Schizophrenie und andere psychotische Störungen
Die
Schizophrenie ist eine schwere psychische Störung, die durch Wahnideen,
Halluzinationen, desorganisierte Sprechweise, desorganisiertes oder katatones Verhalten und Negativsymptome (z. B. verminderter emotionaler Ausdruck oder reduzierte Willenskraft) gekennzeichnet ist (American Psychiatric Association
2013). Die Schizophrenie eignet sich besonders als Kandidat für die Frühintervention, weil sie zwar keine häufige, aber dafür eine stark beeinträchtigende psychische Störung ist. Die Lebenszeitprävalenz wird auf 0,2–3,5 % und die jährliche Inzidenz auf 0,01–0,035 % geschätzt. 10–15 % der schizophrenen und anderen psychotischen Störungen manifestieren sich vor dem 18. Lebensjahr und 1–3 % vor dem 13. Lebensjahr, wobei Männer durchschnittlich etwas früher erkranken als Frauen. Negativsymptome und kognitive Störungen (z. B. Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeits-, Sprach- und Gedächtnisleistungen, der Exekutivfunktionen, der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie der sozialen Wahrnehmung) persistieren häufig über die Phase der akuten Psychose hinaus und tragen zu bedeutsamer psychosozialer Beeinträchtigung bei. Dies ist der Hauptgrund, weshalb diese relativ seltene psychische Störung mit vergleichsweise hohen Verlusten an produktiven Lebensjahren verbunden ist. Die Schizophrenie nimmt Rang 3 der psychiatrischen und neurologischen Ursachen aller DALYs bei Erwachsenen in Europa und Rang 6 weltweit ein. Die jährlichen Gesamtkosten für psychotische Störungen im Jahr 2010 in Europa betrugen 93,9 Mrd. Euro und wurden nur von den Kosten für
affektive Störungen und
Demenzen übertroffen. Darüber hinaus ist der Leidensdruck der Betroffenen infolge gesellschaftlicher Stigmatisierung und Diskriminierung enorm (Klosterkötter und Müller
2017; Schultze-Lutter et al.
2015).
In 70–100 % der Fälle geht der Erstmanifestation einer psychotischen Störung eine prodromale Phase voraus, die zwischen 5–6 Jahren dauert. Selbst in hoch entwickelten Gesundheitssystemen erfolgt adäquate Behandlung durchschnittlich erst 1 Jahr nach der Erstmanifestation der Psychose. Die Dauer der unbehandelten Psychose (Duration of Untreated Psychosis, DUP) ist mit einem schlechteren Behandlungsergebnis assoziiert (Klosterkötter und Maier
2017). Hier setzt die Frühintervention der
Schizophrenie und anderer psychotischer Störungen an mit dem Ziel der Früherkennung und -behandlung der 1) prodromalen Phase, die durch das probabilistische Konzept des klinischen Hochrisikostadiums (Clinical High Risk State for Psychosis, CHR-P) ersetzt wurde, und 2) der psychotischen Erstmanifestation (First Episode Psychosis, FEP).
Das klinische Hochrisikostadium
umfasst die präpsychotische Phase von Auftreten erster prodromaler Symptome bis hin zum Vollbild der psychotischen Störung. Gegenwärtig gibt es zwei sich ergänzende Kriteriensätze zu dessen Charakterisierung; die Basissymptom
e (BS) und die Ultrahochrisiko(UHR)-Kriterien
. Die BS sind von den Betroffenen selbst als Defizit wahrgenommene, kognitive Beeinträchtigungen der Denk-, Sprach- und Wahrnehmungsprozesse, die sich phänomenologisch-qualitativ von psychotischen Symptomen unterscheiden (Klosterkötter und Müller
2017). Die
UHR-Kriterien umfassen die abgeschwächten positiven Symptome (Attenuated Positive Symptoms, APS), die flüchtigen positiven Symptome (Brief Limited Intermittend Psychotic Symptoms, BLIPS) sowie ein genetisches Psychoserisiko (definiert als Angehöriger 1. Grades mit einer
Schizophrenie/schizoaffektiven Störung und/oder das Vorliegen einer schizotypen Persönlichkeitsstörung beim Indexpatienten) in Kombination mit einem kürzlich eingetretenen Funktionsverlust. Im Unterschied zu den BS unterschiedenen sich die UHR-Kriterien nur quantitativ-graduell von psychotischen Symptomen, die die Kriterien für eine psychotische Störung gemäß der aktuellen psychiatrischen Klassifikationssysteme erfüllen (Yung und Nelson
2013). Während die BS bereits früh in der Psychoseentwicklung auftreten, beschreiben die APS und BLIPS Auffälligkeiten, die sich erst später im Verlauf, kurz vor der Erstmanifestation der Psychose, zeigen (Fusar-Poli et al.
2013b). Obwohl das klinische Hochrisikostadium heterogen in Hinblick auf die longitudinalen Diagnosen ist, ist es deutlich stärker mit der Schizophrenie und mit Schizophrenie-Spektrum-Störungen (Übergangsrate 73 %) als mit
affektiven Psychosen (Übergangsrate 11 %) assoziiert (Fusar-Poli et al.
2013a). In der Meta-Analyse von Fusar-Poli et al. (
2012), die 27 Studien und insgesamt 2500 Personen im klinischen Hochrisikostadium einschloss, betrug das Risiko, das Vollbild einer psychotischen Störung zu entwickeln (Übergangsrisiko) 18 % nach 6 Monaten, 22 % nach 1 Jahr, 29 % nach 2 Jahren und 36 % nach 3 Jahren. Es gibt Hinweise dafür, dass die Übergangsraten in den letzten Jahren abgenommen haben, was als positive Folge des verbesserten Zugangs und Behandlungsangebots für Hochrisikopersonen durch die Eröffnung und Bekanntmachung von spezialisierten Zentren zur Früherkennung und -behandlung von Psychosen interpretiert wird (Klosterkötter und Maier
2017). Schultze-Lutter et al. (
2015) fanden in einer kürzlich erschienen Meta-Analyse über 42 Stichproben und insgesamt 4000 Hochrisikopersonen einen signifikanten Alterseffekt bei den Übergangsraten mit geringeren Raten für Kinder und jüngere Jugendliche. Die Autoren schlussfolgerten, dass die Kriterien zur Bestimmung des klinischen Hochrisikostadiums bei älteren Jugendlichen wie bei Erwachsenen angewandt werden sollten, jedoch bei Kindern und jüngeren Jugendlichen Zurückhaltung geboten ist.
Aktuelle Richtlinien zur Behandlung von Personen im Hochrisikostadium für Psychosen empfehlen ein gestuftes Vorgehen unter Berücksichtigung des jeweiligen Nutzens und möglicher Risiken der Behandlungsoptionen (McGorry und Goldstone
2016; Schmidt et al.
2015). Zunächst sollten psychologische Maßnahmen (insbesondere die
kognitive Verhaltenstherapie, KVT) angeboten werden. Erst wenn durch diese Maßnahmen keine befriedigende Reduktion der Beschwerden und Verbesserung der psychosozialen Defizite erreicht werden kann, sollten niedrigdosierte
Antipsychotika der 2. Generation zum Einsatz kommen, insbesondere bei Personen, die sich im späteren Stadium des klinischen Hochrisikostadiums, das durch APS oder BLIPS gekennzeichnet ist, befinden. Diese Empfehlungen gelten in gesicherter Form für Erwachsene. Zur Anwendung psychologischer und pharmakologischer Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen im klinischen Hochrisikostadium für Psychosen müssen erst noch bessere Beurteilungsgrundlagen geschaffen werden (Schmidt et al.
2015). Empirische Befunde sprechen dafür, dass die Frühintervention durch psychologische und/oder pharmakologische Behandlung den Psychoseausbruch bei Hochrisikopersonen verhindern oder zumindest verzögern kann (Schmidt et al.
2015). In der jüngsten Meta-Analyse von Schmidt et al. (
2015) zeigte sich infolge der Frühintervention eine signifikante Reduktion des Übergangsrisikos in der Experimentalgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe um 64 %, 56 % und 59 % nach 6, 12 und 18 Monaten, jedoch keine Verbesserung des psychosozialen Funktionsniveaus. Dabei unterschieden sich psychologische und pharmakologische Maßnahmen nicht in ihrer Wirksamkeit.
Zeigt sich bei einer Person erstmals das Vollbild einer psychotischen Störung, so werden zur Behandlung
Antipsychotika der 2. Generation und psychosoziale Interventionen (KVT, Familientherapie, schulische/berufliche Rehabilitationsmaßnahmen) empfohlen (Early Psychosis Guidelines Writing Group and EPPIC National Support Program
2016; NICE
2014). Ziel der Behandlung ist dabei die Verbesserung der sozialen, schulischen, und beruflichen Funktionsfähigkeit – die durch medikamentöse Behandlung alleine oftmals nicht erreicht werden kann – ebenso wie die bloße symptomatische Remission und die Verhinderung von Rückfällen, die sich am häufigsten in den ersten drei bis fünf Jahren nach der Diagnosestellung ereignen (McGorry
2015; McGorry und Goldstone
2016). In den letzten 20–30 Jahren wurden weltweit unter der Bezeichnung „Early Intervention Services“ Zentren
, die auf die Früherkennung- und -behandlung von jungen Menschen mit einer Erstpsychose spezialisiert sind, aufgebaut. Die meisten dieser Zentren schließen heute auch die Behandlung von Patient*innen, die sich im Hochrisikostadium für Psychosen befinden, mit ein (Lambert et al.
2013; McGorry
2015). Diese Zentren zeichnen sich nebst den oben beschriebenen evidenzbasierten Methoden zur psychologischen und pharmakologischen Behandlung der akuten Psychose sowie der Verbesserung des psychosozialen Funktionsniveaus durch spezifische Service-Komponenten aus (Addington et al.
2013; Karow et al.
2013; McGorry
2015). Dazu zählen:
-
Aufklärungs-, Entstigmatisierungs- und Fortbildungsprogramme für die Bevölkerung und Fachpersonen (z. B. Lehrer, Hausärzte) mit dem Ziel der Verbesserung der Service-Inanspruchnahme und Verkürzung der Behandlungsverzögerung;
-
Netzwerkbildung zur engen Zusammenarbeit mit Institutionen und Fachpersonen (z. B. bestehende Präventionsprogramme, Beratungsstellen, Jugendhilfe, schulpsychologische Dienste, Schulen, Hausärzt*innen, Kinderärzt*innen, niedergelassene Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiater*innen,
psychosomatische Medizin) mit dem Ziel definierter und vereinfachter Zugangsmöglichkeiten;
-
gemeindenahe Versorgung nach dem Prinzip „ambulant vor (teil-)stationär“ durch interdisziplinäre Teams und einen individuellen Case-Manager (eine stationäre Behandlung erfolgt nach definierten Aufnahmekriterien und so kurz wie möglich);
-
ein 24 Stunden verfügbares mobiles Triage-Team, das, wenn nötig, Früherkennung,
Krisenintervention und Assertive Community Treatment (ACT) zuhause anbietet;
-
enge Zusammenarbeit mit und spezifische Einzel- und Gruppenangebote für Familien und Freund*innen von Betroffenen;
-
Berücksichtigung spezifischer Bedürfnisse von Jugendlichen in der Ausgestaltung des Service (z. B. Hilfesuche über moderne Medien, jugendgerechte Informationen), Einbezug von Jugendlichen als Berater für den Service, Peer-Beratung.
Eine kürzlich erschienene Meta-Analyse, die zehn randomisiert-kontrollierte Studien umfasste, bestätigte frühere positive Befunde bezüglich der Überlegenheit umfassender spezialisierter Frühbehandlung gegenüber der Standardbehandlung von Psychosen. Dies zeigte sich in einer Reduktion der Symptome, des Hospitalisationsrisikos, der Abbruchraten und der Dauer der stationären Behandlung sowie in einer Verbesserung des globalen Funktionsniveaus, der Fähigkeit, einer Ausbildung oder einem Beruf nachzugehen, und der
Lebensqualität (Correll et al.
2018). Weitere nachgewiesene Effekte spezialisierter Frühintervention für Psychosen umfassen die Reduktion der Dauer der unbehandelten Störung, der Anstieg der Inanspruchnahme von Behandlung durch Betroffene und deren Angehörigen, die Abnahme komorbider Störungen sowie die Reduktion der Gesamtkosten, die sich aus einer Verschiebung weg von stationärer hin zur ambulanten Behandlung, der Reduktion von Notfallbehandlungen, von rehabilitativen Maßnahmen und der falschen Service-Inanspruchnahme sowie der Abnahme der indirekten Kosten infolge von Produktivitätsausfall ergeben (Fusar-Poli et al.
2017; Karow et al.
2013).
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die
Borderline-Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch interpersonelle Instabilität, Störung des Selbstbildes/der Identität, affektive Dysregulation und Impulsivität. Sie verursacht hohen Leidensdruck bei den Betroffenen und ihren Angehörigen (Bailey und Grenyer
2013), wird in der Mehrheit der Fälle von komorbiden
psychischen Störungen und/oder somatischen Erkrankungen begleitet und führt bei ca. 8–10 % der Betroffenen zum Tod durch
Suizid (Chanen und McCutcheon
2013; Gunderson et al.
2018). Die Prävalenzraten für die Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Allgemeinbevölkerung sind relativ niedrig (1,5–1,6 % 2- bis 5-Jahresprävalenz bzw. 5,5–5,9 % Lebenszeitprävalenz). In klinischen Populationen sind die Prävalenzraten um ein Vielfaches höher: Patient*innen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung machen 15–28 % der Patient*innen im ambulanten psychiatrischen Setting, 40 % der Patient*innen im stationären psychiatrischen Setting, 6 % der Patient*innen in der hausärztlichen Versorgung und 10–15 % der Patient*innen, die eine
Notaufnahme eines Krankenhauses aufsuchen, aus. Typischerweise tritt die Borderline-Persönlichkeitsstörung erstmals in der Adoleszenz auf, erreicht ihren Höhepunkt im frühen Erwachsenenalter und nimmt über den weiteren Lebenslauf ab (Kaess et al.
2014). Trotz Remission der Symptome können die sozialen und beruflichen Funktionsdefizite über Jahre hinweg persistieren (Skodol et al.
2005). Entsprechend verursacht die Borderline-Persönlichkeitsstörung hohe volkswirtschaftliche Kosten, wobei die indirekten Kosten durch Produktivitätsausfall 4-mal höher sind als die direkten Kosten, die zu einem größeren Anteil auf Notfallbehandlungen als auf ambulante Therapien zurückzuführen sind (Meuldijk et al.
2017).
Mehrere Gründe sprechen für die Frühintervention bei der
Borderline-Persönlichkeitsstörung (Chanen und McCutcheon
2013): Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung suchen von sich aus professionelle Hilfe und machen einen Großteil der Patient*innen in der
psychiatrischen Versorgung aus. Sie haben ein hohes Risiko für Komorbidität, Morbidität sowie schwere und persistierende psychosoziale Funktionseinbußen. Die Störung verursacht viel Leid bei den Betroffenen und ihren Angehörigen sowie hohe Kosten für die Gesellschaft. Entgegen anhaltender Skepsis belegen die Forschungsresultate der letzten 20 Jahre, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Adoleszenz der Borderline-Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter hinsichtlich der Phänomenologie, Struktur, Häufigkeit und Stabilität ähnlich ist und in dieser Lebensphase genauso reliabel diagnostizieren werden kann (Chanen
2015; Chanen und McCutcheon
2013; Kaess et al.
2014; Sharp und Fonagy
2015). In der Folge hat die Diagnose im Jugendalter Eingang in nationale Behandlungsleitlinien für die Borderline-Persönlichkeitsstörung und aktuelle psychiatrische Klassifikationssysteme gefunden (Chanen
2015; Kaess et al.
2014). Weiterhin gibt es wirksame, psychotherapeutische Behandlungsmethoden für Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Chanen et al.
2020). Schließlich gelten Persönlichkeitseigenschaften in frühen Lebensphasen als flexibler und somit durch Therapie leichter veränderbar als in späteren Lebensphasen. Das vielleicht wichtigste Argument ist jedoch, dass die Frühintervention das Potenzial hat, psychosoziale Funktionseinschränkungen frühzeitig zu reduzieren oder gar zu verhindern und dadurch die Lebensläufe der betroffenen jungen Menschen maßgeblich zu verbessern.
Die Frühintervention der
Borderline-Persönlichkeitsstörung richtet sich 1) an Personen mit Vorläufer- oder subklinischen Symptomen, und 2) an Personen, die erstmals das Vollbild der Störung zeigen. Zu den Vorläufern der Borderline-Persönlichkeitsstörung zählen Temperamentseigenschaften und psychische Auffälligkeiten in der Kindheit und Jugend, die dem Borderline-Phänotyp ähneln und die Entwicklung der Borderline-Persönlichkeitsstörung im weiteren Verlauf ankünden. Dazu zählen die
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, oppositionelles und dissoziatives Verhalten, Substanzmissbrauch, Depressionen und nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten; insbesondere dann, wenn solche internalisierenden und externalisierenden Störungen gleichzeitig vorliegen. Subklinische Borderline-Symptome, also das Vorliegen von 1–4 Symptomen gemäß den DSM-5-Kriterien (der Cut-off für die Diagnosevergabe liegt bei 5 Symptomen), haben sich bisher als der beste Prädiktor für die Entwicklung der Borderline-Persönlichkeitsstörung erwiesen, und stellen deshalb aktuell den Hauptansatzpunkt für die indizierte Prävention dar (Chanen und Kaess
2012; Chanen und McCutcheon
2013; Sharp und Fonagy
2015). Wichtig ist die Differenzierung, dass die Behandlung von Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht mit Frühintervention gleichzusetzen ist. Es handelt sich nur dann um Frühintervention, wenn die Betroffenen subklinische oder Risikosymptome oder eine Erstmanifestation aufweisen, unabhängig ihres Alters oder Entwicklungsstadiums. Ausschlaggebend ist das Krankheitsstadium (Chanen
2015).
Der Schwerpunkt der Frühintervention der
Borderline-Persönlichkeitsstörung liegt auf der ambulanten
Psychotherapie. Mehrere Therapieformen für Erwachsene mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wurden für die Anwendung bei Jugendlichen mit Symptomen oder einer Erstmanifestation der Störung angepasst. Zu den an jugendlichen
Stichproben evaluierten Therapieformen zählen die kognitiv-analytische Therapie (Cognitive Analytic Therapy, CAT; Chanen et al.
2008), das Emotionsregulationstraining (Emotion Regulation Training, ERT; Schuppert et al.
2009), die mentalisierungsbasierte Therapie (Mentalization-Based Treatment, MBT; Rossouw und Fonagy
2012) sowie die
dialektisch-behaviorale Therapie für Adoleszente (DBT-A; von Auer und Bohus
2017). Die Ergebnisse randomisiert-kontrollierter Studien sprechen für die Überlegenheit spezialisierter Psychotherapie gegenüber der Standardbehandlung hinsichtlich der Reduktion der Borderline-Symptomatik (z. B. von nicht-suizidalem selbstverletzendem oder suizidalem Verhalten), wobei auch Nullbefunde berichtet wurden. Die Effekte scheinen wenig stabil über die Zeit hinweg und die Wirksamkeit hinsichtlich einer Verbesserung der psychosozialen Funktionsfähigkeit ist fraglich (Wong et al.
2019). Wirksamkeitsvergleichsstudien sowie Studien zur differenziellen Indikation sind weitgehend ausstehend (für eine Ausnahme siehe Zimmermann et al.
2018).
Psychopharmaka sollten im Rahmen der Frühintervention der Borderline-Persönlichkeitsstörung zurückhaltend eingesetzt werden, da es kaum Wirksamkeitsuntersuchungen gibt. Wenn Psychopharmaka eingesetzt werden, dann sollte dies primär zur Behandlung komorbider
psychischer Störungen unter Berücksichtigung der entsprechenden Behandlungsleitlinien erfolgen (Fonagy et al.
2015; Kaess et al.
2014).
Nach dem Vorbild der Früherkennungs- und -behandlungszentren für Psychosen wurden in den letzten Jahren in Australien und einigen Ländern Europas spezialisierte Behandlungszentren für die Früherkennung und -behandlung der
Borderline-Persönlichkeitsstörung ins Leben gerufen. Das erste dieser Zentren – Helping Young People Early (HYPE)
– entstand 1998 in Melbourne, Australien, und bietet ein umfassendes Früherkennungs- und -behandlungsprogramm für junge Menschen im Alter zwischen 15–25 Jahren, die 3 oder mehr Borderline-Persönlichkeitsstörung-Kriterien gemäß
DSM-5 erfüllen. Ähnliche Zentren wurden seither in Holland (Schuppert et al.
2009), Deutschland (Kaess et al.
2017) und der Schweiz (Reichl und Kaess
2019) gegründet. Diese Zentren unterscheiden sich hauptsächlich darin, welche der oben genannten
Psychotherapien sie anbieten. Zusätzlich zur Psychotherapie beinhalten diese Zentren wichtige Service-Komponenten, die sich wie folgt zusammenfassen lassen (Chanen et al.
2009; Kaess et al.
2014):
-
gründliche diagnostische Abklärung (inklusive der Persönlichkeitspsychopathologie);
-
niederschwelliges Angebot, d. h. liberale Einschlusskriterien ohne Ausschluss von Patient*innen mit komorbiden Störungen oder erhöhten Risiken (z. B. chronische
Suizidalität oder Substanzmissbrauch);
-
dimensionaler Ansatz, d. h. sowohl Patient*innen mit subklinischen Symptomen als auch mit dem Vollbild der Störung werden behandelt;
-
flexibles Behandlungsangebot in Bezug auf Zeit und Ort (z. B. aufsuchende Behandlung Zuhause);
-
Psychotherapie in Kombination mit Case-Management und allgemeiner psychiatrischer Behandlung (z. B. Pharmakotherapie komorbider psychiatrischer Störungen);
-
aktiver Einbezug von Angehörigen, Freund*innen, Lehrpersonen und anderen wichtigen Bezugspersonen (z. B.
Psychoedukation, Familieninterventionen);
-
ausschließlich zeitbegrenzte und zielorientierte stationäre Behandlung zur
Krisenintervention;
-
Supervision der Mitarbeitenden und Qualitätssicherungsprogramme;
-
Zugang zu Programmen, die dem Erhalt oder der Wiederherstellung der schulischen, beruflichen und sozialen Funktionsfähigkeit dienen.
Die Anwendung der Frühinterventionsprogrammatik auf die
Borderline-Persönlichkeitsstörung hat zu einer wesentlichen Verbesserung der psychiatrischen Behandlungsangebote für junge Menschen mit einer beginnenden Borderline-Persönlichkeitsstörung beigetragen. Diese Behandlungsangebote vermögen klinisch bedeutsame Veränderungen bei den Betroffenen herbeizuführen (Chanen
2015). Im Gegensatz zur Frühintervention der
Schizophrenie mangelt es der Frühintervention der Borderline-Persönlichkeitsstörung jedoch an einer klaren Definition und systematischen Erforschung von Vorläufer- und subklinischen Symptomen und Behandlungszielen, an denen Interventionen gemessen werden könnten.