Die Bezeichnung einer psychopathologischen Arbeitsweise als „deskriptiv“, also „beschreibend“, stellt den Anspruch in den Mittelpunkt, eine vorliegende Symptomatik möglichst einfach, überprüfbar und übersichtlich gegliedert zu erfassen und zu benennen, ohne in diese Phase des diagnostischen Prozesses bereits ätiologische Vorannahmen, pathogenetische Hypothesen und deutende Elemente über den individuellen, bezugsgruppentypischen oder gesellschaftlichen „Sinn“ bestimmter Symptome einfließen zu lassen.
Zeichen vs. Symptome
Vielfach wird die Auffassung vertreten, dass Symptome, deren Vorhandensein nicht „festgestellt“, sondern nur erschlossen werden kann, vorwiegend aus Gründen der Messmethodik weniger Berücksichtigung finden sollen (Möller
1976). Dies erinnert an die im englischsprachigen Raum etablierte, anderenorts aber weniger bekannte Unterscheidung zwischen Zeichen und Symptom („sign and symptom“): So definierte das
DSM-IV (APA
2000) das Zeichen als „objektive Manifestation eines pathologischen Zustandes“, die „eher vom Untersucher beobachtet als vom Betroffenen mitgeteilt wird“, und das Symptom als „subjektive Manifestation eines pathologischen Zustandes“, die „eher vom Betroffenen berichtet als vom Untersucher beobachtet wird“.
Diese Unterscheidung mag eine nützliche methodische Richtschnur sein, um eine Konfundierung objektiver und subjektiver Informationsquellen zu vermeiden. In der Praxis auch und gerade der deskriptiven psychopathologischen Befunderhebung kann sie so eindeutig meist nicht durchgehalten werden, was wohl der Grund dafür ist, dass sie sich im
DSM-5 (APA
2013) in der genannten Schärfe nicht mehr wiederfindet. Dies belegen v. a. die psychomotorischen Symptome, bei denen es um den Ausdruckscharakter von Bewegungen und Körperhaltungen geht, also um die gerade nicht trennbare Verbindung subjektiver Momente, die etwa die Stimmung betreffen, mit objektivem, unmittelbar beobachtbarem motorischen Verhalten.
Ohne Frage stellt die vorurteilsfreie Erfassung der psychischen Phänomene, also dessen, was der Patient schildert und erlebt, woran er sich erinnert, was er plant, und der Art, wie er handelt, eine entscheidende Voraussetzung jeder sorgfältigen psychiatrischen Praxis und Forschung dar. Allerdings wäre es voreilig, dieses Ziel bereits dadurch für erreichbar (oder gar für erreicht) zu halten, dass ein beschreibender Zugang gewählt wird. Keiner der bislang eingeschlagenen methodischen Wege, auch nicht der deskriptive, hat die Eigenschaft, frei von theoretischen Vorannahmen zu sein.
Dies kann im Übrigen in gleicher Weise auf die nosologische Ebene bezogen werden: Die 3. Fassung des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ der amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft APA, das
1980 erschienene „DSM-III“, war das erste standardisierte Diagnosemanual, das die Unabhängigkeit der beschreibenden von der ätiologischen Ebene geradezu ins Zentrum rückte und mit dem etwas vorschnell gewählten Begriff eines „atheoretischen“ Vorgehens bezeichnete. Zwischenzeitlich hat ein Prozess der Differenzierung stattgefunden, wodurch klarer hervorgehoben wird, dass nicht die – grundsätzlich unmögliche – Freiheit von
jeder theoretischen Vorannahme, sondern von impliziten Annahmen über die Verursachung des jeweiligen Symptoms bzw. der jeweiligen Störung gemeint war und ist. Um die Entstehung oder Verfestigung wissenschaftlicher Vorurteile im Laufe des diagnostischen Prozesses zu verhindern, ist das Erkennen impliziter Vorannahmen von entscheidender Bedeutung, sei es auf der Symptom-, der Syndrom- oder der nosologischen Ebene.
„Deskription“ ruft rasch die Assoziation des nüchtern-sachlichen Nachzeichnens von etwas „objektiv“ Vorhandenem hervor, vergleichbar der rein passiven Funktion eines vom Benutzer gut justierten Fotoapparats. Zu bedenken ist aber, dass es sich beim Beschreiben eines psychopathologischen Symptoms um eine Kommunikation zwischen Patient und Untersucher, also um einen interpersonalen Vorgang, handelt (Fuchs
2009).
Freilich wird man ein Symptom wie „örtlich desorientiert“ eindeutiger und „objektiver“ feststellen können als das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von „Gedankenausbreitung“. Dies ändert aber nichts an der grundsätzlichen Natur der psychopathologischen Deskription als eines Vorgangs, der wesentlich durch den Beziehungsaspekt charakterisiert wird.
Der Beziehungsaspekt kann auch zu komplexeren zwischenmenschlichen Bedeutungszuschreibungen führen, etwa im Falle der – auch diagnostisch – wichtigen, gemeinhin als „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ bezeichneten Beziehungsmomente.
Allgemein ausgedrückt: Das Beschreiben hängt stark von der Art des Symptoms ab, denn beobachtbares Verhalten kann einfacher beschrieben werden als inneres Erleben. Karl Jaspers legte großen Wert auf die Feststellung, dass sich „Seelisches“ gar nicht unmittelbar zeige (also auch nicht unmittelbar beobachtet werden könne), sondern nur mittelbar über Sprache, Schrift, Gestik, Mimik, künstlerische Äußerung oder Verhalten. Umso wichtiger ist, sich stets darüber im Klaren zu sein, was eigentlich bei der deskriptiven Vorgehensweise „beschrieben“ wird, also etwa
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das äußerlich erkennbare Verhalten des Patienten,
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seine eigenen Angaben über das aktuelle Erleben,
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Annahmen über das aktuelle subjektive Erleben des Patienten, die der Untersucher aufgrund bestimmter (Welcher? Warum gerade dieser?) Wahrnehmungen und Wertungen hat, obwohl der Patient selbst sich dazu vielleicht ganz anders oder gar nicht erklärt,
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Angaben Dritter über das Verhalten und Erleben des Patienten.
Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass „Deskription“ auch in der Psychopathologie kein selbsterklärender, einfacher Begriff ist. Es geht aber nicht nur um die kritische Berücksichtigung der jeweiligen Quellen des zu Beschreibenden und eines bestimmten Beziehungskontextes. Die Sachlage wird vielmehr noch dadurch kompliziert, dass sich das Bemühen um die beschreibende Erfassung des Befundes grundsätzlich nicht völlig trennen lässt von einem psychopathologischen Grundverständnis und dem darin wirksamen Menschenbild. Freilich muss dies kein Nachteil sein, solange daraus im diagnostischen Prozess keine Vorurteile erwachsen.