. Die
extrinsische Sensibilisierung wird durch einen Extrareiz ausgelöst, der von einem anderen Ort oder aus einer anderen Modalität stammt als die Testreize. Dies ist bei der sekundären Hyperalgesie in der Umgebung einer Verletzung der Fall (Magerl et al.
2001).
Insgesamt betrachtet, spielt die extrinsische Sensibilisierung als nichtassoziativer Lernmechanismus eine große Rolle beim akuten und chronischen
Schmerz.
Konsequenzen für die praktische Schmerztherapie
Das explizite episodische Gedächtnis für selbst erlebte
Schmerzen wird in jeder Anamnese und bei allen Schmerzfragebögen angesprochen (Tab.
1). Wegen Ungenauigkeiten in der Erinnerung an vergangene Schmerzen werden sowohl in klinischen Studien als auch in der Praxis Schmerztagebücher eingesetzt, in die tägliche Eintragungen der subjektiven Schmerzstärke vorgenommen werden. Solche Tagebücher stehen auch in elektronischer Form zur Verfügung.
Tab. 1
Deutung einiger Schmerzphänomene als Gedächtnisprozesse
Schmerzangaben in der Anamnese | Episodisches Gedächtnis | Assoziationskortex | Explizit |
Schonhaltung | Furchtkonditionierung | Amygdala | Implizit, assoziativ |
Hitzehyperalgesie | Periphere Sensibilisierung | Nozizeptive Nervenendigung | Implizit, nichtassoziativ (intrinsische Sensibilisierung) |
Mechanische Hyperalgesie | Zentrale Sensibilisierung | Rückenmark | Implizit, nichtassoziativ (extrinsische Sensibilisierung) |
Dynamische taktile Allodynie | Deszendierende Bahnung | Hirnstamm |
| Reorganisation taktiler rezeptiver Felder? | Primärer somatosensorischer Kortex |
Das
implizite assoziative Schmerzgedächtnis steht im Mittelpunkt verhaltenstherapeutischer Konzepte zum chronischen
Schmerz. Schmerzverhalten kann sowohl durch klassische als auch durch operante Konditionierung im Alltag verstärkt werden. Therapieziel ist die Durchbrechung dieser Konditionierung durch Umlernen. In Analogie zu Tierexperimenten zur Furchtkonditionierung könnte die Extinktion gelernten Schmerzverhaltens in Zukunft evtl. auch pharmakologisch unterstützt werden. Zur Prävention chronischer Schmerzen gehört nach dem Fear-Avoidance-Modell die Vermeidung von unerwünschten Kontingenzen (z. B. Medikamenteneinnahme nach Bedarf und Schmerzlinderung, Aufmerksamkeit im sozialen Umfeld nur bei Schmerzäußerung etc.). Auch hier wäre eine medikamentöse Unterstützung vorstellbar, aber als Nebenwirkung muss mit allgemeiner Behinderung von Lernprozessen gerechnet werden.
Zum impliziten nichtassoziativen Lernen gehört die Sensibilisierung bei wiederholter Reizung. Sensibilisierung ist im nozizeptiven System besonders ausgeprägt und findet nach jeder banalen Verletzung statt. Die Sensibilisierung der peripheren nozizeptiven Nervenendigungen wird durch Entzündungsmediatoren ausgelöst; die daraus resultierende Hyperalgesie gegen Hitzereize trägt zum akuten Entzündungsschmerz bei. Schon im Rahmen des Akutschmerzes kommt es auch zu einer zentralen Sensibilisierung der synaptischen Übertragung im Rückenmark und in deren Folge zur Hyperalgesie gegen mechanische Reize.
Wenn Sensibilisierung durch einen intervenierenden Reiz ausgelöst wird, der aus einer anderen Modalität oder von einem anderen Ort stammt als die Testreize, spricht man von
extrinsischer Sensibilisierung. Diese Art der Modulation liegt der dynamischen mechanischen Allodynie und der Reorganisation der rezeptiven Felder im primären somatosensorischen Kortex zugrunde. Zentrale Sensibilisierung und kortikale Reorganisation sind beim chronischen
Schmerz anscheinend besonders ausgeprägt.
In Analogie zu anderen Lernprozessen muss man davon ausgehen, dass auch das Schmerzgedächtnis verblasst, wenn es nicht durch wiederholte Ereignisse konsolidiert wird. Die Verhinderung der Konsolidierung des Schmerzgedächtnisses ist daher eines der Ziele einer rationalen
Schmerztherapie.
In Analogie zu anderen Gedächtnisformen ist es unwahrscheinlich, dass eine Extinktion des Schmerzgedächtnisses a priori unmöglich sei. Die Förderung der Extinktion des Schmerzgedächtnisses ist daher ein weiteres rationales Therapieziel in der Behandlung von Patienten mit chronischen
Schmerzen.