Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz (AIGS)
Von der International Headache Society (IHS) wird der AIGS (Persistent idiopathic facial pain) in der 3. Auflage der Internationalen Kopfschmerzklassifikation (Beta Version
2013) als „persistierender fazialer und/oder oraler
Schmerz mit variierender Symptomatik, jedoch täglich für mehr als zwei Stunden rekurrierend und über mehr als 3 Monate andauernd, bei Fehlen eines klinisch-neurologischen Defizits“ beschrieben.
Spezielle Pathophysiologie
Der
Schmerz kann spontan auftreten, aber auch durch ein Trauma des Gesichtes, der Strukturen der Mundhöhle, Kieferknochen und des NNH-Systems ausgelöst werden (Baad-Hansen et al.
2008). Er persistiert trotz abgeschlossener Wundheilung.
Klinische Symptome
Charakteristisch ist ein quälender, bohrender, brennender, tief sitzender, schlecht lokalisierbarer Gesichtsschmerz, der nicht an anatomische Grenzen gebunden ist und sich über die Ursprungsregion in weitere Gesichtsareale auch über die Mittellinie und in den Gegenkiefer ausbreiten kann.
In einer RCT-Studie (46 Teilnehmer) wiesen Patienten mit AIGS im Vergleich zur Kontrollgruppe höhere
Messwerte für Somatisierung und Depression auf (List et al.
2007). Überwiegend sind Frauen im Alter zwischen 30 und 60 Jahren betroffen.
Eine Sonderform des AIGS stellt die
atypische Odontalgie dar, die als persistierender Zahnschmerz ohne krankhaften klinischen oder röntgenologischen Befund definiert wird (Türp
2000). Sie unterscheidet sich in ihrer Symptomatik nicht vom AIGS, fokussiert jedoch die Aufmerksamkeit von Patient und Behandler auf einen Zahn oder eine Zahngruppe. Der
Schmerz tritt nach zahnärztlich-endodontischen Behandlungen mit Exstirpation des Pulpagewebes oder nach einer Zahnextraktion auf und ist auf eine Deafferenzierung zurückzuführen (Melis et al.
2003; Okeson
2014). Hat sich die Schmerzprojektion auf ein größeres Areal ausgebreitet, dann ist die atypische Odontalgie nicht mehr vom „klassischen“ AIGS zu unterscheiden. Die Angaben zur
Prävalenz der atypischen Odontalgie nach endodontischen Behandlungen schwanken zwischen 3 und 12 % (Melis et al.
2003; Polycarpou et al.
2005; Nixdorf et al.
2010,).
Diagnose und Differenzialdiagnose
Der AIGS ist per definitionem als Ausschlussdiagnose zu verstehen.
Differenzialdiagnostisch sind in erster Linie Erkrankungen im Bereich der ZMK-, HNO-, Augenheilkunde, Neurologie und Psychiatrie auszuschließen (Tab.
16).
Tab. 16
Die häufigsten Differenzialdiagnosen des anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerzes
Erkrankungen im Bereich der ZMK- und HNO-Heilkunde | - Dentogene Schmerzursachen - Kraniomandibuläre Dysfunktion - Speicheldrüsenerkrankungen - Sinusitis - Otitis, Cholesteatom |
Erkrankungen des Auges | - Brechungsfehler - Neuritis N. optici - Glaukom - Diabetische okuläre Neuropathie - Tolosa-Hunt-Syndrom |
Zervikale Ursachen | - Erkrankungen des kraniozervikalen Übergangs und der oberen HWS - Retropharyngeale Tendinitis |
Zentrale Neuralgien | |
Raumfordernde Läsionen | - Schädelbasis - Orbita - Nasennebenhöhlen - Kauschädel - Retromaxillarraum - Pharynx - Tonsillen - Larynx |
| - Spannungskopfschmerz - Trigeminoautonome Kopfschmerzen |
|
Postherpetische Trigeminusneuropathie |
Schmerzhafte Trigeminusneuropathie bei Multiple-Sklerose-Plaque |
(Kap. „Somatoforme Schmerzstörungen“) Psychopathologische Störungen | Zönästhesien |
Zwangsläufig können sich Überschneidungen zur traumatisch bedingten
Trigeminusneuropathie, zur
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und zu den Zönästhesien ergeben. Die
traumatische Trigeminusneuropathie wird nach unfall- oder operationsbedingten Verletzungen der Trigeminusäste beobachtet und ist in der Regel mit neurologischen Defiziten verbunden (Thieme
2016). Bei der
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, die dem AIGS sehr ähneln kann, ist ein anamnestischer Zusammenhang zu einer psychosozialen Belastungssituation oder inneren Konfliktsituation von wesentlicher diagnostischer Bedeutung (Peschen-Rosin
2002).
Zönästhesien werden den schizophrenen Erkrankungen zugerechnet.
Mundbrennen – Burning-Mouth-Syndrom (BMS)
Die IHS charakterisiert das Syndrom des brennenden Mundes (BMS) in der 3. Auflage der Internationalen Kopfschmerzklassifikation (Beta Version,
2013) als „ein intraorales, brennendes oder dysästhetisches Empfinden, das täglich für mehr als zwei Stunden rekurriert und über mehr als drei Monate besteht, ohne eine klinisch nachweisbare ursächliche Läsion“.
Der Terminus BMS oder Stomatodynie bezieht sich auf die gesamte Mundhöhle. Beschränken sich die Beschwerden auf die Zunge, so sind regelrechte Zungenschmerzen – Glossodynie, Glossalgie – vom eigentlichen Zungenbrennen – Glossopyrosis, „hot tongue“ – zu unterscheiden.
Spezielle Pathophysiologie
Ätiopathogenetisch ist eine
idiopathische Form von einer symptomatischen, multifaktoriell bedingten Variante,
„burning mouth-like symptoms“ , streng zu trennen. Ursächlich werden neuropathische Mechanismen der Schmerzentstehung diskutiert. So konnten Jääskeläinen (
2004) durch PET-Untersuchungen eine verminderte antinozizeptive dopaminerge Hemmung und Dysfunktion des nigrostriatalen Systems nachweisen. Lauria et al. (
2005) wiesen eine verminderte Dichte epithelialer, dünner Nervenfasern mit morphologischen Zeichen einer diffusen Axondegeneration in Biopsaten der vorderen zwei Drittel der Zunge nach. Diese
„small-fiber neuropathy“ ist durch einen erhöhten Anteil von Fasern mit positivem Nachweis des Hitze- und Capsaicin-Rezeptors TRPV1 und des Nervenwachstumsfaktors (NGF) gekennzeichnet. Khan et al. (
2014) fanden eine veränderte Struktur und Funktion im Hippacampus und präfrontalen Cortex bei 9 Patientinnen mit BMS.
Inzidenz und
Prävalenz des Krankheitsbildes sind nicht gesichert, da idiopathische und symptomatische Formen zumeist nicht differenziert werden. Kohorst et al. (
2015) fanden in einer populationsbasierten Studie in Minesota eine Prävalenz von 0,11 % bzw.105,6 Fällen pro 100.000 Personen. Die altersadjustierte Häufigkeit unter Frauen war mit 168,6 pro 100.000 Personen (0,17 %) deutlich höher als bei Männern mit 35,9 pro 100.000 Personen (0,04 %). Die höchste Prävalenz ergab sich bei Frauen im Alter von 70 bis 79 Jahren mit 527,9 pro 100.000 Personen (0,53 %). Das mittlere Alter betrug 59,4 Jahre (Altersbereich von 25 bis 90 Jahre). Bergdahl et al. geben 0,7 bis 15 % für die schwedische Bevölkerung an (
1999).
Symptomatik
Charakteristisch ist ein quälendes Brennen, Prickeln, Jucken und Stechen an unterschiedlichen Stellen der Mundhöhle. Die Zungenspitze ist am häufigsten betroffen.
Die Symptome treten bilateral auf und können im Tagesverlauf schwanken. Ein einseitiges Vorkommen sollte Anlass zum Ausschluss lokaler Reizfaktoren, tumorbedingter oder neurologischer Veränderungen geben. Der Nachtschlaf wird in der Regel nicht gestört. Das häufig synchrone Vorkommen von Mundbrennen,
Geschmacksstörungen (11 %) und Mundtrockenheit (66 %) veranlasste Nagler und Hershkovich (
2004), das klinische Bild unter dem Begriff „Oral Sensorial Complaint“ zusammenzufassen.
Bei 41 bis 71 % werden Depression und
Angststörungen beobachtet (Bogetto et al.
1998; Witt und Palla
2002). Häufig besteht eine Kanzerophobie.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Analog zum AIGS ist das idiopathische Mundschleimhautbrennen als
Ausschlussdiagnose zu betrachten. So müssen alle symptomatischen Formen wie lokale pathologische Prozesse, systemische Erkrankungen, aber auch Nebenwirkungen zahlreicher Medikamente berücksichtigt werden (Tab.
17).
Tab. 17
Die häufigsten Differenzialdiagnosen des symptomatischen Mundbrennens
Lokale pathologische Prozesse | - Angeborene und erworbene Anomalien der Zunge: Lingua geographica, Lingua plicata, Lingua villosa nigra, Glossitis rhombica mediana - Schleimhauterkrankungen: Leukoplakie, Pemphigus vulgaris, Pemphigoid, Lichen planus, rezidivierende Aphthen, orofaziale Granulomatosen - Infektionen: Candida albicans, Fusospirochätosen, Herpes simplex, HIV-assoziierte Infektionen - Mangelhafte Mundhygiene: Zahnkaries, insuffizienter Zahnersatz, Prothesenstomatitis - Chemische und allergische Irritationen: Mundwässer, Tabak, Alkohol, Kontaktallergien auf Prothesenmaterialien, galvanische Reize - Orofaziale Parafunktionen, Bruxismus, Zungenpressen - Kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) - Verletzung des N. lingualis |
Systemische Veränderungen | - Xerostomie-assoziierte Medikamente - Radiatio, antitumoröse Chemotherapie - Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes (Gastritis, Refluxösophagitis, M. Crohn) - Diabetes mellitus (schlecht eingestellt) - Vitaminmangelzustände (Vitamin B1, B2, B6) - Akustikusneurinom |
Symptomatisches Mundbrennen – lokale Faktoren
Erkrankungen der Mundschleimhaut, Anomalien der Zunge, mechanische, chemische und infektiöse Irritationen, funktionelle Störungen des Kauapparates, Kontaktallergien und galvanische Reize durch unterschiedliche zahnärztliche Metalle sind abzuklären. Prothesenträger klagen zuweilen über Brennen und Jucken der Gaumenschleimhaut ohne erkennbare Schleimhautveränderungen. Diese Symptomatik („denture sore mouth“, DSM) sollte von einer allergischen Kontaktstomatitis unterschieden werden. Letztere ist an einer charakteristischen, scharf abgegrenzten Rötung der Gaumenschleimhaut im Bereich des Prothesenkontaktes zu erkennen. Die DSM-Symptomatik ist demgegenüber als Variante der idiopathischen Form des Mundbrennens anzusehen (van der Waal und Schulten
2000).
Symptomatisches Mundbrennen – systemische Faktoren
Durch
paraklinische Untersuchungen sollten
Anämien,
Diabetes mellitus, Vitamin-B
12- und Folsäuremangelzustände sowie Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes ausgeschlossen werden. Mundbrennen kann als Rarität auch durch ein Akustikusneurinom hervorgerufen werden (Ferguson und Burton
1990).
Darüber hinaus ist eine mögliche psychische Komorbidität, Depression und Angststörung abzuklären.
Spezielle Therapie des AIGS und des idiopathischen Mundbrennens
Eine optimale Therapie des anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerzes und des idiopathischen Mundbrennens gibt es nicht.
Behandlungsziel ist die Schmerzlinderung und bessere Bewältigung der Schmerzsymptomatik (Coping). Eine vollständige Schmerzbeseitigung ist nicht erreichbar und sollte nicht versprochen werden. Zahnärztlich-chirurgische Interventionen sind kontraindiziert, da sie zur Chronifizierung und Schmerzverstärkung beitragen (Sommer et al.
2012).
Die
pharmakologische Therapie des AIGS stützt sich auf die Empfehlungen und Leitlinien zur Behandlung
neuropathischer Schmerzen, obwohl bisher kein evidenzbasierter Nachweis der Wirksamkeit auf den AIGS bekannt ist (Baron et al.
2010; Zakrzewska
2010; Sommer et al.
2012; Finnerup et al.
2015). Nach einer
Metaanalyse von 229 RCT-Studien gelten als starke Empfehlungen für die pharmakologische Therapie des neuropathischen
Schmerzes die α-2-δ- Calciumkanalblocker
Gabapentin und
Pregabalin, die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Venlafaxin und Duloxetin sowie niedrig dosierte trizyklische
Antidepressiva wie Amitriptylin (Finnerup et al.
2015, Kap. „Neuropathischer Schmerz“). Die Effektivität von Antikonvulsiva mit Wirkung auf spannungsabhängige Natriumkanäle wie
Carbamazepin und
Oxcarbazepin wurde nur als „inconclusive“ bewertet. Schwache Empfehlungen bestehen für die topische Anwendung von Lidocainpflastern,
Tramadol und starken
Opioiden. In einer Metaanalyse von 12 RCT-Studien zur Opioid-Anwendung bei neuropathischen Schmerzen (Kurzzeitstudien von 4–12 Wochen) ergab sich lediglich eine eingeschränkte Bewertung (Sommer et al.
2015). Dies kommt auch in der klinischen Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioden bei nichttumorbedingten Schmerzen (LONTS, Häuser et al. 2014/
2015) zum Ausdruck.
Neben der medikamentösen Therapie kommt verhaltenstherapeutischen Strategien und Entspannungstechniken,
Biofeedback,
Bewegungstherapie, physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen bei allen Formen des AIGS eine wichtige Rolle zu (Paulus et al.
2002).
Die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) kann hilfreich sein. Sie ermöglicht dem Patienten außerdem eine aktive Mitarbeit an der Therapie. Lediglich Placebocharakter besitzen Maßnahmen wie Akupunktur, Neuraltherapie, analytische psychotherapeutische Verfahren oder neurolytische Nervenblockaden.
In einem systematischen Cochrane Review zur
medikamentösen Therapie des BMS wurden 23 RCT-Studien (1121 Teilnehmer, 83 % Frauen) für den Zeitraum zwischen 1995 und 2015 ausgewertet (McMillan et al.
2016). Die Autoren fanden lediglich eine schwache Evidenz in Bezug auf die therapeutische Effektivität von
Antidepressiva, Cholinergika, systhemischen
Benzodiazepinen, Nahrungsergänzungsmitteln oder topischen Anwendungen.
Eine Kurzzeitwirkung ergab sich bei Mundspülungen mit Clonazepam (zwei Studien, 111 Teilnehmer) und der systemischen Anwendung von
Gabapentin (eine Studie, 100 Teilnehmer). Ein Langzeit-Benefit (3 bis 6 Monate) wurde für
Psychotherapie (eine Studie, 30 Teilnehmer), Capsaicin-Mundspülungen (eine Studie, 18 Teilnehmer) und die topische Anwendung von Clonazepam (eine Studie, 66 Teilnehmer) nachgewiesen. Studien mit Antikonvulsiva oder
Antidepressiva zeigten keinen Langzeiterfolg.
Eine Hormonsubstitution zur Therapie des idiopathischen Mundbrennens ist nutzlos.