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Psychische Störungen auf Reisen und bei Auslandsaufenthalten

Verfasst von: Gerd Laux
Reisen in ferne Länder, berufliche Auslandsaufenthalte und Hilfseinsätze nehmen seit Jahren kontinuierlich zu. Das Thema „Reisestress“ und psychische Störungen ist bislang wenig untersucht, Daten zu Rückholungen, psychiatrischen Notfällen und Suiziden auf Reisen bzw. bei Auslandsaufenthalten liegen kaum vor. Basierend auf dem öko-bio-psycho-sozialen Modell können verschiedene reisetypische Stressoren unterschieden werden wie „Kulturschock“, Klima, Zeitverschiebung, Reizüberflutung oder Isolation, Sprach- und Kommunikationshindernisse sowie Gefahrensituationen und Gewalterfahrung. Es kann zu einer psychischen Ersterkrankung oder zu einem Rezidiv kommen, klinisch lassen sich Angststörungen, Depressionen, Anpassungs- und Belastungsstörungen, Psychosen und Entzugssyndrome unterscheiden. Spezifische Störungen sind das Jerusalem-Syndrom oder das Stendhal-Syndrom. Die psychiatrische Notfallbehandlung beinhaltet Kriseninterventionstechniken und bei Delirien, Psychosen oder Erregungszuständen die Therapie mit Psychopharmaka. Die Versorgungsmöglichkeiten vor Ort sind zu eruieren, eventuell ist ein Rücktransport erforderlich. Essenziell ist eine reisemedizinische Beratung, eine bestehende Psychopharmakamedikation sollte angepasst werden (Dosierung, Depoteinstellung), die Medikamente sollten im Handgepäck mitgeführt werden, mögliche Interaktionen sind zu beachten. Nach Rückkehr empfiehlt sich neben einer somatischen Kontrolle (Malariaprophylaxe, Infektionen) ggf. eine Traumatherapie.

Epidemiologie

Tourismus ist eine der Wachstumsbranchen der deutschen Wirtschaft und sogar wichtiger als die Automobilindustrie. Im Jahr 2011 gaben die Deutschen für private Auslandsreisen 52 Mrd. Euro aus, 11 % hatten Fernreiseziele (Repräsentativbefragung 2015, Deutscher Reiseverband 2016). Deutsche zählen zu den reiselustigsten Völkern, 2015 wurden 69 Mio. Urlaubsreisen gebucht, davon 71 % ins Ausland (DRV 2016). Fernreisen erfahren eine kontinuierliche Zunahme. Kreuzfahrten mit 3000–5000 Schiffspassagieren älterer Jahrgänge erfahren einen Buchungsboom, Langstreckenflüge mit Großraumflugzeugen (z. B. Airbus A 380) ermöglichen den raschen Transport großer Passagierzahlen über weite Strecken, junge Erwachsene unternehmen Abenteuerreisen zur Selbstfindung, z. T. in Form von problem- und konfliktbeladenen Rucksackreisen („Backpacker“). Im Rahmen der Globalisierung haben z. T. karrierebedingte berufliche Auslandsaufenthalte deutlich zugenommen, ebenso die Zahl der Entwicklungshelfer. So liegt die Zahl der Entwicklungshelfer verschiedener Dienste derzeit bei ca. 2.000 (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ; Deutscher Entwicklungsdienst DED).
Reisen ins Ausland und das Leben dort sind immer risikobehaftet. Das Thema mentale Störungen, Reisestress oder psychische Störungen ist bislang wenig beachtet und untersucht (Waterhouse et al. 2004; Keystone et al. 2012; Airault 2015). Fachgesellschaften wie die „International Society of Travel Medicine“, GeoSentinel oder EuroTravNet legen ihre Schwerpunkte auf Infektionen, im deutschen Standardwerk zur Reisemedizin widmen sich nur wenige Seiten den „psychosozialen Aspekten des Reisens“ (Jelinek 2012). Auch in den medizinischen Ratgebern für beruflich Reisende oder zur „Travel Medicine“ (Weiß und Rieke 2012, 2014) finden sich nur allgemeine Hinweise zum Thema Stress. Daten zu Rückholungen, psychiatrischen Notfällen und Suiziden auf Reisen bzw. bei Auslandsaufenthalten sind spärlich. Der WWF gibt 103 Fälle von Rückholungen und Notfallevakuierungen bei 2675 ausgereisten Freiwilligen von 2009–2012 an, davon nur ganz wenige wegen Belastungsstörungen/psychischer Störungen.

Ätiopathogenese

Basierend auf einem öko-bio-psycho-sozialen Modell lassen sich neben der individuellen Vulnerabilität (Persönlichkeit, Resilienz) verschiedene Stressoren unterscheiden (s. Abb. 1).
Allgemeine Ursachen und Auslöser von psychischen Störungen auf Reisen sowie reisetypische Stressoren sind in Tab. 1 zusammengefasst.
Tab. 1
Allgemeine Ursachen und Auslöser sowie reisetypische Stressoren
Ursachen und Auslöser
Reisetypische Stressoren – pathogene Faktoren
Psychosozialer Stress
Zeitverschiebung – Jetlag
Hygiene; Infektionen
Klima (Hitze, Smog, Tropen)
Impfreaktionen
Reizüberflutung – „sensation seeking“
Exazerbation somatischer Krankheiten
Menschenansammlungen; Enge (→ Phobien)
Medikationsfehler (Absetzen, Interaktionen)
Isolation (Hotelzimmer)
 
Gruppendruck (fremde Menschen)
 
fremde Sprache (Orientierung)
 
„Kulturschock“ (Konfrontation mit Elend – „Bettler“)
 
„Risiko-Locations“ (Venedig, Golden Gate Bridge etc.)
 
Erwartungsdruck (Partnerschaftskonflikte, Sehnsuchtsorte)
Zu den Stressoren, die psychische Störungen triggern (im Sinne einer Erstauslösung/Ersterkrankung) oder zu einem Rezidiv führen (Dekompensation), zählen neben äußeren Rahmenbedingungen wie Klima, fremde Kultur, Sprachbarriere und Reizüberflutung (unter Umständen gezielt gewollt im Rahmen eines Sensation-Seeking-Verhaltens) auch anxiogene und depressiogene Faktoren (Menschenansammlungen, Isolation, Reisegruppendruck). Jetlag kann zu Psychoserezidiven führen (Katz 2011). Untersuchungen an international reisenden Elitesportlern haben auf die Risiken von Langstreckenflügen hingewiesen – sie werden als „Travel Fatigue “ zusammengefasst und beinhalten Angstzustände und Schlafstörungen im Zusammenhang mit trockener Kabinenluft und dem veränderten Luftdruck (Waterhouse et al. 2004).
Als typische Risiken für psychiatrische Dekompensationen auf Reisen werden exotische Abenteuerlust sowie psychische Grenzerfahrungen angegeben. Festgelegte Rollen werden hinter sich gelassen, man stößt in Räume voller Erwartung und Verheißung vor, das Leben, das man bislang geführt hat, kann an der Schwelle zur Fremde aus der Balance geraten. Menschen auf Reisen können ihr Selbst verlieren, Dissoziationen ihre Wahrnehmung verändern. Beispiele hierfür sind die Schriftsteller Goethe, Hölderlin und Rilke (Clausen 2012).
Zu den Risikogruppen zählen abenteuerlustige „Backpacker“ mit seelischen Krisen oder psychisch labile Menschen auf der Suche nach „Selbsterfahrung“ (fernöstlicher Kulturkreis, Drogenkonsum, spirituell-religiöse Praktiken, neurotische Persönlichkeitsstrukturen mit Autonomie-Bindungs-Konflikten; Müller-Ortstein 2012a).
Das Malariamittel Mefloquin verursacht relativ häufig psychische Nebenwirkungen in Form von Albträumen, Angstzuständen, Depressivität bis zu Suizidalität, Unruhe, Verwirrtheit, Halluzinationen und psychotischen Symptomen sowie Amnesie. Die Einnahme ist deshalb bei psychischen Erkrankungen kontraindiziert!

Störungsbilder

Zu den typischen und wichtigen Störungs- und Krankheitsbildern zählen:
  • Angststörungen (Klaustro-/Akrophobien und andere Phobien, Flugangst),
  • affektive Störungen – Depressionen,
  • Anpassungsstörungen – Belastungsstörungen – posttraumatisches Stresssyndrom (PTSD) (berufliche Auslandsaufenthalte – „Kulturschock“, „Rentner-Exil“, Traumatisierung in Krisengebieten),
  • Abhängigkeit Alkohol – Medikamente → Entzugserscheinungen,
  • Psychoserezidiv („Stress“, Absetzen der Medikation),
  • spezifische Störungen („Holiday Blues“; „Airport Wandering“; „Jerusalem-“, „Venedig-“, „Stendhal-Syndrom“).
Typische Formen depressiver Störungen sind reaktive Depressionen im Sinne von Heimweh (sog. Schweizer Krankheit bei Entwicklungshelfern; Fischer 1990). Melancholische Depressionen verschlechtern sich zumeist (Kontrast schöne Landschaft – grau-schwarzes Selbstbild, sog. Kokosnuss-Syndrom). Für Patienten mit bipolaren affektiven Störungen sind Reisen mit Zeitverschiebung sehr kritisch infolge der vorliegenden chronobiologischen Störungsmechanismen. In einer Berliner Pilotstudie haben Psychiater im Jahre 2014 ihre depressiven Patienten bezüglich Reisen befragt. 97 % waren während der Therapie mindestens einmal verreist, bei einer Reisedauer über 10 Tage verschlechterte sich der Zustand bei 50 % (50 % unverändert, 0 % gebessert).
Klassische psychiatrische Notfälle umfassen Delirien, Erregungszustände und akute Suizidalität.

Spezielle Störungen

Mystische Plätze wie die Osterinsel, Stonehenge in England, Mekka oder der Jakobsweg können Derealisationsphänomene, Ich-Störungen und psychotische Reaktionen bis zu suizidalem Verhalten auslösen.
Zu den namentlich benannten Syndromen gehören das Venedig-, das Stendhal- und das Jerusalem-Syndrom.

Stendhal-Syndrom

Beim sog. Stendhal-Syndrom kommt es durch intensive Kunstbetrachtung im Sinne einer kulturellen Reizüberflutung zu psychosomatischen Reaktionen, Panikattacken, Wahrnehmungsstörungen, Verwirrtheitszuständen und paranoiden Psychosen.
Der französische Schriftsteller Marie-Henri Beyle, bekannt unter dem Pseudonym Stendhal, beschrieb 1817, dass er sich beim Betrachten der Fresken in Florenz wie in einem Wahn fühlte und keine klaren Gedanken mehr fassen konnte:
„Ich befand mich bei dem Gedanken in Florenz zu sein und durch die Nähe der großen Männer in einer Art Ekstase… Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen, in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen“.
Wissenschaftlich beschrieben wurde dieses nach Stendhal benannte Syndrom 1979 von der italienischen Psychologin Magherini, Leiterin der psychologischen Abteilung des Florentiner-Krankenhauses Santa Maria Nuova. 1989 veröffentlichte sie 106 typische Krankheitsfälle von Stendhal-Syndrom bei Touristen. Sie unterschied drei Varianten: eine Gruppe mit Störungen des Denkens und der Wahrnehmung mit tiefen Schuldgefühlen, eine zweite Gruppe mit affektiven Störungen (manisch-depressiv in Form von Allmachtsfantasien oder Selbstbild der Bedeutungslosigkeit). Die dritte Gruppe entwickelte Panikattacken mit Ohnmachtsanfällen. Die meisten Touristen waren zwischen 26 und 40 Jahre alt und unverheiratet, mehr als die Hälfte war zuvor in psychologischer Behandlung (Magherini 2003).
Wissenschaftlich wird das Syndrom kontrovers diskutiert, so wird eingewandt, dass verschiedene psychopathologische Symptome und anekdotische Beobachtungen zusammenfließen. In der Kunstwelt und den Medien fand das Syndrom erhebliche Beachtung, so veröffentlichte der niederländische Dramatiker Strijards das Theaterstück „Das Stendhal-Syndrom“. Es wurden auch Erzählungen, Romane und Novellen u. a. unter dem Titel „Die florentinische Krankheit“ veröffentlicht und ein Horrorthriller-Film mit dem Titel „Das Stendhal-Syndrom“ wurde gedreht (Innocenti et al. 2014).

Jerusalem-Syndrom

Mit dem Begriff Jerusalem-Syndrom wird eine akute psychotische Episode bei Pilgern und Touristen im Rahmen eines Jerusalem-Besuchs beschrieben. Hauptsymptome sind die Identifikation mit einer biblischen Figur, das Gefühl, göttliche Kräfte zu besitzen, Größenideen sowie akustische und optische Halluzinationen. Touristen werden offensichtlich von der besonderen Atmosphäre des Heiligen Landes überwältigt, machen Grenzerfahrungen. Es werden drei Syndrom-Typen unterschieden:
  • Typ 1 sind Individuen mit psychotischer Vorerkrankung, von denen sich vier Subtypen unterscheiden lassen, nämlich Individuen,
    • die sich mit biblischen Figuren identifizieren,
    • mit einer (religiösen) Idee,
    • mit magischen Vorstellungen bezüglich Gesundheit/Krankheit und heiligen Stätten sowie
    • mit familiären Problemen.
  • Bei Typ 2 liegen Persönlichkeitsstörungen oder eine Zwangsstörung mit Zwangsgedanken vor, Subtypen sind hier Individuen mit Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einsame Individuen.
  • Zu Typ 3 werden Personen ohne psychiatrische Vorgeschichte gezählt, hierbei werden sieben klinische Stadien von ängstlicher Agitiertheit bis zum Halten verworrener Gebetsreden unterschieden. Die Betroffenen zeigen meist rasche Spontanremission, in 10 Jahren wurden ca. 40 Fälle beschrieben (Jaja Bar-El et al. 2000; Prochowicz und Sobcyk 2011).

Paris-Syndrom

Bei japanischen Touristen wurde das Auftreten eines Paris-Syndroms beschrieben.

Golfkrieg-Syndrom

Nach der Operation „Desert Storm“ im Irakkrieg 1990–1991 entwickelten amerikanische Soldaten ein Störungsbild mit verschiedensten funktionellen Symptomen, dessen Ätiologie trotz umfangreicher wissenschaftlicher Untersuchungen ungeklärt blieb – das Golfkrieg-Syndrom. Auch 10 Jahre nach Ende des Krieges konnten keine objektiven Marker für die körperlichen Symptome eruiert werden, psychologisch wurde am ehesten eine posttraumatische Belastungsstörung angenommen (Auxèmèry 2013).

Venedig-Syndrom, Suizid-Tourismus

Mit einem Suizid-Tourismus wurden neben Venedig auch die Golden Gate Bridge in San Francisco und die Brücken von Las Vegas und New York City (Manhattan) assoziiert (Gross et al. 2007; Wray et al. 2008). Von der italienischen Psychiaterin Magherini wurden gehäuft auftretende Suizidfälle in Venedig beschrieben („ Venedig-Syndrom “) – die Lagunenstadt scheint für Suizidale besonders anziehend als ihr letztes Ziel zu sein.
Historisch ist anzumerken, dass vor mehr als hundert Jahren während oder nach der heroischen Antarktisexpedition eine beträchtliche Zahl der Expeditionsteilnehmer Psychosen oder massive Stressreaktionen entwickelten, mindestens sechs begingen Selbstmord (Guly 2012).

Weitere Störungsbegriffe

Weitere Störungsbegriffe im Zusammenhang mit Reisen sind der Holiday-Blues („Urlaubsdepression“), das Delirium mallorquinum (z. B. entwickeln Rentner auf Mallorca eine Alkoholabhängigkeit) oder das Airport-Wandering (verwirrt in Flughafenhallen herumirrende desorientierte, oftmals psychotische Menschen, auch an Bahnhöfen wie am Bahnhof Zoo in Berlin oder an der Central-Station in New York.

Therapie

Psychiatrische Notfälle wie Delir, Erregungszustände sowie akute Psychosen werden psychopharmakologisch behandelt (Kap. Notfallpsychiatrie); als Substanzen kommen v. a. Lorazepam expidet 1–2 mg und Risperidon 0,5–2 mg zum Einsatz.
Mefloquin wird von der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin und Tourismus nicht zur Notfallselbsttherapie (Stand-by-Indikation) empfohlen.
Basierend auf einer diagnostischen Einordnung mit Abschätzung der Störungs- und Krankheitsursache umfasst die Notfalltherapie folgende Kriseninterventionstechniken :
  • Gespräch: Beziehungsaufbau, Vertrauensbasis,
  • ungestörte Atmosphäre,
  • „Talk down“,
  • Anlass klären,
  • Support – „beruhigende Versicherung“,
  • Ansprechen von Bindungen.
Wichtig ist die Eruierung von Versorgungsmöglichkeiten vor Ort (stationär), je nach Schwergrad der Erkrankung sollte ein Rücktransport in die Heimat erwogen werden.

Reisevorbereitung – Prophylaxe

Über zwei Drittel der Reisenden starten schlagartig in den Urlaub und arbeiten fast bis zur letzten Minute. Gerade bei Fernreisen mit hoher psychophysischer Stressbelastung sollte jedoch ein reisevorbereitender Zeitraum und Übergang vorgesehen werden. Von verschiedenen Institutionen (z. B. der Lufthansa) werden Flugangstseminare angeboten. Verhaltensregeln gegen den Stress durch Jetlag bei Flügen in Richtung Osten und Richtung Westen sollten beherzigt werden.
Wichtige Empfehlungen zur Reisevorbereitung:
  • reisemedizinische Beratung (Essen, Trinken, Kleidung, Schlaf, Hygiene, „Reizkontrolle“), Impfungen
  • Medikation (Kontraindikationen z. B. für Mefloquin, eventuell Depoteinstellung)
  • (Notfall-)Versorgung vor Ort
  • Jetlag-Prophylaxe
  • Cave: mystische Orte
Hinweise zur Psychopharmakotherapie:
  • Einstellung auf „Single daily dose“ – Depotantipsychotikum
  • Dosierungsschema an Zeitzone anpassen
  • Mitnahme im Handgepäck – Attest
  • Cave: Fälschungen im Ausland!
  • Kontraindikationen/Interaktionen (cave Alkohol, auch mit Nahrungsmitteln!) beachten
  • Benzodiazepin nur als „Notfalltablette“
  • Lithium: besondere Hinweise beachten
Bei Patienten, die auf Medikamente eingestellt sind, muss bei Zeitverschiebungen über mehr als zwei Stunden die Medikamenteneinnahme der Tagesverkürzung in Richtung Osten bzw. der Tagesverlängerung in Richtung Westen angepasst werden (neuer Einnahmerhythmus). Dem Patienten sollte ein genauer Einnahmeplan für Hin- und Rückreise mitgegeben werden. Ein Beispiel findet sich in Tab. 2.
Tab. 2
Medikation und Zeitverschiebung (Chronopharmakologie)
Flug nach Westen
Flug nach Osten
Verlängerung um x Stunden; Medikamentendosis einmalig um x/24 erhöhen
Beispieldosis 1 × 100 mg/d; Zeitverschiebung 6 h, 6/24 = ¼, also Erhöhung um 25 mg, → erhöhte Dosis = 125 mg/d
Verringerung um x Stunden; Medikamentendosis um x/24 verringern
Beispieldosis 1 × 100 mg/d, Zeitverschiebung 6 h, 6/24 = ¼, also Reduktion um 25 mg, → verringerte Dosis = 75 mg/d
Zur reisemedizinischen Beratung durch den Hausarzt oder ein Tropeninstitut zählt auch die Thematisierung der Reisethromboembolieprophylaxe. Protektiv ist die Entwicklung einer individuellen „interkulturellen Kompetenz“ (ethnische Toleranz, Wertschätzung anderer Kulturen) sowie die Reflexion von Bewältigungsstrategien. Für Entwicklungshelfer ist z. B. ein besonders großes soziales Engagement Voraussetzung, da sie in Krisengebieten arbeiten, dort Konflikte analysieren und traumatisierte Menschen beraten müssen. Hierzu werden von verschiedenen Institutionen Schulungen und Seminare angeboten (Müller-Ortstein 2012b).
Menschen mit instabilen, selbstunsicheren, ängstlich-depressiven Persönlichkeitszügen ist von stressbeladenen Fernreisen abzuraten, v. a. vom Besuch mystischer Orte.

Nachsorge

Nach der Rückkehr sollte neben somatischen Kontrollen (Weiterführung der Malariaprophylaxe, Hinweise auf Infektionen) auf psychopathologische Symptome geachtet werden und ggf. ist eine Therapie von Traumafolgestörungen durchzuführen. Posttraumatische Belastungsstörungen treten mit einer Latenz von Wochen bis Monaten nach Rückkehr von Auslandsaufenthalten oder bei traumatisierten Migranten, Soldaten, Entwicklungshelfern oder Journalisten auf. Zur Symptomatologie und Klinik siehe Kap. Traumafolgestörungen.
Es sei darauf hingewiesen, dass die erwähnten psychischen Nebenwirkungen von Mefloquin auch noch Monate nach Absetzen andauern können.
Zu speziellen Feldern zählen die Höhenmedizin, die Tauchmedizin, das Wüsten-/Dschungeltrekking und die sog. Wilderness-Medizin. Hier ist die Konsultation entsprechender Spezialisten erforderlich.
Literatur
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Müller-Ortstein H (2012b) Umgang mit psychischen Belastungen, die traumatische Ereignisse mit sich bringen. In: Müller-Ortstein H, Jelinek T (Hrsg) Kursbuch Reisemedizin. Thieme, Stuttgart, S 445–450
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