Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
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Verfasst von:
Georg Romer und Birgit Möller-Kallista
Publiziert am: 23.09.2022

Geschlechtsidentität, Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter

Ausgehend von einer skizzierenden Darstellung des aktuellen Paradigmenwechsels in der medizinisch-psychologischen Fachwelt hin zu einem nicht pathologisierenden Verständnis von geschlechtsnonkonformen Lebensformen und eingebettet in die sich daraus ergebenden medizinethischen Implikationen wird der aktuelle Wissensstand zur Entwicklung der Geschlechtsidentität und ihrer Varianten dargestellt. Die große phänomenologische Bandbreite und Prävalenz der Geschlechtsinkongruenz im Kindes- und Jugendalter, die sowohl normvariante als auch psychopathologische Auffälligkeiten umfasst, wird im Entwicklungsverlauf dargestellt, ebenso wie die diagnostischen Kriterien einer Geschlechtsdysphorie sowie der Wissensstand zur Ätiologie der persistierenden Transidentität und ihrer Prädiktoren in der Kindheit. Das dezidierte Vorgehen bei der Behandlung geschlechtsdysphorischer Kinder und Jugendlicher nebst Begleitung und Unterstützung ihrer sozialen Transition wird auf der Basis aktueller fachlicher Standards ausgeführt.

Einleitung

Paradigmenwechsel im Umgang mit nonkonformer Geschlechtlichkeit

In der medizinischen und psychologischen Fachwelt hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel im Verständnis nonkonformer geschlechtlicher Lebensformen im Sinne derer weitestgehenden Entpathologisierung sowie einer Abkehr von der Dichotomisierung binärer Geschlechtlichkeit vollzogen. Die damit einhergehende Entwicklung des Diskurses zu Transidentität weist sowohl auf wissenschaftlicher wie auf gesellschaftspolitischer Ebene deutliche Parallelen auf zum einige Jahrzehnte vorher erfolgten Wandel im Umgang mit der Homosexualität, die erst 1973 von der American Psychiatric Association aus dem Katalog psychiatrischer Diagnosen gestrichen wurde.

Entpathologisierung und Individualisierung der Behandlung

Der im Juni 2018 publizierte Entwurf der 11. Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) führt die in der ICD-10 noch gebräuchlichen Begriffe „Transsexualismus“ und „Störung der Geschlechtsidentität“ nicht mehr als psychische Störungen, sondern definiert mit dem nicht pathologisierenden Begriff der „Geschlechtsinkongruenz“ nunmehr eine „Bedingung mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ (condition related to sexual health, ICD-11 2018). An empirischer Evidenz bahnbrechend waren für diese Entwicklung u. a. niederländische Follow-up-Studien zu transidenten Jugendlichen, die im Laufe ihrer pubertären Reifeentwicklung kontrollierten Zugang zu pubertätsunterdrückender und geschlechtsangleichender Hormonbehandlung erhielten. Es konnte gezeigt werden, dass diese Jugendlichen sich als Jungerwachsene im Hinblick auf psychische Auffälligkeiten nicht vom Durchschnitt der Normbevölkerung unterschieden (Cohen-Kettenis und van Goozen 1997; Cohen-Kettenis et al. 2008). Ausgehend von der jahrzehntelangen klinischen Beobachtung hoher Raten psychopathologischer Auffälligkeiten bei transsexuellen Erwachsenen (u. a. Depression, Selbstverletzung, Suizidalität, Persönlichkeitsstörungen) werden diese seither überwiegend als sekundäre reaktive Phänomene auf die leidvolle Erfahrung der Betroffenen verstanden, über Jahre in einem als „falsch“ empfundenen Körper zu leben. Zudem wird – ebenfalls analog zur Homosexualität – die Nichtbeeinflussbarkeit transidenter Entwicklungen durch therapeutische oder pädagogische Maßnahmen akzeptiert. Entsprechend gelten in aktuellen internationalen Leitlinien sog. reparative Interventionsansätze, die darauf abzielen, eine sich transident definierende Person mit ihrem biologischen Geburtsgeschlecht zu „versöhnen“, grundsätzlich als unethisch und obsolet (Coleman et al. 2012).
Die im Oktober 2018 veröffentlichte deutschsprachige S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“ für das Erwachsenenalter (AWMF 2018) hat ebenfalls die konsequente Entpathologisierung der Transidentität in ihre Empfehlungen zu Diagnostik, Beratung und Behandlung integriert.

Abkehr von ausschließlich binärem Verständnis von Geschlechtlichkeit

Eine zeitgemäße Auffassung von Geschlecht geht über eine ausschließlich binäre Zweiteilung hinaus. Die persönliche Identitätsentwicklung wird als durchlässig für geschlechtliche Zwischenstufen betrachtet. Demzufolge sind Männlichkeit und Weiblichkeit nicht scharf voneinander abgrenzbar, sondern auf einem Kontinuum angesiedelt (Quindeau 2014). Demnach kann man alle Menschen als einzigartige Mischungen von Mann und Frau bezeichnen, wobei sich ein Kontinuum zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit phänomenologisch als Raum unzähliger Vielfalten beschreiben lässt (Hirschfeld 2015).

Sensitivität für diskriminierende Erfahrungen von Trans*-Personen im Gesundheitswesen

Ungeachtet einer wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz von Geschlechtervielfalt berichten Kinder und Jugendliche mit geschlechtsnonkonformen Verhalten aus ihrem Alltag nach wie vor von teils erheblicher Stigmatisierung und Diskriminierung (Grossmann und D’Augelli 2006; Riley et al. 2011; Collier et al. 2013). Auch im Gesundheitssystem sind vielfältige Diskriminierungserfahrungen Behandlungssuchender durch Studien belegt (Bradford et al. 2013; Shires und Jaffee 2015; Strauss et al. 2017). Befragte transidente Jugendliche beklagten u. a. einen Mangel an kompetenten Beratungsstellen, unzureichendes trans*-spezifisches Wissen auf Seiten professioneller Helfer, die Missachtung des gewünschten Pronomens, eine pathologisierende und teilweise respektlose Haltung, das Abhängigkeitsverhältnis in Gutachten-Angelegenheiten sowie das Gefühl, beweisen zu müssen, „trans* genug“ zu sein (Sauer und Meyer 2016; Strauss et al. 2017; Grossmann und D’Augelli 2006).
Die EU fordert auf der Basis einer eigenen groß angelegten Studie zu Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitswesen, dass das Personal im Gesundheitswesen für einen diskriminierungsfreien Umgang hinreichend zu schulen ist, und dass Bedürfnisse von Trans*-Personen bei der Konzeption von gesundheitspolitischen Maßnahmen angemessen zu berücksichtigen sind (EU Agency for Fundamental Rights 2014). Viele Professionelle im Gesundheitswesen sind im Umgang mit geschlechtsnonkonformen Kindern und Jugendlichen nach wie vor unsicher, was zu den berichteten diskriminierenden Erfahrungen, einem unzureichenden Eingehen auf die spezifischen Belange und Bedürfnisse oder gar einer Vorenthaltung entsprechender Angebote beiträgt.

Begriffe und Definitionen

Der Begriff Geschlecht umfasst alle mit ihm verbundenen kulturell und historisch geprägten Erwartungen und Rollen, die einem Individuum zugewiesen werden und in der Regel an bestimmte körperliche Merkmale geknüpft sind. Das englische Wort „sex“ bezeichnet hingegen das Körpergeschlecht, bezieht sich also vorwiegend auf biologische Merkmale. Der englische Ausdruck „gender“ umfasst vorwiegend die soziale Dimension von Geschlecht. Menschen, die ihr Geschlecht konträr zu dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht erleben, werden nach klassisch medizinischer Terminologie als transsexuell bezeichnet. Der als überholt geltende Begriff des Transsexualismus implizierte hierbei ein psychiatrisch-diagnostisches Konzept einer gestörten Identitätsentwicklung. Um den direkten Bezug zu Sexualität im Begriff Transsexualität zu vermeiden, betont der neuere Begriff Transidentität, dass es sich bei der damit verbundenen empfundenen Geschlechtszugehörigkeit um eine im Kern der Persönlichkeit angelegte Selbstzuschreibung handelt. Mit dem nichtmedizinischen Begriff Transgender wird intendiert, „eine Vielzahl geschlechtlicher Identitäten und Ausdrucksweisen jenseits der Zweigeschlechternorm zu beschreiben, ohne auf medizinisch-pathologisierendes Vokabular“ (Güldenring und Sauer 2017, S. 233) zurückzugreifen. Non-binär ist eine Bezeichnung für Menschen, die sich in keiner der aktuellen geschlechtsbezogenen Definitionen wiederfinden – sich also weder als weiblich oder männlich noch transident, transgender oder Ähnliches empfinden. Non-binär meint also nicht, etwas zu sein, sondern etwas nicht zu sein (Güldenring und Sauer 2017).
Die Geschlechtsidentität ist die subjektive Gewissheit, weiblich, männlich, trans* oder zwischen den Geschlechtern zu sein. Die sexuelle Orientierung bezeichnet die Präferenz im Erleben eines Menschen im Hinblick auf das Geschlecht der von ihm begehrten Liebes- und Sexualpartner (hetero-, homo-, bi-, pan-, asexuell etc.). Als Geschlechtsrolle werden Verhaltensweisen bezeichnet, die in einer Kultur für ein bestimmtes Geschlecht (im Sinne von Gender) traditionell erwartet und vorausgesetzt werden und über die ein Individuum seine Geschlechtsidentität zum Ausdruck bringen kann. Unter Geschlechtsrollenverhalten fasst man äußerlich wahrnehmbare Zeichen eines Menschen (seine Aussagen, Handlungen, Gesten etc.) zusammen, mit denen dieser seine Geschlechtszugehörigkeit ausdrückt (Güldenring und Sauer 2017). Mit dem Begriff der Geschlechtsinkongruenz, der in der Neufassung der ICD-11 die veralteten Begriffe Transsexualismus und Geschlechtsidentitätsstörung ersetzt, wird die subjektive Diskrepanz zwischen der empfundenen Geschlechtszugehörigkeit und den körperlichen Geschlechtsmerkmalen bezeichnet (Klein et al. 2015). Der im DSM-5 als Diagnose neu eingeführte Begriff Geschlechtsdysphorie bezeichnet das subjektive Leiden an der Inkongruenz zwischen den körperlichen Geschlechtsmerkmalen und der Geschlechtsidentität (American Psychiatric Association 2013).
Dieses subjektive Leiden begründet den Bedarf an medizinisch-psychologischer Unterstützung, ohne dass hierbei die zugrunde liegende Geschlechtsinkongruenz als krankheitswertig eingestuft wird.

Medizinethische Implikationen

Wenn Behandlungssuchende mit Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie (im Folgenden GI/GD) minderjährig sind, werden spezifische Anforderungen an die Fachkunde, Erfahrung und ethische Urteilsfähigkeit der Behandelnden gestellt. Ein grundsätzliches Dilemma ist darin zu sehen, dass, wenn vor Ablauf der pubertären Reifeentwicklung der Wunsch nach pubertätsaufhaltender oder geschlechtsangleichender Hormonbehandlung (Abschn. 5.4) besteht, der partiellen oder vollständigen Irreversibilität sowohl einer solchen Behandlung als auch einer Nichtbehandlung mit allen daraus resultierenden Langzeitfolgen Rechnung zu tragen ist. So ist aus Studien mit Verlaufskohorten ausgewiesener Behandlungszentren für geschlechtsdysphorische Kinder- und Jugendliche bekannt, dass ein Großteil von Kindern, die vor Beginn ihrer Pubertät das Bild einer Geschlechtsinkongruenz zeigen, im Laufe ihrer jugendlichen Entwicklung mit ihrem biologischen Geburtsgeschlecht ihren Frieden finden, wohingegen nur bei einem eher geringeren Anteil im Laufe der adoleszenten Reifeentwicklung eine Transidentität persistierte (s. u. persistierende vs. nicht persistierende Entwicklungsverläufe). Dies mahnt zu einer vorsichtigen Zurückhaltung vor einem sich möglicherweise später als vorschnell indiziert herausstellenden Eingriff in die biologische Reifeentwicklung. Andererseits ist bei einer persistierend anhaltenden Geschlechtsdysphorie im Jugendalter und bestehendem Wunsch nach einer Hormonbehandlung besonders dann eine günstige Langzeitprognose im Hinblick auf psychische Gesundheit und Lebensqualität zu erwarten, wenn soziale Transition und Hormonbehandlung frühzeitig erfolgen kann. Dadurch können irreversible Körperveränderungen vermieden werden und der Jugendliche kann sich weitgehend in der gewünschten Geschlechtsrolle entwickeln. Für transidente Jugendliche, die einschließlich des Zugangs zu qualifizierter somatomedizinischer Behandlung den Großteil ihrer Adoleszenzentwicklung mit zufriedenstellender Lebensqualität im sozialen Wunschgeschlecht durchlaufen können, besteht somit eine günstige Verlaufsprognose in allen Aspekten psychosozialer Teilhabe, wohingegen ein anhaltender körperbezogener geschlechtsdysphorischer Leidensdruck mit einem hohen Risiko psychischer Gesundheitsschäden behaftet ist (s. o.). Hinzu kommt, dass alle wichtigen Entscheidungen für ein minderjähriges Kind von seinen sorgeberechtigen Eltern verantwortet werden müssen, wobei das Kind im Maße seiner jeweils vorliegenden Entscheidungsreife angemessen einzubeziehen ist (Möller et al. 2018; Wiesemann et al. 2010).

Entwicklung der Geschlechtsidentität

Die Geschlechtsidentitätsentwicklung ist ein komplexer Prozess, bei dem biologische, familiäre, soziale und individuelle psychische Faktoren eine Rolle spielen und interagieren. Eltern, Bezugspersonen, Gleichaltrige, Medien und kulturelle Wertvorstellungen fließen ein. Hierbei sind wichtige Elemente der Entwicklung früh angelegt. So beginnt die Wahrnehmung von Geschlechtsunterschieden bereits in den ersten Lebensmonaten. Im Alter von zwei Monaten können Babys zwischen weiblichen und männlichen Stimmen (Miller et al. 1982), im Alter von neun Monaten zwischen männlichen und weiblichen Gesichtern unterscheiden (Fagot und Leinbach 1993). Kinder orientieren sich an Rollenmodellen und Identifikationsfiguren. Jedoch kann die Geschlechtsidentität nicht ausschließlich durch Sozialisation geformt werden. Die Beobachtungen vergangener Jahrzehnte im Umgang mit bei Geburt festgestellter Intersexualität haben gezeigt, dass die Ausformung der Geschlechtsidentität eher einem früh angelegten Programm folgt, welches zwar im „Wie“ bzw. der in der sog. Geschlechtsrollenidentität (d. h. „was für ein Mädchen/Junge bin ich?“), jedoch nicht im Kern des „Was“ bzw. der Geschlechtszugehörigkeit („fühle ich mich als Mädchen oder Junge?“) durch Zuschreibungen, Rollenerwartungen und anderweitige soziokulturelle Umweltfaktoren beeinflussbar ist. Auch die bisherigen Berichte und Erfahrungen von Eltern geschlechtsdysphorischer Kinder, bei denen sich das Zugehörigkeitsempfinden konträr zum bei Geburt zugewiesenen Geschlecht bereits in den ersten Kindheitsjahren in besonders deutlicher Weise zeigte („early onset gender dysphoria“), legen nahe, dass dies einer primär vom Kind ausgehenden Agenda folgte, die sich entgegen aller familiären und kulturellen Rollenerwartungen und -zuschreibungen entfaltete und vom Kind vehement durchgesetzt wurde, wobei die Eltern eher abwartend und staunend der Entwicklung des Kindes folgten (Kuvalanka et al. 2014; Ehrensaft 2016).

Geschlechtsinkongruenz im Entwicklungsverlauf

Erscheinungsformen und Prävalenz der Geschlechtsinkongruenz im Kindesalter

Geschlechtsvariantes Verhalten bei Kindern ist häufig, das Spektrum atypischen Geschlechtsrollenverhaltens ist vielfältig. Aus den deutschen und US-amerikanischen Normierungsdaten der Child Behavior Checklist (CBCL) wurde ermittelt, dass das Item „verhält sich wie dem anderen Geschlecht zugehörig“ (geschlechtsatypisches Rollenverhalten) bei 10–11 % der 8- bis 9-jährigen Mädchen sowie bei 2–4 % der 8- bis 9-jährigen Jungen von den befragten Eltern bejaht wurde. Das spezifischere Item „wünscht dem anderen Geschlecht anzugehören“ (geschlechtsinkongruentes Selbsterleben) wurde für 2–4 % der 8- bis 9-jährigen Mädchen sowie weniger als 0,1 % der 8- bis 9-jährigen Jungen bejaht (Zucker und Lawrence 2009; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 2018). Bekannt ist ferner, dass in kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruchnahmepopulationen, die sich aus allen bekannten Störungsbildern zusammensetzen, die Häufigkeit entsprechender Angaben bis auf das 3- bis 4-Fache erhöht sein kann (Meyenburg und Romer 2011). Dies ist ein Hinweis darauf, dass geschlechtsatypisches Rollenverhalten und geschlechtsinkongruentes Selbsterleben bei Kindern in vielfältiger Weise auftreten kann, sowohl als normale Entwicklungsvariante als auch als Begleitphänomen bei psychischen Auffälligkeiten. Für das Vorliegen einer Geschlechtsdysphorie im Kindesalter sind hingegen die diagnostischen Kriterien nach DSM-5 (APA 2013, dt. 2018) deutlich enger gefasst. Bevölkerungsrepräsentative epidemiologische Daten zur Prävalenz der Geschlechtsdysphorie im Kindesalter in diesem engeren Sinne existieren bislang nicht.
Diagnostische Kriterien der Geschlechtsdysphorie bei Kindern (F64.2) nach DSM-5
(Abdruck erfolgt mit Genehmigung vom Hogrefe Verlag Göttingen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, © 2013 American Psychiatric Association, dt. Version © 2018 Hogrefe Verlag).
A.
Eine seit mindestens 6 Monaten bestehende ausgeprägte Diskrepanz zwischen Gender und Zuweisungsgeschlecht, wobei mindestens sechs der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen (von denen eines Kriterium A1 sein muss):
1.
Ausgeprägtes Verlangen oder Insistieren, dem anderen Geschlecht (oder einem alternativen Gender, das sich vom Zuweisungsgeschlecht unterscheidet) anzugehören.
 
2.
Bei Kindern mit männlichem Zuweisungsgeschlecht: ausgeprägte Vorliebe, sich weiblich zu kleiden und zu schminken; bei Kindern mit weiblichem Zuweisungsgeschlecht: ausgeprägte Vorliebe für ausschließlich typisch maskuline Kleidung und großer Widerstand, typisch feminine Kleidung zu tragen.
 
3.
Ausgeprägte Vorliebe dafür, in Rollen- und Fantasiespielen gegengeschlechtliche Rollen einzunehmen.
 
4.
Ausgeprägte Vorliebe für Spielzeug, Spiele und Aktivitäten, mit denen sich Kinder des anderen Geschlechts typischerweise beschäftigen.
 
5.
Ausgeprägte Vorliebe für Spielgefährten des anderen Geschlechts.
 
6.
Bei Kindern mit männlichem Zuweisungsgeschlecht: ausgeprägte Ablehnung typisch jungenhafter Spiele, Spielzeug und Aktivitäten und ausgeprägte Vermeidung von Raufen und Balgen; bei Kindern mit weiblichem Zuweisungsgeschlecht: ausgeprägte Ablehnung typisch mädchenhafter Spiele, Spielzeug und Freizeitaktivitäten.
 
7.
Ausgeprägte Ablehnung der eigenen primären Geschlechtsmerkmale.
 
8.
Ausgeprägtes Verlangen nach den primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmalen im Einklang mit dem erlebten Gender.
 
 
B.
Klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
 
Bestimme, ob:
Mit einer Variation bzw. Störung der Geschlechtsentwicklung (z. B. ein adreno-genitales Syndrom, wie E25.0, die angeborene Nebennierenrindenhyperplasie, oder E34.50, das Androgenresistenz-Syndrom).
Codierhinweis: Wenn dies zutrifft, ist sowohl die Variation bzw. Störung der Geschlechtsentwicklung als auch die Geschlechtsdysphorie zu codieren.

Erscheinungsformen und Prävalenz geschlechtsinkongruenten Verhaltens und Erlebens im Jugendalter

Auch im Jugendalter gibt es vielfältige Erscheinungsformen geschlechtsvarianten Verhaltens, sowohl mit als auch ohne assoziierte Psychopathologie. Aus bevölkerungsrepräsentativen Normierungsdaten der o. g. CBCL-Items wurde ermittelt (Cohen-Kettenis und Pfäfflin 2003), dass geschlechtsatypisches Rollenverhalten („verhält sich wie dem anderen Geschlecht zugehörig“) bei Jugendlichen nur etwa halb so häufig wie bei Kindern auftrat (2,5–5 % der Kinder vs. 1–3 % der Jugendlichen). Bei geschlechtsinkongruentem Selbsterleben („wünscht dem anderen Geschlecht anzugehören“) war der Unterschied noch deutlich ausgeprägter. Dessen Häufigkeit reduzierte sich vom Kindes- zum Jugendalter etwa auf ein Siebtel (1,4–2,0 % der Kinder vs. 0,2–0,4 % der Jugendlichen) (Cohen-Kettenis und Pfäfflin 2003). Geschlechtsinkongruentes Verhalten im Kindesalter bildet sich demnach in weit mehr als der Hälfte der Fälle im Laufe der Pubertätsentwicklung zurück.
In jüngerer Zeit wird in Medienberichterstattungen zunehmend über Beobachtungen diskutiert, wonach ein wachsender jugendlicher „Hype“ zu geschlechtlicher Nonkonformität existiere. So wird von jugendlichen Szenen berichtet, in denen die Geschlechtervielfalt als „Lebensstil“ aufgegriffen wird, wobei sich Jugendliche zunehmend auch als „Transgender“ definieren. Nach unseren langjährigen klinischen Erfahrungen1 finden sich jedoch nach wie vor unter den Jugendlichen, die an einer überdauernden Geschlechtsdysphorie leiden und deshalb ernsthaft motiviert medizinische Behandlung wünschen, kaum Fälle, in denen die soziale Affinität zu einer solchen „modeähnlichen“ Jugendszene eine Rolle zu spielen scheint. Im Jugendalter sollte daher sorgfältig differenziert werden, ob eine behandlungsbedürftige Geschlechtsdysphorie vorliegt oder nicht.

Varianten der Geschlechtsinkongruenz ohne Geschlechtsdysphorie

Im Rahmen der Identitätssuche in der Adoleszenz entspricht es einem normalen Entwicklungsphänomen, dass sich Jugendliche in mitunter sehr verschiedenen Stilen und Rollen ausprobieren. Sie gleichen dabei ihr authentisches Selbst- und Identitätsgefühl mit der erlebten sozialen Resonanz ab und versuchen dies immer wieder in eine subjektiv stimmige Balance zu bringen. Dies kann sich auch auf die Suche nach einer stimmig erlebten eigenen Geschlechtsrolle und -identität beziehen, die sich nach unserem nicht-binären Verständnis innerhalb eines fließenden Kontinuums aus weiblichen und männlichen Anteilen heranbildet (Abschn. 1.1.3). Typisch für Erscheinungsformen geschlechtsinkongruenten Verhaltens im Jugendalter, die nicht in eine persistierende Transidentität münden, ist, dass entweder die Ablehnung der trans-geschlechtlichen Rolle einseitig gegenüber einer kaum bis nicht vorhandenen positiven Identifizierung mit der trans-geschlechtlichen Rolle überwiegt (eher geschlechtsneutrales Erscheinungsbild) oder dass beim Ausleben des wunschgeschlechtlichen Rollenverhaltens mit erlebter sozialer Akzeptanz sich weitgehendes psychisches Wohlbefinden einstellen kann, wobei ein körperbezogener geschlechtsdysphorischer Leidensdruck eher in den Hintergrund tritt.

Geschlechtsinkongruenz mit Geschlechtsdysphorie

Überdauert nach Beginn der pubertären Reifeentwicklung ein geschlechtsinkongruentes Identitätserleben über einen längeren Zeitraum und steht dabei eine positive Identifizierung im Sinne eines stabilen trans-geschlechtlichen Zugehörigkeitsempfindens im Vordergrund, ist das Vorliegen einer persistierenden Geschlechtsdysphorie wahrscheinlich. Insbesondere bei Jugendlichen, bei denen bereits vor Eintritt der Pubertät eine Geschlechtsdysphorie bestand, ist typisch, dass der geschlechtsdysphorische Leidensdruck in unmittelbarer Abhängigkeit von antizipierten oder fortschreitenden Körperveränderungen progredient ansteigt. Die körperbezogene Geschlechtsdysphorie besteht typischerweise unabhängig davon fort, ob ein sozialer Rollenwechsel in Familie, Schule und Freizeit vollzogen wurde und dabei positive Erfahrungen mit sozialer Akzeptanz gemacht wurden. Das Ausleben und Akzeptiertwerden in der trans-geschlechtlichen Rolle kann zwar erheblich zur psychischen Stabilisierung und zu erhöhtem Selbstbewusstsein sowie verbesserter Lebensqualität beitragen, bezogen auf den eigenen Körper besteht indes das geschlechtsdysphorische Unbehagen anhaltend fort und verstärkt sich durch die fortschreitende irreversible Vermännlichung bzw. Verweiblichung.
Geschlechtsdysphorische Trans*-Jungen leiden insbesondere an ihrem weiblichen Brustwachstum oder an der Vorstellung dessen Fortschreitens. Sie binden häufig ihre Brüste ab, weil sie die Sichtbarkeit der Brustwölbung durch die Kleidung nicht ertragen. Auch ehemals sog. Wasserratten besuchen aus diesem Grund oft über Jahre keinen Strand und kein Schwimmbad, was das Ausmaß der erlebten sozialen Nicht-Teilhabe illustriert. Das Eintreten der Menarche wird typischerweise als zutiefst „falsch“ („gehört nicht zu mir“), als „Horror“ oder demütigend erlebt und verursacht nicht selten ausgeprägte depressive Verstimmungen. Die Vorstellung zunehmender weiblicher Rundungen an Oberschenkel und Hüften wird meist als unerträglich geschildert.
Geschlechtsdysphorische Trans*-Mädchen äußern typischerweise ein großes Unbehagen im Zusammenhang mit dem männlichen Stimmbruch, der Vorstellung zunehmenden Bartwuchses und männlicher Körperbehaarung, der Entwicklung breiterer Schultern und eines hervorstehenden Adamsapfels. Auch bei ihnen kommt es oft zur jahrelangen Nicht-Teilhabe an Bade- oder Schwimmaktivitäten. Insbesondere die sich entwickelnde tiefere Stimme, der Bartwuchs oder die Ausbildung breiter Schultern sind mit einem erheblichen Leidensdruck verbunden, weil sie durch spätere geschlechtsangleichende Maßnahmen weitgehend irreversibel bleiben. Eine oft lebenslange starke Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität beitragen kann, ist häufig die Folge. Die diagnostischen Kriterien einer Geschlechtsdysphorie im Jugendalter nach DSM-5 (APA 2013, dt. 2018) sind in der folgenden Übersicht aufgelistet.
Diagnostische Kriterien der Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen und Erwachsenen (F64.0) nach DSM-5
(Abdruck erfolgt mit Genehmigung vom Hogrefe Verlag Göttingen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, © 2013 American Psychiatric Association, dt. Version © 2018 Hogrefe Verlag)
A.
Eine seit mindestens 6 Monaten bestehende ausgeprägte Diskrepanz zwischen Gender und Zuweisungsgeschlecht, wobei mindestens zwei der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen:
1.
Ausgeprägte Diskrepanz zwischen Gender und den primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmalen (oder, bei Jugendlichen, den erwarteten sekundären Geschlechtsmerkmalen).
 
2.
Ausgeprägtes Verlangen, die eigenen primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmale loszuwerden (oder, bei Jugendlichen, das Verlangen, die Entwicklung der erwarteten sekundären Geschlechtsmerkmale zu verhindern).
 
3.
Ausgeprägtes Verlangen nach den primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmalen des anderen Geschlechts.
 
4.
Ausgeprägtes Verlangen, dem anderen Geschlecht anzugehören (oder einem alternativen Gender, das sich vom Zuweisungsgeschlecht unterscheidet).
 
5.
Ausgeprägtes Verlangen danach, wie das andere Geschlecht behandelt zu werden (oder wie ein alternatives Gender, das sich vom Zuweisungsgeschlecht unterscheidet).
 
6.
Ausgeprägte Überzeugung, die typischen Gefühle und Reaktionsweisen des anderen Geschlechts aufzuweisen (oder die eines alternativen Gender, das sich vom Zuweisungsgeschlecht unterscheidet).
 
 
B.
Klinisch relevantes Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
 
Bestimme, ob:
Mit einer Variation bzw. Störung der Geschlechtsentwicklung (z. B. ein adreno-genitales Syndrom, wie E25.0, die angeborene Nebennierenrindenhyperplasie, oder E34.50, das Androgenresistenz-Syndrom).
Codierhinweis: Wenn dies zutrifft, ist sowohl die Variation bzw. Störung der Geschlechtsentwicklung als auch die Geschlechtsdysphorie zu codieren.
Bestimme, ob:
Nach der Geschlechtsangleichung: Die Person lebt vollständig in der gewünschten Geschlechtsrolle (mit oder ohne gesetzliche Anerkennung) und hat sich mindestens einer geschlechtsangleichenden Behandlungsmaßnahme unterzogen (oder bereitet eine solche vor) – entweder eine regelmäßige gegengeschlechtliche Hormonbehandlung und/oder eine geschlechtsangleichende Operation (z. B. Penektomie, Vaginalplastik bei männlichem Zuweisungsgeschlecht; Mastektomie und/oder Phalloplastik bei weiblichem Zuweisungsgeschlecht).
(Abdruck erfolgt mit Genehmigung vom Hogrefe Verlag Göttingen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, © 2013 American Psychiatric Association, dt. Version © 2018 Hogrefe Verlag)

Prädiktoren persistierender und nichtpersistierender Geschlechtsdysphorie

Wie in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben, gibt es ein breites Spektrum geschlechtsvarianten Verhaltens in Kindheit und Jugend, was einschließt, dass hiervon nur ein geringerer Teil als Transidentität ins Erwachsenenalter persistiert. Zur Frage, wie sich diejenigen Kinder und Jugendlichen, die auch über die Pubertät hinaus geschlechtsdysphorisch sein werden (Persisters), von jenen unterscheiden, bei denen es sich lediglich um eine passagere geschlechtsvariante Phase handelt (Desisters), gibt es wenige Studien mit klinischen Verlaufskohorten. Berichtete Persistenzraten lagen zwischen 12 % und 37 %, wobei sich bei strengeren Ausgangskriterien für das Vorliegen einer Geschlechtsdysphorie im Kindesalter errechnete Raten bis zu 63 % ergeben (Nonhoff 2018). Unterschiede werden in Abhängigkeit vom Geburtsgeschlecht sowie dem Alter der Erstvorstellung berichtet. So wurden höhere Persistenzraten für geburtsgeschlechtliche Mädchen sowie für bei Erstvorstellung ältere Kinder ermittelt. Ferner erwies sich das Ausmaß des trans-geschlechtlichen Erlebens und Verhaltens im Kindesalter bzw. entsprechend das Vorliegen einer GD-Diagnose nach standardisierten diagnostischen Kriterien als wichtiger Prädiktor. Es gibt jedoch kein sicheres Kriterium, das im Kindesalter die Vorhersage einer späteren Persistenz erlaubt, sodass in jedem Fall der Eintritt der biologischen Reifeentwicklung einschließlich des Beginns sichtbarer Körperveränderungen abgewartet werden muss, bevor eine weiterführende Entwicklungsprognose gestellt werden kann. Liegt bereits im Kindesalter eine Geschlechtsdysphorie vor, kann die Altersspanne von 10–13 Jahren als kritische Phase angenommen werden, in der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit klärt, ob die Geschlechtsdysphorie persistiert (Steensma et al. 2013; Steensma und Cohen-Kettenis 2015).

Prävalenz persistierender Transidentität ins Erwachsenenalter

Bevölkerungsrepräsentative epidemiologische Daten zur Prävalenz persistierender Transidentität gibt es bislang nicht. In den meisten bisherigen Studien wurden die Patientenzahlen spezialisierter Behandlungszentren für transidente Erwachsene auf die Bevölkerung des angenommenen geografischen Einzugsgebietes bezogen, was nur ungenaue Schätzungen erlaubt und entsprechend divergente Prävalenzzahlen in verschiedenen Studien erklärt. In einer Metaanalyse und systematischen Übersicht über alle weltweit vorliegenden Prävalenzstudien an klinischen Stichproben über den Zeitraum 1958–2014 (Arcelus et al. 2015) wurde eine durchschnittliche Prävalenz der Mann-zu-Frau-Transidentität von 6,8:100.000 (r = 0,44–35,2), entsprechend einem Fall pro ca. 14.700 geburtsgeschlechtlich männlicher Personen (r = 2800–227.300) ermittelt. Für die Frau-zu-Mann-Transidentität ergab sich eine geringere durchschnittliche Prävalenz von 2,6:100.000 (r = 0,25–6,64), entsprechend einem Fall pro ca. 38.500 geburtsgeschlechtlich weiblicher Personen (r = 15.100–400.000). Das durchschnittliche Häufigkeitsverhältnis zwischen Mann-zu-Frau- und Frau-zu-Mann-Transidentität ergab 2,6:1. Ferner ergab sich über die Jahrzehnte des Erhebungszeitraumes ein stetiger Anstieg der Prävalenzzahlen, wobei offen bleibt, inwieweit die Anzahl transidenter Personen tatsächlich stetig anwuchs bzw. inwieweit durch ein gegenüber Trans*-Personen toleranter gewordenes gesellschaftliches Klima der Anteil der sich outenden und Behandlung suchenden transidenten Personen angestiegen ist. In bevölkerungsrepräsentativen Online-Surveys wurden Erwachsene anonymisiert nach geschlechtsinkongruentem Selbsterleben befragt ohne Einbezug von in Anspruch genommener medizinischer Behandlung. Somit wurden in diesen Studien auch Personen erfasst, die nicht die diagnostischen Kriterien einer persistierenden Geschlechtsdysphorie erfüllen, woraus sich entsprechend höhere Prävalenzzahlen ergaben. In einer niederländischen Online-Befragung (Kuyper und Wijsen 2014) ergab sich so eine Prävalenz der Geschlechtsinkongruenz von 1,1 % bei geburtsgeschlechtlichen Männern und 0,8 % bei geburtsgeschlechtlichen Frauen. Eine Studie aus Belgien (Van Caenegem et al. 2015) berichtete Prävalenzen von 0,7 % bei geburtsgeschlechtlichen Männern und von 0,6 % bei geburtsgeschlechtlichen Frauen. Für die Zukunft ist wahrscheinlich, dass aus dem Kreis der Personen mit Geschlechtsinkongruenz, deren Häufigkeit um mindestens das 200-Fache höher geschätzt werden kann als die der bislang wegen Geschlechtsdysphorie Behandlungssuchenden, sich zumindest teilweise zunehmend Personen als transident outen werden und damit die über Behandlungssuche definierte Prävalenz der Transidentität weiter ansteigen wird.

Ätiologie der Transidentität

Die Ätiologie der Transidentität ist ein komplexer Prozess, für den es kein gesichertes kausales Erklärungsmodell gibt. Früher vertretene Auffassungen einer vorrangig reaktiven Psychogenese, ob lerntheoretisch oder psychoanalytisch konzipiert, gelten mittlerweile als obsolet. Eine persistierende Transidentität gilt ferner – ähnlich wie Homosexualität – als weder durch Umwelteinflüsse induzierbar, noch im Verlauf durch pädagogische oder therapeutische Interventionen beeinflussbar oder umkehrbar. Eine multifaktorielle Genese, die in wesentlichen Teilen sehr früh in der Entwicklung angelegt wird, ist wahrscheinlich, wobei es zunehmende Evidenz dafür gibt, dass genetische und andere biologische Einflüsse hierbei eine bedeutsame Rolle spielen. So wurde in einer Übersicht zu Zwillingsfallstudien eine Konkordanz der Transidentität bei monozygoten Zwillingen von 39,1 % ermittelt, wohingegen diese bei dizygoten Zwillingen unter 0,1 % lag (Heylens et al. 2012), was einen bedeutsamen, aber nicht allein erklärenden genetischen Einfluss belegt.
Für den Polymorphismus unterschiedlicher Allel-Längen des Andogenrezeptorgens sowie zweier Östrogenrezeptorgene (ERα und ERβ) wurde nachgewiesen, dass spezifische Kombinationen zwischen Genotypen dieser drei Rezeptorgene sowohl mit Mann-zu-Frau- als auch mit Frau-zu-Mann-Transidentität assoziiert waren (Fernandez et al. 2018). Aus der bildgebenden neurowissenschaftlichen Forschung (Neuro-Imaging) gibt es einige Befunde, die nahelegen, dass bei bekannten strukturellen und funktionellen Unterschieden zwischen Männern und Frauen diese bei erwachsenen Trans*-Personen eher dem Wunschgeschlecht als dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht folgen. So ist die Zelldichte im Nucleus striae terminalis, einer efferenten Bahn der Amygdala bekanntermaßen bei Männern höher als bei Frauen. Es konnte gezeigt werden, dass diese Zelldichte bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen eher der von weiblichen als der von männlichen Kontrollpersonen entsprach (Zhou et al. 1995). Aus der funktionellen Bildgebung ist ferner gut belegt, dass das neuronale Aktivierungsmuster beim sog. Mental Rotation Task, einem experimentellen Paradigma, bei dem es um räumliches Vorstellungsvermögen geht, sich zwischen Männern und Frauen unterscheidet. Auch hier konnte bei erwachsenen Mann-zu-Frau-Transsexuellen gezeigt werden, dass deren Aktivierungsmuster eher dem von weiblichen als dem von männlichen Kontrollpersonen folgte, und zwar unabhängig davon, ob die Betreffenden bereits eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung mit Östrogenen erhalten hatten oder nicht (Schöning et al. 2010). Dies spricht dafür, dass dieser geschlechtstypische Unterschied im neuronalen Aktivierungsmuster unabhängig vom Hormonspiegel angelegt ist. Ferner scheint wahrscheinlich, dass Schwankungen prä- und postnataler Geschlechtshormonspiegel Einfluss auf die spätere Geschlechtsidentität nehmen können. Ein Beleg hierfür ist, dass bei intersexuellen Individuen mit bei Geburt weiblicher Geschlechtsattribution prä- und postnatal erhöhte Androgenspiegel die Wahrscheinlichkeit für eine später männliche Geschlechtsidentität erhöhen (Meyer-Bahlburg et al. 2008).

Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz/ Geschlechtsdysphorie

Allgemeine Prinzipien

Zur Vermeidung diskriminierender Erfahrungen Behandlungssuchender sollten professionelle Helfer deren subjektives Identitätserleben vorurteilsfrei und unbefangen akzeptieren, was die jeweilige Verwendung des gewünschten Namens und Pronomens ab der Erstbegegnung einschließt. Dies bedeutet keine Vorwegnahme künftiger ergebnisoffener Entwicklungen, sondern drückt den Respekt vor dem gegenwärtigen Zugehörigkeitsempfinden und Identitätserleben aus. Solange hingegen keine Persistenz angenommen wird, sollte gleichzeitig vermittelt und dazu ermutigt werden, für eine ergebnisoffene Haltung gegenüber künftigen Entwicklungen einschließlich eines nicht persistierenden Entwicklungsverlaufes einen mentalen Raum zu erhalten. Dies schließt eine entsprechende Aufklärung über die Nichtvorhersagbarkeit einer späteren Persistenz bei geschlechtsdysphorischen Kindern ein. Dabei sollte auch über die grundsätzliche Nichtbeeinflussbarkeit des persistierenden oder nichtpersistierenden Outcome im weiteren Entwicklungsverlauf aufgeklärt werden. Dies entlastet erfahrungsgemäß Erziehungsberechtigte sehr, da diese nicht (mehr) zu befürchten brauchen, die Geschlechtsdysphorie ihres Kindes womöglich mitverursacht zu haben oder durch akzeptierendes Mitgehen deren spätere Persistenz zu „zementieren“. Zudem wird deutlich gemacht, dass es, wenn sich eine persistierende Transidentität abzeichnet, keine lebbaren Kompromisse oder „Zwischenlösungen“ geben wird.
Ein weiterer wichtiger Grundsatz besteht darin, dass die auf einer Annahme einer persistierenden Geschlechtsdysphorie beruhende Indikationsstellung für somatomedizinische Interventionen („eligibility“) unabhängig von deren geeigneten Zeitpunkt („timing“) reflektiert und mit behandlungssuchenden Jugendlichen und ihren Familien ausgehandelt werden sollte. Hierbei ist die Einbettung in eine sich schrittweise vollziehende soziale Transition ebenso wie die aktuell anstehende Bewältigung allgemeiner Entwicklungsaufgaben („beyond the gender issue“) angemessen zu berücksichtigen. So kann es im Einzelfall für betroffene Jugendliche günstiger sein, mit dem Beginn einer Hormonbehandlung bis nach dem Schulabschluss zu warten, um hierfür dann „den Kopf frei“ zu haben. Nicht zuletzt sollten Behandelnde sich stets eine größtmögliche Offenheit für individuelle Wege im Umgang mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie erhalten und die teils „schablonenartigen“ Ablaufschemata bei Behandlungsschritten überwinden.2 In der folgenden Übersicht sind die wichtigsten Behandlungsgrundsätze stichpunktartig aufgelistet.
Wichtige Haltungen und Grundprinzipien für Behandelnde
  • Vorurteilsfreies Akzeptieren der subjektiven Identität
  • Ergebnisoffene Haltung
  • Akzeptanz der Nichtbeeinflussbarkeit eines persistierenden vs. nichtpersistierenden Outcome
  • Eltern und Kind sollten nach Möglichkeit diesen Weg gemeinsam gehen (können)
  • Getrennte Reflexion von „ob“ und „wann“ („eligibility and timing“) bei somatomedizinischen Behandlungsschritten
  • Einbettung jeden Schrittes einer Transition in Gesamtheit psychosozialer Entwicklungsaufgaben („beyond the gender issue“)
  • Offenheit für individuelle Wege

Rechtliche Rahmenbedingungen

Für Indikationsstellungen zu pubertätsunterdrückender oder geschlechtsangleichender Hormonbehandlung sind keine medizinischen Gutachten erforderlich. Aufgrund der hohen ethischen Verantwortung für medizinische Eingriffe in einen biologisch gesunden Organismus sollten endokrinologisch Behandelnde nach bisherigem Leitlinienstandard (Hembree et al. 2017) hierfür die Vorlage einer sorgfältigen kinder- und jugendpsychiatrischen Indikationsstellung verlangen. Grundsätzlich sind medizinische Eingriffe bei Minderjährigen nur mit Einwilligung der Sorgeberechtigten erlaubt. Jugendliche sind ihrer individuellen Reife entsprechend in Behandlungsentscheidungen angemessen einzubeziehen. Ausführliche psychiatrische oder fachpsychologische Gutachten werden nach dem Transsexuellengesetz ausschließlich für die gesetzliche Namens- und Personenstandsänderung benötigt. Diese stellt einen juristischen Schritt dar, für den es nach unten keine definierte Altersgrenze gibt, wobei der Gesetzgeber verlangt, dass ein „innerer Zwang“, in der gegengeschlechtlichen Rolle zu leben, seit mindestens drei Jahren besteht und dass sich dies aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr ändern wird. Die Medizinischen Dienste der Krankenkassen verlangen ihrerseits vor der Kostenübernahme für geschlechtsangleichende chirurgische Eingriffe, zu denen u. a. die Mastektomie bei Trans*-Männern gehört, ausführliche ärztliche/psychologische Stellungnahmen.

Kinderpsychiatrische Aufgaben bei Geschlechtsdysphorie im Kindesalter

Entwicklungsbegleitende Beratung und Psychoedukation

Bis zum Eintritt der Pubertät gibt es bei geschlechtsinkongruenten Kindern keinen somatomedizinischen Handlungs- oder Behandlungsbedarf, es kann aber Bedarf für beratende oder psychotherapeutische Interventionen geben. Aufgrund der im Abschn. 3.1 beschriebenen großen Variationsbreite geschlechtsnonkonformen Verhaltens bei Kindern und des Fehlens sicherer prognostischer Kriterien, die es erlauben würden, den Outcome nach Eintritt der Pubertät vorherzusagen, ist kinderpsychiatrische und/oder -psychotherapeutische Expertise vor allem in Form beratender Begleitung der Entwicklung des einzelnen Kindes unter Einbeziehung des familiären und sozialen Umfeldes gefragt. Vorrangiges Ziel sollte sein, dass die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes möglichst unbeeinträchtigt verlaufen kann. Hierbei ist den in Abschn. 5.1 beschriebenen Haltungen einer gleichsam akzeptierenden und abwartenden Haltung, die die Ergebnisoffenheit der späteren pubertären Entwicklung berücksichtigt und zugleich das Kind in seiner individuellen Entwicklung fördert sowie hierfür einen angemessenen Rahmen schafft, Rechnung zu tragen. Ausgehend von der Annahme, dass der Entwicklungsverlauf im Hinblick auf die spätere Geschlechtszugehörigkeit durch pädagogische Interventionen nicht beeinflussbar ist, ist eine das Kind in seinem „So-sein-wie-es-ist“ annehmende Haltung, die ihm möglichst ungehinderte Selbsterkundung und Rollenexploration im Kontinuum mischgeschlechtlicher Ausdrucksformen erlaubt, am ehesten geeignet, von außen an das Kind herangetragene Festschreibungen seiner Geschlechtsrolle zu vermeiden. Eltern sollten darin bestärkt werden, die Ungewissheit über den späteren Verlauf gemeinsam mit ihrem Kind abzuwarten und auszuhalten, und das Sich-Ausprobieren des Kindes mit achtsamem Blick auf seine emotionale und soziale Entfaltung zu unterstützen. Hierzu wird zunehmend auch die Beratung pädagogischer Institutionen angefragt.

Sozialer Rollenwechsel vor der Pubertät

Die Frage, inwieweit geschlechtsdysphorische Kinder darin unterstützt werden sollten, vor Eintritt der Pubertät einen vollständigen sozialen Rollenwechsel zu vollziehen, d. h. in allen Lebensbereichen sich nicht nur wie im Wunschgeschlecht beispielsweise zu kleiden und zu verhalten, sondern konsequent im Wunschgeschlecht angesprochen zu werden, wird in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Es gibt Kinder, die dies vehement einfordern. Im Einzelfall ist hier eine primär am Wohl des Kindes und seiner unbeeinträchtigten sozio-emotionalen Entwicklung orientierte erzieherische Haltung gefragt, die im Ermessen der Erziehungsberechtigten liegt. Hierbei ist nach individuellen Wegen zu suchen, wie dem von der UN-Kinderrechtskonvention im Status eines Menschenrechts geschützten Recht des Kindes auf ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit ebenso Rechnung getragen werden kann wie der Ergebnisoffenheit des späteren Entwicklungsverlaufes ab Pubertät.
Verallgemeinernde fachliche Empfehlungen zu dieser Frage jenseits der Ermutigung zu einer ebenso das Wesen des Kindes akzeptierenden wie verlaufsoffenen Haltung des Abwartens, „wohin die Reise letztlich geht“, sind nicht durch empirische Evidenz belegt. Hinzu kommt, dass ein vollzogener sozialer Rollenwechsel in der Kindheit manchmal bereits ein Faktum bei der Erstvorstellung in der kinderpsychiatrischen Versorgungspraxis ist, dem mit einer wertfreien nichtdiskriminierenden Haltung zu begegnen ist.

Indikationen für Psychotherapie

Bei geschlechtsdysphorischen Kindern besteht entgegen früherer Empfehlungen keine grundsätzliche Indikation zu psychotherapeutischen Maßnahmen. Oftmals reicht eine psychoedukative Beratung der Eltern und des erweiterten erzieherischen Umfeldes des Kindes aus, um über gelebtes Verständnis und Toleranz für geschlechtsvariante Verhaltensweisen in der Kindheit einen bestehenden geschlechtsdysphorischen Leidensdruck hinreichend aufzulösen. Eine Indikation für psychotherapeutische Behandlung kann sich im Einzelfall aus dem Vorhandensein assoziierter Symptome oder psychischer Auffälligkeiten ergeben, wobei sich hieraus meist auch eine andere behandlungsleitende Diagnose ergibt (z. B. depressive oder Angststörung). Eine psychotherapeutische Begleitung geschlechtsdysphorischer Kinder sollte primär darauf abzielen, das Kind mit einer non-direktiven supportiven Haltung auf seinem Weg der introspektiven und sozial explorierenden (Geschlechts-)Identitätsfindung zu unterstützen, wobei Elemente einer expressiven Spiel- oder Kunsttherapie ebenso einfließen können wie Elemente sozialen Kompetenztrainings. Dies kann hilfreich und sinnvoll für die anstehende spätere Klärung sein, ob die Geschlechtsdysphorie persistiert oder nicht, sowie gegebenenfalls für die psychische Bewältigung späterer Schritte auf dem Weg der Transition. Die Indikation ist im Einzelfall zu prüfen, wobei für deren Durchführung in der Regel keine gesonderte „Transgender-Expertise“ erforderlich ist.

Behandlung der Geschlechtsdysphorie im Jugendalter

Wenn bereits im Kindesalter eine Geschlechtsdysphorie bestanden hat und im Zuge der Pubertät ein zunehmender vornehmlich körperbezogener geschlechtsdysphorischer Leidensdruck auftritt, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine behandlungsbedürftige Geschlechtsdysphorie vor, wobei sowohl psychotherapeutische als auch somatomedizinische Interventionen indiziert sein können (Abschn. 5.4.6). Typisch sind Berichte aus dem sozialen Umfeld, wonach nach dem Eintritt der Pubertät „niemand so richtig überrascht“ auf die sich deutlicher zeigende Geschlechtsdysphorie reagiert habe. Tritt hingegen nach einer überwiegend geschlechtskonformen Kindheitsentwicklung erstmalig nach Pubertätseintritt eine Geschlechtsdysphorie auf, was auch bei persistierend transidenten Entwicklungsverläufen nicht selten der Fall ist, sind umfassendere differenzialdiagnostische Überlegungen angezeigt.

Differenzialdiagnosen

Je labiler das in der Ich-Struktur verankerte Identitätsgefühl Jugendlicher ist, desto stärker kann der Drang sein, das eigene Identitätserleben durch eine über die soziale Außenwelt definierte Rolle zu stabilisieren („Pseudo-Identität“). In ihrem allgemeinen Identitätserleben labile Jugendliche sind somit anfällig für besonders markant ausgelebte ebenso wie für extrem wechselnde soziale Rollen, sowie für die haltsuchende Orientierung an modeähnlichen Strömungen oder Ideologien (vgl. Identitätskonflikt im aktiven Modus nach OPD-KJ, Arbeitskreis OPD-KJ 2013). Bei einer solchermaßen aus einem labilen Identitätsgefühl entstandenen Identitätssuche kann auch die „Transgender-Rolle“ als Projektionsfläche und Kaschierung einer tiefen Unsicherheit oder Leere genutzt werden, was jedoch meist nicht mit einer persistierenden Transidentität einhergeht. Ebenso können mit der aufkeimenden Pubertät psychosexuelle Konflikte aktiviert werden, die mit einer Abwehr sexueller Wünsche einhergehen und zur Ablehnung der eigenen Geschlechtsrolle und vorübergehenden gegengeschlechtlichen Identifizierung führen. Typisch ist ein soziales Erscheinungsbild, das eher geschlechtsneutral wirkt, wobei die gegengeschlechtliche Rollenidentifizierung eher in den Hintergrund tritt. Im Rahmen sog. sexueller Reifungskrisen kann ferner eine angelegte homosexuelle Orientierung von den Betreffenden selbst zunächst Ich-dyston verarbeitet und abgewehrt werden, was dazu führen kann, dass die entsprechende Selbstfindung (Coming-Out) den Umweg über eine geschlechtsinkongruente Phase geht, die vorübergehend eine transidente Selbstdefinition einschließt.3 Ferner können schleichende Verlaufsformen psychotischer Episoden mit Geschlechtsinkongruenz einhergehen.
Differenzialdiagnosen der Geschlechtsdysphorie im Jugendalter
  • Psychische und Verhaltensprobleme in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung (F66.1)
  • Passagere Gender-Identitätsdiffusion bei sexueller Reifungskrise (F66)
  • Ich-dystone homosexuelle Sexualorientierung (F66.1)
  • Andere psychosexuelle Entwicklungsstörungen (F66.8)
  • Identitätsdiffusion bei histrionischer, schizotyper oder Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60)
  • (Atypische) Anorexia nervosa (F50.0 und F50.1)
  • Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen (F64.1)
  • Fetischistischer Transvestitismus (F65.1)
  • Schizophreniforme psychotische Störung (F2)

Indikationen für Psychotherapie

Psychotherapie bei Geschlechtsdysphorie versteht sich idealerweise als eine entwicklungsorientierte Wegbegleitung. Hierzu gehört in noch weitgehend ergebnisoffenen Situationen die Unterstützung bei der introspektiven und sozial explorierenden Identitätsfindung. Zeichnet sich hingegen eine persistierende Transidentität ab, steht die unterstützende Begleitung bei allen Schritten einer sozialen Transition sowie deren psychosoziale Vorbereitung und stetig zwischenbilanzierende Auswertung im Vordergrund der psychotherapeutischen Begleitung, die sich in ihrer Frequenz nach dem individuellen Bedarf richtet. Bei einer selbstbewusst gestalteten und vom familiären und sozialen Umfeld weithin akzeptierten Transition ist oft eine niederfrequente unterstützende Beratung hinreichend. Wenn bei anstehenden Schritten der Transition sowie für die Indikationsstellung für somatomedizinische Behandlungsschritte eine fachgerechte Beratung und Anbindung an einem spezialisierten Behandlungszentrum gewährleistet ist, hat sich eine wohnortnahe psychotherapeutische Begleitung bewährt, die die Gesamtheit adoleszenter Entwicklungsaufgaben und Identitätsthemen einbezieht. Eine spezifisch ausgewiesene „Transgender-Expertise“ ist bei dieser Form professioneller Arbeitsteilung für die psychotherapeutische Begleitung nicht erforderlich. Die Indikation für Psychotherapie ergibt sich im Einzelfall aus den im Rahmen der Geschlechtsdysphorie bestehenden psychischen Symptomen, der bestehenden oder drohenden psychosozialen Beeinträchtigung, dem subjektiven Leidensdruck sowie dem Wunsch betreffender Jugendlicher nach psychotherapeutischer Unterstützung. Entgegen früherer Behandlungsschemata für Transsexuelle lässt sich eine „verpflichtende Psychotherapie“, insbesondere als Voraussetzung für die Indikation oder Kostenübernahme somatomedizinischer Behandlung, weder medizinisch noch ethisch rechtfertigen (AWMF 2018).

Indikation für pubertätsunterdrückende Hormonbehandlung

Bei fachgerecht diagnostizierter Geschlechtsdysphorie (Abschn. 3.1) mit im Zuge der Pubertät zunehmendem körperbezogenem Leidensdruck kann frühestens ab einem Pubertätsstadium II nach Tanner eine zeitlich begrenzte Pubertätssuppression mit GnRH-Analoga empfohlen werden. Diese Behandlung ist insbesondere geeignet, den Leidensdruck betroffener Jugendlicher zu entaktualisieren, indem das Fortschreiten irreversibler Körperveränderungen, das hochgradig belastend erlebt wird und im Falle persistierender Transidentität meist zu lebenslangen Beeinträchtigungen der Lebensqualität führen würde, wirksam verhindert wird. Dies führt bei behandelten Jugendlichen meist zu einer erheblichen psychischen Entlastung. Zu dieser Entlastung trägt bei vielen Betroffenen bei, dass ihnen durch diesen ersten Schritt einer somatomedizinischen Behandlung eine konkret greifbare Perspektive für ihren gewünschten transidenten Lebensweg eröffnet wird („es kann losgehen“).
Verlaufsdaten aus Langzeit-Follow-up-Untersuchungen belegen einen günstigen Effekt auf im Rahmen der Geschlechtsdysphorie bestehende psychopathologische Symptombelastungen (z. B. Depression), wobei die spezifisch geschlechtsdysphorische Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper meist fortbesteht (De Vries et al. 2011). Die Behandlung ist im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die somatische Entwicklung vollständig reversibel, d. h., bei einem Absetzen der Behandlung würde die biologische Reifeentwicklung ungehindert und vollständig nachgeholt werden. Daher eignet sich dieser Behandlungsschritt für ein zeitlich begrenztes biologisches „Moratorium“, d. h. für die Schaffung eines Zeitfensters, in dem irreversible Körperveränderungen in jedwede Richtung verhindert werden. Dieses in der Regel auf maximal zwei Jahre zu begrenzende Zeitfenster sollte für eine Klärung bzw. Festigung aller weiteren anstehenden oder getroffenen Entscheidungen für eine schrittweise zu vollziehende soziale Transition einschließlich der psychosozialen Vorbereitung geschlechtsangleichender somatomedizinischer Behandlungsschritte genutzt werden. Diese wird nach überwiegender bisheriger Erfahrung führender Behandlungszentren in fast allen Fällen, in denen bisher eine Pubertätssuppression erfolgte, im weiteren Verlauf gewünscht.
Bislang sind nur wenige Fälle einer Rückkehr ins Geburtsgeschlecht nach Beginn einer Pubertätssuppression dokumentiert, was zwar die Möglichkeit eines solchen Schrittes belegt, gleichwohl die Frage aufwirft, inwieweit durch eine Pubertätssuppression die potenzielle Ergebnisoffenheit einer noch nicht abgeschlossenen psychosexuellen Entwicklung eingeschränkt werden könnte. Die Indikation für diese endokrinologische Behandlung sollte daher mit der gebotenen Sorgfalt kinder- und jugendpsychiatrisch gestellt werden, wobei eine mit der gesamten Variationsbreite von Entwicklungs- und Behandlungsverläufen bei Geschlechtsinkongruenz im Kindes- und Jugendalter vertraute Expertise zu fordern ist.
Für die Indikation sollte, auch wenn damit keine definitive Festlegung auf spätere Schritte verbunden ist, eine zumindest hohe Wahrscheinlichkeit einer persistierenden Transidentität sowie ein handlungsleitender geschlechtsdysphorischer Leidensdruck gegeben sein, der bei Nichtbehandlung erheblichere psychische Gesundheitsschäden erwarten ließe. Zu empfehlende Indikationskriterien sind in der folgenden Übersicht aufgelistet. Eine informierte Zustimmung der Jugendlichen und ihrer Sorgeberechtigten ist durch umfassende Aufklärung zu allen Implikationen einer somatomedizinischen Behandlung sicherzustellen. Die Perspektive einer späteren geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung (Abschn. 5.4.5) („wer A sagt, sagt meistens auch B“) sollte dabei in diese Aufklärung bereits mit einbezogen werden.
Indikationskriterien für pubertätsunterdrückende Hormonbehandlung bei Geschlechtsdysphorie im Jugendalter
  • Vorhandensein einer ausgeprägten Genderdysphorie nach Eintritt der Pubertät
  • Mindestens pubertäres Reifestadium II nach Tanner
  • Bei vorbestehender GD im Kindesalter: deutliche Zunahme des geschlechtsdysphorischen Leidensdruckes mit Beginn der Pubertät
  • Normaler pubertärer Hormonstatus und sicherer Ausschluss einer DSD (Differences of Sex Development, biologisch angelegte Intersexualität)
  • Abwesenheit psychiatrischer oder somatomedizinischer Komorbidität, die mit der Behandlung erheblich interferieren würde
  • Adäquate psychologische und soziale Unterstützung während der Behandlung
  • Bereitschaft zur Vorbereitung einer sozialen Transition und Alltagserprobung in wunschgeschlechtlicher Rolle
  • Informierte Zustimmung von Patient und Sorgeberechtigten

Beratende und psychotherapeutische Begleitung des sozialen Rollenwechsels

Die Implikationen eines sozialen Rollenwechsels im Jugendalter sind vielfältig und bedürfen oft einer professionellen Unterstützung. Neben Vor- und Nachbereitung eines Transgender-Outings im schulischen Umfeld mit Unterstützung von Lehrern und Schulleitung geht es meist um die Erarbeitung konkreter Alltagslösungen im Umgang mit Situationen, in denen schulöffentliche Geschlechtertrennung praktiziert wird (z. B. Toilettenbenutzung, Sportumkleide etc.). Konkrete Erfahrungen mit der sozialen Resonanz des Alltagsumfeldes sollten hierbei möglichst für eine Stabilisierung von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen im „Trans-Sein“ genutzt werden.
Insbesondere bei einer Transition im Jugendalter bietet der Lebensbereich Schule eine besondere Chance für gelingende öffentliche Outings und soziale Transitionsprozesse, da dieser Bereich von allen Gleichaltrigen geteilt wird und pädagogische Strukturen die Wahrung nichtdiskriminierender Spielregeln im öffentlichen Raum erlauben. Dies erleichtert eine über mehrere Jahre schrittweise zu bewältigende Transition mit der Erfahrung sozialer Akzeptanz auf offener Alltagsbühne und ermöglicht pädagogisch moderierte korrektive Erfahrungen in Fällen diskriminierender Erlebnisse. Für das jeweilige Umfeld entsteht so in jedem Einzelfall ein soziales Lernfeld für einen nichtdiskriminierenden Umgang mit Geschlechts-Nonkonformität. Diese Erfahrung der nach unserer Beobachtung meist gut gelingenden sozialen „Mit-Erziehung“ des Alltagsumfeldes begünstigt die weitere psychosoziale Bewältigung der Transition einschließlich geschlechtsangleichender somatomedizinischer Behandlungsschritte. Treten in diesem Prozess Verunsicherungen im Selbstwerterleben oder soziale Ängste auf, kann dies die allgemeine Identitätsentwicklung labilisieren. Dies sollte frühzeitig aufgegriffen werden und bedingt oft die Indikation für eine intensivere psychotherapeutische Begleitung.

Indikation für geschlechtsangleichende Hormonbehandlung

Aufgrund der partiellen Irreversibilität einer geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung sind an die Indikationsstellung für diesen Schritt hohe Anforderungen an die anzunehmende hohe Wahrscheinlichkeit zu stellen, dass eine persistierende Transidentität vorliegt, sowie an die Einwilligungsfähigkeit behandlungssuchender Jugendlicher. Aus diesem Grund wird für jüngere Jugendliche auch bei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit persistierender Transidentität empfohlen, das im vorhergehenden Abschnitt erläuterte „Zeitfenster“ der potenziellen Reversibilität einer pubertätsunterdrückenden Hormonbehandlung zu nutzen, um für die Entscheidung zu einem irreversiblen Eingriff eine möglichst fortgeschrittene geistige Reife sicher zu stellen. Nach Möglichkeit sollte ein sozialer Rollenwechsel vollzogen und eine allgemeine psychosoziale Stabilisierung in der trans-geschlechtlichen Rolle über mehrere Monate beobachtbar sein. Zudem sollte ein anhaltender körperbezogener geschlechtsdysphorischer Leidensdruck handlungsleitend sein nebst dem vorhandenen Wunsch nach geschlechtsangleichender Hormonbehandlung. Die vorausgehende professionell begleitete psychische Stabilisierung nach vollzogenem Rollenwechsel beugt überzogenen illusorischen Heilserwartungen an eine alleinige Hormonbehandlung vor und kann gegebenenfalls helfen, eine sozialphobische Problematik aufzudecken und hierfür eine psychotherapeutische Behandlungsmotivation zu erarbeiten, falls diese bislang vermieden wurde.
Eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung auf Wunsch als ersten Schritt bzw. Voraussetzung für die soziale Transition, weil diese angeblich „ohne Hormone nicht geht“, kann eine psychosoziale Überforderung sowohl des oder der Jugendlichen als auch für das unvorbereitete soziale Umfeld bedeuten und birgt ein erhöhtes Risiko einer psychischen Destabilisierung infolge der Behandlung. Die zu fordernde informierte Zustimmung zur Behandlung sollte gegebenenfalls beide Sorgeberechtigte einschließen und auf der Basis einer umfassenden Aufklärung zu allen späteren Implikationen einer weiterführenden geschlechtsangleichenden somatomedizinischen Behandlung erfolgen, wozu in der Regel auch die lebenslange Infertilität gehört. Eventuell komorbide psychische oder somatische Erkrankungen sind daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie mit dem Beginn einer Behandlung interferieren würden, stellen jedoch per se keine Kontraindikation dar.
Empfehlungen für feste Altersgrenzen, ab wann eine hinreichende Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger als gegeben angenommen werden kann, sind aus entwicklungspsychologischer und empirischer Sicht nicht haltbar (Wiesemann et al. 2010). Zudem ergibt sich aus einem sehr variablen Pubertätseintritt eine hohe Variabilität für den Beginn einer pubertätsunterdrückenden Hormonbehandlung, die im Einzelfall bereits ab einem Alter von 11 Jahren indiziert sein kann (s. o.). Die Einwilligungsfähigkeit für eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung muss daher individuell überprüft werden, wobei zu fordern ist, dass wenn sie nicht hinreichend gegeben scheint, es vorrangig zur ärztlich-therapeutischen Verantwortung gehört, gemeinsam mit betreffenden Jugendlichen und ihren Eltern auf die Entwicklung einer vollständigen Einwilligungsfähigkeit hinzuarbeiten.
Indikationskriterien für geschlechtsangleichende Hormonbehandlung bei Geschlechtsdysphorie im Jugendalter
  • Anzunehmende persistierende Transidentität mit vollzogenem sozialem Rollenwechsel in möglichst allen Lebensfeldern
  • Anhaltende körperbezogene Geschlechtsdysphorie mit fortbestehendem Wunsch nach geschlechtsangleichender Hormonbehandlung
  • Psychosoziale Stabilisierung in der transgeschlechtlichen Rolle
  • Reflektierte Antizipation der psychosozialen Implikationen eines weiteren transidenten Lebensweges
  • Abwesenheit psychiatrischer oder somatomedizinischer Komorbidität, die mit der Behandlung erheblich interferieren würde
  • Informierte Zustimmung von Patient und Sorgeberechtigten

Weiterführende geschlechtsangleichende somatomedizinische Behandlung

Durch die zunehmende Verfügbarkeit fachgerechter Behandlungsangebote für geschlechtsdysphorische Kinder und Jugendliche hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Beginn sozialer Transitionen einschließlich somatomedizinischer Behandlungsschritte in frühere Altersspannen verlagert. Dies führt dazu, dass zunehmend häufig transidente junge Menschen vor dem 18. Lebensjahr die gesamte soziale Transition erfolgreich durchschritten haben, einschließlich gesetzlicher Namens- und Personenstandsänderung und geschlechtsangleichender Hormonbehandlung seit mehr als einem Jahr und zur Vervollständigung ihrer Teilhabe an einer altersgerechten Lebensgestaltung eine Mastektomie oder geschlechtsangleichende Genitaloperation wünschen (Abb. 1).
Es ist durch Follow-up-Untersuchungen belegt, dass bei persistierender Transidentität im Verlauf des Jugendalters sich die allgemeine psychische Symptombelastung zwar durch pubertätsaufhaltende und geschlechtsangleichende Hormonbehandlung deutlich verringern lässt, die körperbezogene Geschlechtsdysphorie letztlich jedoch meist erst nach geschlechtsangleichender Genitaloperationen vollständig remittiert (Cohen-Kettenis und van Goozen 1997). Es gibt bei einem hinreichend eindeutigen Gesamtbild, sorgfältiger Indikationsstellung und festgestellter Einwilligungsfähigkeit keine medizinethische Rechtfertigung, jungen Menschen vor Erreichen des 18. Lebensjahres grundsätzlich den Zugang auch zu geschlechtsangleichenden operativen Maßnahmen zu verwehren, auch wenn diese überwiegend erst nach dem 18. Lebensjahr erfolgen. Für Empfehlungen zu Indikationsstellungen bei vollständig durchlaufener Transition kann daher ab dem 16. Lebensjahr auf die entsprechenden Leitlinien für das Erwachsenenalter verwiesen werden (AWMF 2018).

Einbeziehung von Sorgeberechtigten im Prozess der Transition

Jenseits der rechtlichen Notwendigkeit zur Einwilligung Sorgeberechtigter in alle in den vorangegangenen Abschnitten beschriebenen Behandlungsschritte kann die Notwendigkeit der engmaschigen Einbindung sorgeberechtigter Eltern in den gesamten Prozess der Transition nicht genug hervorgehoben werden.
Für die psychische Gesundheit transidenter Jugendlicher ist die Qualität ihrer familiären Beziehungen ebenso wie die soziale Akzeptanz unter Gleichaltrigen besonders bedeutsam (Levitan et al. 2019). Entsprechend hängt die psychosoziale Bewältigung einer Transition im Jugendalter entscheidend mit von der Unterstützung durch die Eltern ab. Wenn diese nicht gegeben ist, besteht ein hohes Risiko für betroffene Jugendliche, daran psychisch zu zerbrechen, einschließlich eines erhöhten Risikos für Suizidalität. Wenn Eltern diesen Weg emotional nicht mitgehen können, sollte im Interesse der Gesundheitsprognose der betreffenden Jugendlichen kein therapeutischer Aufwand gescheut werden, durch intensive Eltern- und Familienarbeit die dahinter stehenden psychischen Gründe für eine Nichtakzeptanz durchzuarbeiten und aufzulösen. Falls dies nicht gelingt, wird ein Abbruch der Beziehung von Seiten des Kindes zu seinen Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit unausweichlich, da im Erleben Betroffener eine fortbestehende Ablehnung ihres „So-Seins“ durch die eigenen Eltern einer existenziell bedeutsamen Ablehnung gleichkommt.

Ungelöste Fragen und künftige Forschungsbedarfe

Alle Ausführungen in diesem Kapitel spiegeln den zum Zeitpunkt seines Verfassens aktuellsten Wissensstand in einem sich stetig fortentwickelnden Feld wider. Behandelnde sollten über ungelöste Fragen und künftige Forschungsbedarfe im Bilde sein, um im Lichte künftiger Erkenntnisse ihre Vorgehensweisen modifizieren zu können. Ein Problem wird auch künftig bleiben, dass aus ethischen Gründen Kohorten-Verlaufsstudien niemals eine nichtselektive Kontrollbedingung haben werden, was immer zu Bias-Effekten aufgrund klinischer Selektion führt. Wie im wissenschaftlichen Diskurs zu „seltenen Erkrankungen“ („rare conditions“) etabliert, kommt daher nichtkontrollierten Verlaufsstudien, multizentrischem Erfahrungsaustausch, retrospektiven Einzelfallberichten zu einzelnen ungünstigen oder besonderen Verläufen ebenso wie der partizipativen Einbindung Behandlungssuchender in Forschungskontexte ein hoher Erkenntniswert zu.
Wir wissen nach wie vor wenig über sichere Prädiktoren persistierender vs. nichtpersistierender transidenter Entwicklungen im Jugendalter, was die Komplexität jeder Einzelfallbeurteilung unterstreicht. Ebenso wissen wir wenig über die speziellen Bedürfnisse bei nicht-binären Entwicklungsverläufen. Für eine „best practice“ sollten Behandelnde sich bestmöglich durch interdisziplinären und überregional vernetzten Erfahrungsaustausch sowie durch eine Second-Look-Praxis in Zweifelsfällen absichern.

Fazit

  • Das Spektrum geschlechtsatypischer oder geschlechts-nonkonformer Verhaltensweisen und Entwicklungsverläufe im Kindes- und Jugendalter ist vielfältig. Es umfasst Normvarianten, passagere Ausdrucksformen und Verläufe mit psychopathologischen Auffälligkeiten. Hiervon geht nur ein geringerer Anteil mit einer persistierenden Geschlechtsdysphorie und transidenten Entwicklung einher.
  • Transidente Entwicklungen sind nicht pathologisch. Sie haben ein Recht auf Entfaltung und benötigen hierzu frühzeitige professionelle Unterstützung, die durch eine akzeptierende und nicht pathologisierende Haltung getragen sein muss.
  • Individualisierte psychotherapeutische und medizinische Begleitung mit an psychosexueller Entwicklungsreife orientierter gestufter hormoneller Behandlung kann wesentlich dazu beitragen, Jugendlichen, die unter Geschlechtsdysphorie leiden, eine Persönlichkeitsentwicklung mit psychosozialer Teilhabe, psychischer Gesundheit und Lebensqualität zu ermöglichen, die sich nicht vom Bevölkerungsdurchschnitt unterscheidet.
Fußnoten
1
Die Autoren gründeten 2006 die Spezialsprechstunde für Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und führen seit 2013 die entsprechende Spezialsprechstunde an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie des Universitätsklinikums Münster. Die jeweiligen Einzugsgebiete umfassen das gesamte Bundesgebiet, schwerpunktmäßig Niedersachsen, Bremen, Gesamt-NRW, Hamburg, Schleswig-Holstein und Teile von Hessen.
 
2
In der Versorgungspraxis kommt es zum Leidwesen Behandlungssuchender immer wieder vor, dass praktizierte Richtlinien der Medizinischen Dienste der Krankenkassen, wenn es um die Kostenübernahme für somatomedizinische Maßnahmen geht, sich an diesbezüglich veralteten Ablaufschemata orientieren.
 
3
Auch der umgekehrte Weg kommt vor, d. h., bei transidenten Coming-Outs kann eine homosexuelle Phase durchlaufen werden, in deren Verlauf die Betreffenden für sich differenzieren und erkennen, dass es ihnen nicht um die sexuelle Orientierung, sondern um die eigene Geschlechtsidentität geht.
 
Literatur
American Psychiatric Association (2013) Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen–DSM-5®. Dt. Übersetzung Hogrefe, Göttingen, 2018
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (2018) S3-Leitlinie: Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Diagnostik, Beratung, Behandlung. https://​www.​awmf.​org/​leitlinien/​detail/​ll/​138-001.​html
Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (2018) Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen; deutsche Bearbeitung der Child Behavior Checklist (CBCL/4-18). Einführung und Anleitung zur Handauswertung, 2. Aufl. mit deutschen Normen. Hogrefe, Köln
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