Zwangsmaßnahmen
Bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen kann es auch bei Minderjährigen zu Zwangsmaßnahmen und freiheitsentziehenden Maßnahmen kommen. Im Umgang mit Zwangsmaßnahmen ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie deutlich sensibler geworden als früher: So zeigt eine Untersuchung zur Klinik Weissenau in den 1950er- und 1960er-Jahren, dass zu dieser Zeit Zwangsmaßnahmen alltäglicher Bestandteil des Stationsalltages waren, obwohl teilweise auch schon damals – wie aus den Pflegehandbüchern ersichtlich – ihre Sinnhaftigkeit angezweifelt worden sei (Afschar-Hamdi und Schepker
2017). Die Einschränkung von Freiheitsrechten, die durch das Grundgesetz gesichert sind (Art. 2, Abs. 2 GG), bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Während bei Erwachsenen Ländergesetze für psychisch Kranke oder Regelungen des
Betreuungsrechts bei freiheitsentziehenden Maßnahmen
oder Zwangsmaßnahmen zur Anwendung kommen, erfolgen diese bei Minderjährigen meist über den § 1631b BGB. Kölch und Vogel (
2016) zeigten, dass der häufigste Grund für das Einleiten eines Verfahrens einer freiheitsentziehenden
Unterbringung seitens der Eltern sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen ein Substanzmissbrauch sowie Symptome einer Sozialverhaltensstörung waren bzw. bei Mädchen Suizidabsichten, also Störungsbilder, bei denen die Krankheitseinsicht eher gering ist. Nach dieser Untersuchung wurden die betreffenden Minderjährigen in fast allen untersuchten Verfahren angehört. Das Recht der gerichtlichen Vertretung der Interessen des Kindes oder Jugendlichen in Form eines Verfahrensbeistandes jedoch ist in knapp ¼ der Fälle (nach neuem Recht,
\( \raisebox{1ex}{$2$}\!\left/ \!\raisebox{-1ex}{$3$}\right. \) nach altem Recht) nicht gewahrt worden, hier wurde von den Richterinnen und Richtern zur Vertretung des kindlichen Willens kein Verfahrensbeistand bestellt. Das Recht, gehört zu werden, aber auch über die Maßnahmen aufgeklärt zu werden, ist bei nichtfreiwilligen Maßnahmen wichtig, um die Persönlichkeitsrechte Minderjähriger zu wahren. Aufgrund einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) in 2013 war die Praxis, nach der auch bei Zwangsmaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen eine richterliche Genehmigung nach § 1631b BGB einzuholen war – und damit die Minderjährigen zumindest noch einmal Gehör durch den Richter fanden –, infrage gestellt. Dieser Entscheid stellte eine gegenläufige Entwicklung zur verstärkten Wahrnehmung der Problematik von Zwangsmaßnahmen auf Seiten der beteiligten Professionen dar, die deutlich sensibler damit umgingen. Der Gesetzgeber hat im Herbst 2017 den § 1631b BGB geändert, der nunmehr auch einen Genehmigungsvorbehalt für Zwangsmaßnahmen vorsieht. Damit sind auch die Rechte von Minderjährigen in Bezug auf die Aufklärung und die Möglichkeit, Gehör bei unabhängigen Personen wie einem Richter oder einem Verfahrensbeistand zu finden, wieder gestärkt worden.
Unabhängig davon, ob ein Patient freiwillig behandelt wird oder unter Zwang, bleiben die Rechte auf Information und Aufklärung auch bei nichtfreiwilligen Behandlungen dennoch bestehen bzw. sind umso wichtiger. Auch die Möglichkeit zur Beschwerde muss für diese Patienten gegeben sein. Insofern sind für diese Kontexte Schutzkonzepte notwendig, die neben den Partizipationsmöglichkeiten der Minderjährigen auch Beschwerdemöglichkeiten inkludieren (Fegert et al.
2018). Über Beschwerdemöglichkeiten muss auch aufgeklärt werden, damit sie genutzt werden können. Nach dem Monitoring des UBSKM ist z. B. der Umsetzungsgrad von Beschwerdesystemen in Kliniken eher gering.
Medikamentöse Therapie
Da Kinder eine besonders vulnerable Patientengruppe sind, bedürfen sie in der Behandlung auch des besonderen Schutzes (Koelch und Fegert
2010). Dies gilt insbesondere auch bei der pharmakologischen Therapie, da in der Phase der Entwicklung des Organismus mögliche Nebenwirkungen und Langzeitfolgen von besonderer Bedeutung sein können.
Minderjährige sollen auch einer Pharmakotherapie zustimmen. Auch wenn je nach Alter die Zustimmung zur Behandlung durch Minderjährige nicht unbedingt rechtlich von gleicher Bedeutung wie ein „informed consent“ bei Erwachsenen ist, so ist der „assent“ der Minderjährigen dennoch nötig – schon ganz praktisch, da gegen den Willen eines Minderjährigen eine Therapie langfristig kaum gelingen wird (Koelch und Fegert
2010; Committee on Bioethics
1995; Tan et al.
2007). Die Aufklärung über relevante Aspekte der
Psychopharmakotherapie ist wichtig: Hier sind insbesondere Aspekte, die den Alltag des Kindes oder Jugendlichen betreffen, relevant.
Rechtlich verbindlich ist das Aufklärungsgespräch, auch wenn schriftliche Informationen – insbesondere seit dem Patientenrechtegesetz – obligat sind (u. a. § 630e BGB). Die Kombination von mündlicher und schriftlicher Aufklärung ist sinnvoll. Dabei sollte immer bei der schriftlichen Aufklärung auch darauf geachtet werden, dass die Aufklärungsbogen für Eltern/Sorgeberechtigte und Minderjährige gut lesbar (z. B. möglichst Vermeidung von Fachausdrücken) und überschaubar lang sind und möglichst ausreichend Zeit bleibt, diese auch lesen und nachfragen zu können. Gerade juristisch korrekte Aufklärungsformulare können eher zu lang sein und aufgrund ihrer Formalisierung genau dem eigentlichen Grund, der Aufklärung, nicht mehr dienen, da sie den Patienten „erschlagen“. Eventuell empfiehlt es sich auch, sog. häufig gestellte Fragen (FAQs) dem Patienten mitzugeben. In der Übersicht sind Themenfelder aufgelistet, die Minderjährigen, aber auch Eltern wichtig sind bezüglich der
Psychopharmakotherapie. Suffiziente Antworten auf diese Fragen können zu einer Entscheidung pro oder contra einer Medikation beitragen. So können z. B. Auswirkungen auf das Gewicht gerade in der
Pubertät für Patienten abschreckend wirken, Veränderungen im Schlafrhythmus oder der Ernährungsgewohnheiten gerade bei jüngeren Kindern Eltern irritieren. Eine sorgfältige vorherige Aufklärung verbessert letztlich die Adherence an die Therapie, da sie sonst aufgrund von Nebenwirkungen oder Beeinträchtigungen im Alltagsleben, die vorher nicht besprochen wurden, eher abgebrochen wird.
Forschung
Im Bereich der Forschung
ist die Aufklärung von besonderer Bedeutung (Tan und Koelch
2008). Gerade da Kinder und Jugendliche, und insbesondere psychisch kranke Kinder und Jugendliche, zu den sog. vulnerablen Populationen gehören, ist die sorgfältige Aufklärung bei Forschungsvorhaben ethisch besonders geboten. Allerdings zeigen gerade hier Studien, dass viele Eltern und Minderjährige oftmals sog. „therapeutic misconceptions“ zeigen: Sie denken, dass innerhalb einer Studie ihr Kind/sie selbst die bestmögliche Therapie erhalten und attribuieren nicht, dass z. B. bei randomisierten Studien der Zufall entscheidet, welchem Studienarm das Kind zugeteilt wird. Insbesondere Aspekte wie die Verblindung in Studien oder die Plazebogabe werden schlecht von Minderjährigen (und Eltern) verstanden (Vitiello et al.
2005a; Koelch et al.
2009). Auch Eltern denken eher, dass ihr Kind die aktive Studienmedikation erhält, wenn sich das Verhalten des Kindes bessert (Vitiello et al.
2005b).
Aus der Forschung zur
Einwilligung bei Studien ist bekannt, dass es mehrere Faktoren gibt, die zur Zustimmung führen können: eine Hoffnung auf Besserung des eigenen Verhaltens, ein absehbarer Nutzen für sich selbst oder die Familie und eine bequemere oder weniger peinlichere Einnahme (z. B. 1-mal tgl. vs. mehrmals). Aber auch Faktoren, die eher jugendtypisch sind, wie, dass es z. B. interessant sein kann, an einer Studie teilzunehmen oder ein neues Arzneimittel auszuprobieren, spielen bei der Entscheidung eine Rolle. Eher zur Ablehnung einer Teilnahme an einer Studie führen Wechsel im Betreuungssetting aufgrund einer Studie (anderer Arzt, andere Praxis), aufwändige und langdauernde Studienuntersuchungen sowie invasive Studienuntersuchungen, v. a.
Blutentnahmen.
Generell müssen Minderjährige als nichteinwilligungsfähige Probanden
nach dem Gesetz gelten (Kölch
2012). Derzeit können Minderjährige zumindest in Forschung, die dem Arzneimittelgesetz (AMG) unterliegt, nicht selbstständig über ihre Teilnahme an klinischen Forschungsvorhaben entscheiden, egal wie alt sie sind. Das 4. Gesetz zur Änderung des AMG
und die EU-Verordnung (EU) 536/2014
führen Veränderungen im AMG ein, v. a. gibt es neue Definitionen bzgl. verschiedener Begriffe (z. B. klinische Prüfung, Studie etc.). Diese Änderungen sind auch bei der Aufklärung zu beachten (Kap. „Studien bei Kindern und Jugendlichen“
). Die Rechte eines Minderjährigen, über ein Forschungsvorhaben, an dem er teilnehmen soll, informiert zu werden und an der Entscheidung über eine Teilnahme mitzuwirken, sind davon unberührt, ob er bereits selbst allein entscheiden kann. Minderjährige können in jedem Fall eine Teilnahme ablehnen, und damit ist im Eigentlichen eine Studienteilnahme, auch wenn die Sorgeberechtigten diese wollten, nicht möglich. Die Prüfärzte wiederum haben die Pflicht, die Eltern/Sorgeberechtigten und Minderjährige gemäß ihrem Entwicklungsstand über die klinische Prüfung aufzuklären. Die
Einwilligung der Sorgeberechtigten und die Zustimmung der Minderjährigen sind einzuholen. Für den Aufklärenden ist ethisch sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass er einen Wissensvorsprung hat gegenüber den Eltern und dem Kind und dass er sich in einem Rollenkonflikt befinden kann: einmal ist er in der Rolle des Forschers, zum anderen in der des fürsorglichen Behandlers. Beide Rollen können Konflikte verursachen, z. B. wenn es um die Rekrutierung bei Studien geht, oder wenn ein Patient die Studienteilnahme vorzeitig beenden möchte.
Bei der
Einwilligung zu Forschungsvorhaben ist zu beachten, dass beide Elternteile (v. a. bei Trennung und gemeinsamem Sorgerecht) das Recht auf Aufklärung haben und einwilligen müssen. Forschung ist kein Bestandteil alltäglicher Gesundheitsfürsorge und keine Angelegenheit des täglichen Lebens. Ab einem gewissen Alter sollte bisher schon das Kind seine Zustimmung
(assent) geben, wobei es hierfür keine feste Altersgrenze gab und gibt. Nach der Neuregelung des AMG durch das 4. Gesetz zur Änderung des AMG wird in § 40b (3) festgelegt, dass ein Minderjähriger, der in der Lage ist, das Wesen, die Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und seinen Willen hiernach auszurichten, ebenfalls einwilligen muss; er soll schriftlich einwilligen (neben den Sorgeberechtigten). Da es keine feste Altersgrenze
dafür gibt, ab wann im Einzelfall ein Minderjähriger diese Kriterien erfüllt, dürfte es in Ethikkommissionen in Bezug auf die Altersgrenze je nach Studie zu durchaus unterschiedlichen Interpretationen kommen. Prüfärzte dürfen eine Studie keinesfalls gegen den Willen eines Minderjährigen durchführen.
Bei Studien oder Forschungsvorhaben, die nicht dem AMG unterliegen, besteht ebenfalls ein Informationsrecht der Eltern über eine Studie. Inwieweit Jugendliche z. B. allein über eine Fragebogenuntersuchung entscheiden können, hängt vom Einzelfall ab. Die Ethikkommissionen können hierzu auch lokal unterschiedliche Auffassungen haben.
Bei Prüfungen, die der arzeimittelrechtlichen Regelung unterliegen, muss der Proband, also auch der Minderjährige, so aufgeklärt werden, dass er Wesen, Bedeutung und Tragweite der Studie und seiner Entscheidung verstehen kann. Daraus abgeleitet, aber auch generell unter ethischen Aspekten, sollte die Aufklärung (nicht nur bei Arzneimittelstudien) über Ziel und Inhalt der Studie, über die geplanten Untersuchungen, über gewünschte Wirkungen der Intervention (Therapie, Medikament etc.) und über mögliche Nebenwirkungen und Risiken der Studienteilnahme sowie über alternative Behandlungsmöglichkeiten aufklären.
Die Probanden müssen über das Recht, die Teilnahme an der Prüfung jederzeit beenden zu können, aufgeklärt werden, und Minderjährige haben einen Anspruch darauf, von einem im Umgang mit Minderjährigen erfahrenen Prüfer aufgeklärt zu werden. Zudem ist dem Probanden eine (allgemein verständliche) Aufklärungsunterlage auszuhändigen.
Mit dem 4. Gesetz zur Änderung des AMG
und der EU-Verordnung (EU) 536/2014
hat sich bzw. wird sich die Rechtslage noch einmal deutlich verändern. So ist im Bereich des AMG dann neu definiert, was eine klinische Studie, eine klinische Prüfung und eine minimal-interventionelle Studie ist (Lippert
2017; Kap. „Studien bei Kindern und Jugendlichen“). Außerdem sind (bzw. werden) im AMG die Regelungen zur
Aufklärung und Einwilligung über die Datenspeicherung umfassend niedergelegt.
Um eine ethisch vertretbare und umfassende Aufklärung für Eltern und Kinder/Jugendlich anzubieten, empfiehlt es sich, zu prüfen, ob die Aufklärung z. B. folgende Elemente und Inhalte enthält (Kölch
2012):
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Inhalt der Studie/Krankheitsbild: Was wird untersucht?
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Zweck der Studie: Weshalb führt man die Studie durch?
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Dauer der Studie
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Art der Studie: Placebo, Randomisierung
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Studienuntersuchungen: Medikamente,
Blutentnahmen, sonstige Untersuchungen (MRT,
EKG etc.)
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Nebenwirkungen der Medikamente/Intervention
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Auswirkungen auf Alltag: Wie lange im Krankenhaus, wie viele Visiten, welche Einschränkungen durch Medikation, Freizeit, Sexualität
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Nutzen/Risiken/Nebenwirkungen: individuell, Gruppe?
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Alternative Behandlungsmöglichkeiten: gibt es sie, wie gut sind sie untersucht?
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Freiwilligkeit: der Minderjährige muss nicht teilnehmen (bei kleineren Kindern z. B. empfiehlt es sich, explizit darauf einzugehen, dass das Kind trotzdem vom Arzt behandelt wird, auch wenn es nicht an der Studie teilnimmt etc.)
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