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Sozialrecht und Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

Verfasst von: Thomas Meysen und Jörg M. Fegert
Rechtlicher Hauptbezugsrahmen für die Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie ist das SGB V mit seinen strengen Strukturvorgaben der vertragsärztlichen Versorgung. Die Sozial-Psychiatrievereinbarung erweitert die Spielräume für eine interdisziplinär-sozialpsychiatrische ambulante Behandlung bei komplexen sozialpädiatrischen und psychiatrischen Problemen. Sind hiermit nur die Schnittstellen innerhalb des medizinischen Systems angesprochen, so bedürfen Kinder und Jugendliche mit einer psychischen Störung oder psychischen Störungen häufig Leistungen mehrerer Systeme. Haben diese Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer Störung Teilhabebeeinträchtigungen, wird die ärztliche Versorgung gleichzeitig Leistung zur Teilhabe und ist die medizinische Diagnose Teil der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs nach SGB IX. Recht macht Vorgaben zur Koordinierung der Leistungen, insbesondere mit der Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII und der Eingliederungshilfe nach SGB IX. Das Kapitel Sozialrecht sortiert den verzweigten rechtlichen Rahmen und soll Orientierung geben.

Rechtliche Multilokalität psychisch kranker Kinder und Jugendlicher

Sozialrecht als Referenzsystem bei psychischer Störung im Kindes- und Jugendalter

Haben Kinder oder Jugendliche eine psychische Störung und brauchen sie oder ihre Eltern Hilfe, findet sich der rechtliche Rahmen für die Behandlung, Beratung und Unterstützung im Sozialrecht. In diesem ist nicht etwa, wie der Begriff nahelegt, das soziale Zusammenleben geregelt. Dies ist Aufgabe des gesamten Rechts. Vielmehr ist historisch gewachsenes Leitmotiv der „Schutz der Schwachen“. Regelungsimpuls ist soziale Gerechtigkeit und Regelungsziel die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit (Eichenhofer 2015). Etwas pathetischer formuliert, handelt es sich beim Sozialrecht um das Recht, das „dem gemeinschaftsgebundenen Menschen ein gelingendes Leben in Freiheit ermöglichen soll“ (Becker 2018). In ihm werden Aufgaben des Sozialstaats (Art. 20 Abs. 1 GG) verwirklicht und spezifische soziale Zwecke zur Beantwortung sozialer Probleme verfolgt. Hierzu gehören
  • die Sicherung eines materiellen Existenzminimums,
  • die Absicherung gegen allgemeine Lebensrisiken wie Krankheit, Unfälle oder Arbeitslosigkeit und
  • die gesellschaftliche Integration.
So gesehen ist Sozialrecht in rechtliche Regelungen „geronnene“ Sozialpolitik. Mit ihm werden Grundrechte gesichert, etwa der Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit. Gesellschaftspolitisch trägt Sozialrecht zum Funktionieren der Gemeinschaft bei und erlebt seit einiger Zeit, ausgehend von der tradierten Ausrichtung an einzelnen Risiken und Bedarfslagen, immer wieder Versuche zur Korrektur der institutionellen Versäulung, um Querschnittsaufgaben erfüllen zu können (Becker 2018). Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen bzw. einer psychischen Störung haben häufig Bedarfe über Systemgrenzen hinweg (vgl. Abschlussbericht APK Projekt zur Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in Deutschland, Fegert et al. 2017c). Dies spiegelnd, bewegt sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie als Teil des Systems der Krankenversicherung (SGB V) somit an den Schnittstellen zu weiteren Sozialleistungsbereichen wie beispielsweise der Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Arbeitsförderung und -vermittlung, Sozialhilfe, sozialen Pflegeversicherung und Opferentschädigung.
In einem ausdifferenzierten System hält das Sozialgesetzbuch mit derzeit zwölf Büchern und etlichen sogenannten besonderen Teilen und Nebengesetzen an verschiedenen Stellen Sozialleistungen für Kinder und Jugendliche mit psychischer Erkrankung sowie ihre Eltern und anderen Bezugspersonen vor (Übersicht). Diese sollen unter anderem dazu beitragen,
  • die Abweichung der Gesundheit vom alterstypischen Zustand zu beheben, die Krankheit zu lindern oder mit ihr im täglichen Leben besser klarzukommen,
  • die Teilhabe zu ermöglichen und die Teilhabechancen zu verbessern,
  • förderliche Entwicklungs- und Erziehungsbedingungen zu schaffen oder zu erhalten oder
  • einen Ausgleich zur Kompensation der krankheits- bzw. behinderungsbedingten Nachteile zu finden.
Bücher des Sozialgesetzbuchs und besondere Teile
  • Bücher des Sozialgesetzbuchs:
    • SGB I: Allgemeiner Teil
    • SGB II: Grundsicherung für Arbeitssuchende
    • SGB III: Arbeitsförderung
    • SGB IV: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung
    • SGB V: Gesetzliche Krankenversicherung
    • SGB VI: Gesetzliche Rentenversicherung
    • SGB VII: Gesetzliche Unfallversicherung
    • SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe
    • SGB IX: Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
    • SGB X: Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz
    • SGB XI: Soziale Pflegeversicherung
    • SGB XII: Sozialhilfe
    • SGB XIV: Soziale Entschädigung
  • Besondere Teile:
    • Bundesausbildungsförderungsgesetz
    • Reichsversicherungsordnung
    • Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte
    • Zweites Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte
    • Bundesversorgungsgesetz
    • Bundeskindergeldgesetz
    • Wohngeldgesetz
    • Adoptionsvermittlungsgesetz
    • Unterhaltsvorschussgesetz
    • Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz
    • Altersteilzeitgesetz
    • Schwangerschaftskonfliktgesetz
In einem weiteren Sozialgesetzbuch soll das soziale Entschädigungsrecht, bislang hauptsächlich im Opferentschädigungsgesetz geregelt, neu gefasst werden.

Krankenversicherung als Referenzsystem der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie

Die Krankenversicherung stellt als Sozialversicherung Leistungen für ihre Mitglieder zur Verfügung. Die Krankenkassen sind unabhängige Selbstverwaltungskörperschaften des öffentlichen Rechts. Die Sicherstellung der Versorgung erfolgt über Beschlüsse eines gemeinsamen Gremiums, des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der sich zusammensetzt aus der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen (§ 91 SGB V). Der G-BA beschließt Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Das Gesetz fordert ein, dass hierbei den besonderen Erfordernissen von Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung Rechnung zu tragen ist (§ 92 Abs. 1 SGB V). Liegt kein wissenschaftlicher Nachweis zum diagnostischen oder therapeutischen Nutzen vor, werden entsprechende ärztliche Maßnahmen regelmäßig nicht in die Heil- und Hilfsmittelrichtlinien aufgenommen. Unter dem strengen Diktat der Wirtschaftlichkeit bei der Verausgabung der selbstverwalteten Mitgliedsbeiträge ergibt sich ein scharf konturierter Katalog an abrechenbaren Maßnahmen und Leistungen zur medizinischen und therapeutischen Versorgung.
Krankenversorgung nach dem SGB V kann in ambulanter, teilstationärer und stationärer Form erfolgen. Zu unterscheiden sind ambulante Behandlung durch niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater, teilweise mit Sozialpsychiatrievereinbarung und Krankenhausbehandlung (§ 39 Abs. 1 SGB V). Krankenhausbehandlung wird „vollstationär, stationsäquivalent, teilstationär, vor- und nachstationär sowie ambulant erbracht“. Seit den Reformen im PsychVVG können aufsuchende intensive Behandlungsformen wie Hometreatment nicht nur im Rahmen von Modellen, sondern auch als sogenannte „stationsäquivalente Behandlung“ (StäB; § 115 d Abs. 1 SGB V) durchgeführt werden.
Eine Besonderheit in der ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung sind Praxen mit Sozialpsychiatrievereinbarung, die in einem multiprofessionellen Team entsprechende Leistungen erbringen. Die Institutsambulanzen an Versorgungskliniken und Tageskliniken tragen nicht unwesentlich zur ambulanten Versorgung chronisch psychisch kranker, besonders belasteter Kinder und Jugendlicher bei.

Schnittstellen zu anderen Sozialleistungen

Eine psychische Störung ist nicht gleichzusetzen mit einer Behinderung. Hinzukommen muss, dass das Kind oder der Jugendliche aufgrund der Krankheit in Wechselwirkung mit der Umwelt an der gleichberechtigten Teilhabe gehindert ist (eingehend zum Behinderungsbegriff Abschn. 3.1). Liegt eine Behinderung vor, werden Krankenkassen zu Rehabilitationsträgern und die kinder- und jugendpsychiatrisch/-psychotherapeutische Versorgung zur medizinischen Rehabilitation und damit Leistung zur Teilhabe. Die Krankenkassen und ihre Leistungen unterfallen dem Regelungsregime des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX). Im SGB IX sind die Rehabilitationsträger bei der Gewährung von Leistungen zur Teilhabe einheitlichen und für alle verbindlichen Verfahrensvorgaben unterworfen (§ 7 Abs. 2 SGB IX). Die Teilhabeleistung ist klar als vorrangig markiert. Erkennung und Ermittlung des Teilhabebedarfs, Zuständigkeitsklärung und Koordination der Leistungen aus unterschiedlichen Systemen erhalten einen strengen, fristgebundenen Rahmen (Abschn. 3.5).
Jenseits der ärztlichen Krankenbehandlung und Prävention ist für Leistungen für Kinder und Jugendliche mit (drohender) seelischer Behinderung in erster Linie die Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) als Reha-Träger zuständig. Wird wegen einer seelischen Behinderung Eingliederungshilfe gewährt (§ 35a SGB VIII, § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX), ist entsprechender heilberuflicher Sachverstand gesetzlich verpflichtend in die Feststellung der Leistungsvoraussetzungen eingebunden. Primär in der Norm erwähnt werden Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, aber auch approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Um die Feststellungen aber auch in schlechter versorgten, z. B. ländlichen, Regionen zu ermöglichen, gibt es auch die Möglichkeit, andere Ärzte mit Erfahrungen in der Behandlung entsprechender Kinder und Jugendlicher oder Erwachsenenpsychotherapeuten mit einzubeziehen. Diese Angehörigen der Heilberufe sollen an der Hilfeplanung fortwährend beteiligt werden, um die Versorgung aufgrund der psychischen Erkrankung mit den erzieherischen Hilfen in oder außerhalb der Familie zu koordinieren (Abschn. 4.2.1).
Tritt zur seelischen auch eine geistige und/oder körperliche Behinderung hinzu, erklärt das Sozialgesetzbuch nicht die Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII, sondern die Eingliederungshilfe nach SGB IX (bis 31.12.2019: SGB XII) zum vorrangig für die Gewährung von Leistungen zuständigen System (§ 10 Abs. 4 SGB VIII). Für die Abgrenzung zur geistigen Behinderung wird eine numerisch „scharfe“, aber in der Lebensrealität relative Grenze gesetzt. Maßgeblich ist, ob beim betreffenden Kind oder Jugendlichen ein Intelligenzquotient von 70 oder darüber (dann Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII) oder von 69 oder darunter (dann Eingliederungshilfe nach SGB IX [SGB XII]) gemessen wird. Liegt eine körperliche und/oder geistige Behinderung vor, ist das SGB-IX-System vorrangig zuständig, wenn in der Hilfe zumindest auch auf den betreffenden Teilhabebedarf eingegangen wird. Für die seelische Behinderung werden nach SGB IX spezifische Leistungen zur sozialen Teilhabe, zur Teilhabe an Bildung, am Arbeitsleben und zur medizinischen Rehabilitation gewährt (Abschn. 4.2.2). Erzieherische Hilfen fallen durch die Zuständigkeitssplittung häufig aus dem unmittelbaren Fokus, weshalb auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie seit Langem und mit Nachdruck eine Bündelung der Zuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen im SGB VIII fordert (DGKJP et al. 2016).
Jugendliche mit psychischer Störung beziehungsweise seelischer Behinderung können daneben Bedarf an Eingliederung in Arbeit haben. Entsprechende Ansprüche können sich ergeben gegenüber dem örtlichen Jobcenter auf Grundlage des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II). Allerdings besteht die Leistungszuständigkeit des SGB II nur soweit, als der Jugendliche nicht in der Lage ist, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, und nur dann, wenn sein Lebensunterhalt nicht durch Angehörige, die Träger der öffentlichen Jugendhilfe oder eigenes Einkommen gesichert ist (§§ 8, 9 SGB II). Fällt ein Jugendlicher aus dem Anwendungsbereich des SGB II, hat er stattdessen regelmäßig zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts – soweit dieser nicht im Rahmen einer stationären Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe gesichert ist (§ 39 SGB VIII) – Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Leistungen der Arbeitsförderung gehen spezifisch auf eine mögliche Behinderung ein und werden nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) gewährt.
Haben Kinder und Jugendliche nicht nur einen Bedarf an kinder- und jugendpsychiatrischer Versorgung, sondern auch gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen ihrer Selbstständigkeit oder Fähigkeiten und bedürfen deshalb der Hilfe durch andere, gelten sie als pflegebedürftig. Sie haben Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI).
Hat die Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen seine Ursache in einer Gewalttat, kommen Ansprüche gegenüber der Versorgungsverwaltung in Betracht, die gemäß dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) als Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) gewährt werden. Voraussetzung ist ein „tätlicher Angriff“ in einem weiten Begriffsverständnis von einer unmittelbar auf den Körper eines anderen Menschen zielenden Einwirkung in feindseliger Willensrichtung. Hierzu zählen körperliche und psychische Misshandlung, sexueller Missbrauch und auch Vernachlässigung von Kindern. Insbesondere die Unterbringungskosten werden vom Versorgungsamt übernommen (§ 27d BVG) und es kann eine Ausgleichsrente gewährt werden (§ 34 BVG). Gerade weil verschiedene Formen der Kindesmisshandlung und Vernachlässigung nicht selten kombiniert auftreten, ist der strenge kausale Nachweis der Tatfolgen, wie er im OEG verlangt wird, z. B. bei schweren, fortgesetzten Missbrauchstaten an Kindern, die ohnehin schon in ihrer Entwicklung beeinträchtigt waren, kaum zu führen. Auf diese Problematik wurde schon im Abschlussbericht des Runden Tisches sexueller Kindesmissbrauch hingewiesen. Ein bislang zeitlich begrenzt eingerichteter Fonds sexueller Kindesmissbrauch konnte Hilfen bis zu einer Obergrenze, auch alternative Therapieformen nach einem Anerkennungsverfahren gewähren.
Für geflüchtete Kinder und Jugendliche ohne gesicherten Aufenthaltsstatus werden Leistungen bei Krankheit zunächst nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) gewährt. Dort sind sie beschränkt auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände (§ 4 Abs. 1 AsylbLG). Bei Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz wird für unbegleitete Minderjährige oder Kinder und Jugendliche, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, die erforderlichen medizinischen und sonstigen Hilfen gewährt (§ 6 Abs. 2 AsylbLG). Die Leistungen sind in der Regel über die zuständigen Sozialämter abzurechnen; die Behandlung ist diesen – außer in Notfällen – grundsätzlich vorab anzuzeigen. Unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche werden im Rahmen von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht und erhalten daher Krankenhilfe entsprechend den Krankenkassenleistungen nach § 40 SGB VIII. Nach einem Aufenthalt von 15 Monaten im Bundesgebiet erhalten begleitet geflüchtete beziehungsweise eingereiste ausländische Kinder und Jugendliche Leistungen der Hilfe bei Krankheit entsprechend der Sozialhilfe nach SGB XII (§ 2 Abs. 1 AsylbLG). Ausführlich zur Krankenversorgung, insbesondere mit der Familie geflüchteter Kinder und Jugendlichen (siehe Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen, Fegert et al. 2017a, b).

Systematisierung

Das zunehmende Bestreben des Gesetzgebers, die Sozialleistungsbereiche gesetzlich aufeinander zu beziehen, hat zu einem verzweigt-verschachtelten Bezugsrahmen geführt, der sich zwar abstrakt einer Systematisierung unterziehen lässt. Eine Verbildlichung macht die Komplexität gleichwohl deutlicher (Abb. 1):
Auch über dem Sozialrecht steht das Grundgesetz und die internationalen Menschenrechtsübereinkommen, insbesondere die UN-Kinderrechtskonvention und die UN-Behindertenrechtskonvention. Das Sozialrecht mit seinen dreizehn Büchern und weiteren besonderen Teilen (Übersicht) stellt den Hauptbezugsrahmen für die Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie dar. Allgemeine Vorschriften, die quer über die Leistungsgesetze des Sozialgesetzbuchs gelten, finden sich im Allgemeinen Teil (SGB I) und in den allgemeinen Regeln zum Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X), Letzterer seit Mai 2018 hinterlegt durch die Datenschutz-Grundverordnung der EU; für die verschiedenen Sozialversicherungen enthält das SGB IV gemeinsame Vorschriften (weiße Kästen in Abb. 1). Zu den Sozialversicherungen zählen die Arbeitslosen- (SGB III), Kranken- (SGB V), Renten- (SGB VI), Unfall- (SGB VII) und soziale Pflegeversicherung (SGB XI) (rechts in Abb. 1). Die weiteren Sozialleistungsgesetze betreffen steuerfinanzierte Systeme; dies sind die Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II), Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), Eingliederungshilfe (SGB IX) und Sozialhilfe (SGB XII), aber auch etwa das Bundesversorgungsgesetz die soziale Entschädigung (SGB XIV; BVG) (links in Abb. 1).
Das SGB IX ist hybrid. Einerseits ist es eigenes Leistungsgesetz für die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, zum anderen rahmt und koordiniert es die Leistungen der Rehabilitationsträger. Zu den Rehabilitationsträgern zählen zudem die gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), die Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), die Sozialhilfe (SGB XII), die Arbeitsförderung (SGB III) und das Bundesversorgungsgesetz die soziale Entschädigung bei Gesundheitsschäden (SGB XIV) (grüne Kästen in Abb. 1).
Das Asylbewerberleistungsgesetz kann als Stiefkind im Kanon der Leistungsgesetze bezeichnet werden. Faktisch ist es durch zahlreiche Verknüpfungen im Sozialgesetzbuch untergebracht, aber formal wird ihm die Zugehörigkeit zur Sozialgesetzbuch-Familie versagt (grauer Kasten in Abb. 1).
Kinderschutz als systemübergreifende Querschnittsaufgabe findet jenseits der Sozialgesetzbücher rechtliche Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen und für die Beratung und Übermittlung von Informationen bei Kindeswohlgefährdung im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) (Abschn. 5). Die Netzwerkstrukturen bilden eine Klammer und betonen den gesamtgesellschaftlichen Charakter von Kinderschutz über die Grenzen der Sozialleistungsbereiche hinweg (oranger Kasten in Abb. 1). Lediglich die Behörden nach dem Asyl- und Aufenthaltsrecht mit Asylbewerberleistungsgesetz sind rechtlich noch nicht in den Kinderschutz eingebunden.

Krankenversorgung

Einleitung

Im Rahmen von Bismarcks Sozialreformen wurden im 19. Jahrhundert 1881 zunächst die gesetzliche Krankenversicherung, 1884 die gesetzliche Unfallversicherung und dann 1889 die gesetzliche Invalidenversicherung eingeführt. Diese drei aufeinander bezogenen Gesetze haben bis heute grundlegende Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen SGB V und Leistungen zur Teilhabe. Schon damals ging es dem Gesetzgeber um den Ausschluss sogenannter „stationärer Erkrankungen“, also Erkrankungen, die einen chronischen Zustand der Beeinträchtigung beschreiben, damals „Krüppel und Sinnesbehinderte“ aus der Krankenversicherung. Anfang des 20. Jahrhunderts fand 1906 eine erste „Reichskrüppelzählung“ statt (Osten 2004). Bezeichnend war vor dieser epidemiologischen Erhebung die Debatte zwischen dem Orthopäden Biesalski, dem Gründer des Berliner Oskar-Helene-Heims, und dem Präsidenten des damaligen Reichsgesundheitsamts über die Formulierung des Begriffs „Krüppel“. Aus wissenschaftlicher Sicht schwebte Biesalski die Erfassung aller Fehlbildungen vor, während die Gegenseite nur Personen zählen wollte, „welche durch Verlust oder Gebrauchsunfähigkeit eines oder mehrerer Glieder in ihrer Erwerbsfähigkeit gänzlich behindert oder wenigstens beschränkt“ sind.
Diese Debatte war die Geburtsstunde der noch bis heute relevanten Unterscheidung zwischen einer deskriptiven Diagnose nach den jeweils geltenden diagnostischen Systemen und einer (drohenden) Behinderung, welche sich tatsächlich auf die Teilhabe auswirkt. Zunächst war der Teilhabeaspekt allerdings damals allein auf die Erwerbsfähigkeit eingegrenzt. Bislang gibt es, vor dem Hintergrund dieser Vorgeschichte, auch noch eine unterschiedliche Feststellungslogik in Kinder- und Jugendhilfe einerseits und Sozialhilfe andererseits. Im Sozialhilfekontext ist der verpflichtende Rechtsanspruch nach § 53 Abs. 1 SGB XII/§ 99 SGB IX-2020 an das Kriterium „wesentliche Behinderung“ geknüpft. Bei der Feststellung der wesentlichen Behinderung bedienen sich viele Amtsärzte des Katalogs der Eingliederungshilfeverordnung, in dem einzelne Krankheitsbilder mit teilweise für heutige Ohren absurd anmutenden deskriptiven Diagnosen der 1950er-Jahre beschrieben sind. § 35a SGB VIII hingegen verzichtet auf das Kriterium der Wesentlichkeit in Bezug auf die (drohende) Behinderung bei der Feststellung der Anspruchsberechtigung; auf die Eingliederungshilfeverordnung wird nicht verwiesen, und die Regelung enthält kein Erfolgskriterium. Diese Unterschiede müssen auch beim Übergang von Kindern und Jugendlichen in das Erwachsenensystem beachtet werden. Eine Evaluation zum Ansatz einer Quantifizierung und Verrechnung der Lebensbereiche in Alternative zum Wesentlichkeitskriterium, wie ihn das Bundesteilhabegesetz ursprünglich vorgesehen hatte, hat ergeben, dass immer eine Restgruppe verbleibt, die ihre bisherige Leistungsberechtigung verlieren würde, und eine Gruppe, die bisher nicht leistungsberechtigt war, aber zukünftig leistungsberechtigt würde. Hierzu zählen in beiden Richtungen überdurchschnittlich häufig auch Menschen mit seelischer Behinderung oder Suchterkrankung (ISG und transfer 2018). Aktuell hält die Suche nach einem Regelungskonzept ab 2023 an.
Die geregelte diagnostische Grundlage für die Feststellung einer möglicherweise anspruchsbegründenden seelischen Störung ist die Krankheitsfeststellung nach der jeweils geltenden Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (ICD) in der amtlichen deutschen Fassung (GM = German Modification). Beim Übergang zwischen ICD-10 und ICD-11 wird sich die Feststellungsgrundlage erst zur ICD-11 ändern, wenn also die amtliche deutsche Fassung veröffentlicht worden ist und ihre Geltung für das SGB V geregelt worden ist. Bei der Teilhabe wird zwischen fünf Leistungsgruppen unterschieden: medizinische Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben, unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, Teilhabe an Bildung, soziale Teilhabe (§ 5 SGB IX).

Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie als Krankenversorgung nach SGB V

Das SGB V regelt die Krankenversorgung der Versichertengemeinschaft (Solidargemeinschaft). Zentral ist für die Krankenversorgung das „Wirtschaftlichkeitsgebot“ (§ 12 SGB V). Leistungen müssen „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“. Der Gemeinsame Bundesausschuss (Abschn. 1.2) entscheidet darüber, was nach evidenzbasierten, wissenschaftlichen Erkenntnissen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist. Für entsprechende Feststellungen im Bereich der Psychotherapie bedient er sich der Expertise des wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie. So wird geregelt, welche Psychotherapieverfahren in Deutschland erstattungsfähig sind. Angebote der Krankenversorgung können unterschieden werden in die vertragsärztliche Versorgung, z. B. durch niedergelassene Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, und in die Krankenhausbehandlung. Diese kann mit entsprechender vergleichbarer Intensität auch mittlerweile als stationsäquivalente Behandlung, z. B. im Hometreatment, erbracht werden (Abschn. 2.4).
Die vertragsärztliche ambulante Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgt durch zugelassenes ärztliches Personal und neuerdings auch durch medizinische Versorgungszentren, die auch Ärzte anstellen können (§ 73 SGB V). Medizinische Einrichtungen von Krankenhäusern wie kinder- und jugendpsychiatrische Institutsambulanzen (§ 118 Abs. 2 SGB V) und Sozialpädiatrische Zentren (§ 119 SGB V) sind in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit meist chronifizierten psychischen oder kombinierten Gesundheitsstörungen ambulant tätig. Des Weiteren kann die Versorgung im Rahmen einer Ermächtigung oder durch Hochschulambulanzen bzw. staatlich anerkannte psychotherapeutische Ausbildungsstätten (§ 117 SGB V) erfolgen. Die letzten, im Rahmen des APK-Berichts 2017 (a. a. O.) veröffentlichten Inzidenzzahlen für die vertragsärztliche ambulante Versorgung betreffen das Jahr 2012. Im diesem erhielten 253.539 Kinder und Jugendliche erstmals eine „F-Diagnose“. Dies entspricht etwa 2 % der gesetzlich krankenversicherten Kinder und Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 20 Jahre. Die Erstdiagnose einer psychischen Störung bei Patienten im ambulanten Versorgungssytem erfolgt mehrheitlich nicht durch Fachspezialisten für psychische Störungen, primär werden Kinderärzte und Hausärzte aufgesucht. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wurden im Jahr 2014 (Quelle APK-Bericht 2017) 429.760 Kinder und Jugendliche bei einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Dabei waren zu diesem Zeitpunkt etwas über 1000 niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeuten in Deutschland tätig. Stationäre und teilstationäre Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher im Rahmen des SGB V ist durch einen Anstieg der behandelten Patienten bei gleichzeitig kürzeren Liegezeiten charakterisiert (Plener et al. 2015a, b). Nach der Gesundheitsberichtserstattung des Bundes gab es 2014 143 Fachabteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit 6065 Betten und einem Nutzungsgrad von 92,8 % (vgl. Nutzungsgrad Pädiatrie 66,3 %). Teilstationäre Plätze sind in der Berichterstattung des statistischen Bundesamts nicht enthalten. Stationäre und teilstationäre Behandlung geschieht in einem multiprofessionellen Team unter fachärztlicher Leitung.

Sozialpsychiatrie-Vereinbarung (§ 85 Abs. 2 Satz 4 und § 43a SGB V)

Die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem GKV-Spitzenverband im Jahr 2009 geschlossene Sozialpsychiatrievereinbarung (SPV) hat das ambulante Versorgungsspektrum in der Kinder- und Jugendpsychiatrie erheblich erweitert. 2013 erfolgte eine systematische Evaluation durch die KBV, an der 85 % aller an der Vereinbarung teilnehmenden Ärzte (entsprechen 605 Ärzte) teilnahmen. Die Ärzte arbeiten in der Praxis hauptsächlich zusammen mit Sozialpädagogen, Sozialarbeitern, Psychologen, Heilpädagogen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Meist externe Kooperationspartner sind Ergotherapeuten, Kinder- und Jugendmediziner, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Logopäden. Zentral ist auch die Vernetzung mit Schulen, Schulpsychologie, Jugendämtern und Beratungsstellen. Fast ¾ der Patienten wird in SPV-Praxen nicht medikamentös behandelt. Bei 85 % der Patienten steht die psychiatrisch psychotherapeutische Behandlung, unter Einbeziehung der Eltern, im Vordergrund (Evaluationsbericht KBV 2015).

Weiterentwickelte Versorgung und Vergütung nach PsychVVG

Das PsychVVG ändert zahlreiche Gesetze und Verordnungen (Artikelgesetz), u. a. SGB V, KHG, Bundespflegesatzverordnung und PsychPV. Im Rahmen dieses Gesetzes hat der Gemeinsame Bundesausschuss (Abschn. 1.2) die Aufgabe erhalten, Maßnahmen zur Sicherung der Qualität in der psychiatrischen psychosomatischen Versorgung zu beschließen. Hierfür hat der G-BA eine Expertengruppe eingerichtet und eine Untersuchung zum Bestand vergeben. Im PsychVVG wurde auch die Definition von Krankhausbehandlung weiter entwickelt.
Nach § 39 SGB V gilt nun, dass Krankenhausbehandlung vollstationär, stationsäquivalent, teilstationär, vor- und nachstationär sowie ambulant erbracht werden kann. Damit sind aufsuchende und ambulante Versorgungsanteile als neue Elemente deutlich für die gesamte medizinische Krankenhausversorgung im Rahmen des SGB V unterstrichen worden. § 136a Abs. 2 SGB 5 sieht explizit vor, dass der Gemeinsame Bundesausschuss bis zum 1. Januar 2020 verbindliche Mindestvorgaben. Für die Ausstattung mit dem für die Behandlung erforderlichen therapeutischen Personal in der vollstationären, teilstationären und stationsäquivalenten Krankenhausbehandlung in der Psychiatrie und Psychosomatik hat der Gemeinsame Bundesausschuss(G-BA) auftragsgemäß nach § 136a im Absatz 2 Satz 1 SGB V eine Richtlinie erarbeitet, die am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist. Die Richtlinie formuliert Mindestvorgaben, die sich an der abgelaufenen Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) orientieren. Eine verbindliche Weiterentwicklung mit Zeitvorgabe ist in der Richtlinie vorgeschrieben. Bezüglich der Sanktionsregelungen bei Nichteinhaltung ist diese Richtlinie zuletzt geändert worden am 18. März 2021. Im § 136 a SGB V ist zudem die Festlegung weiterer Indikatoren zur Beurteilung der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität für die einrichtungs- und sektorenübergreifende Qualitätssicherung in der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung durch den G-BA vorgesehen. Dieser Auftragsbereich ist beim G-BA noch in der Bearbeitung.
Stationsäquivalente Behandlung (§ 115d Abs. 1 SGB V) erweitert die bisherige Möglichkeit, z. B. im Rahmen von Modellvorhaben nach § 64b SGB V (Modellvorhaben zur Versorgung psychisch kranker Menschen oder nach § 140a „besondere Versorgung“). Die Vergütung der Krankenhäuser erfolgt gemäß § 39 SGB V nach Bewertungsrelationen. Diese sind „relativ gewichtet auf eine Bezugsleistung“. Die stellen quasi die „Währung“ in der Krankenhausbehandlung dar (§ 17d KHG). Nach Abs. 1 Satz 4 hat das Vergütungssystem „den unterschiedlichen Aufwand der Behandlung bestimmter, medizinisch unterscheidbarer Patientengruppen abzubilden; dabei muss unter Berücksichtigung des Einsatzzwecks des Vergütungssystems als Budgetsystem sein Differenzierungsgrad praktikabel und der Dokumentationsaufwand auf das notwendige Maß begrenzt sein.“

Krankenhilfe außerhalb des SGB V

Kinder- und jugendpsychiatrische Dienste sind in einigen Bundesländern vorhanden. Als gesetzliche Grundlage fungiert das jeweilige ÖGDG, die PsychKHGs der Länder sowie Schulgesetze und andere Ländergesetze. Aufgaben der kinder- und jugendpsychiatrischen Dienste im öffentlichen Gesundheitswesen sind die Beratung der Familie, Hausbesuche und zum Teil Kriseninterventionen. Kinder- und Jugendpsychiater im ÖGDG können an Fallkonferenzen, Hilfeplanungen und Clearing-Verfahren teilnehmen. Im Sinne amtsärztlicher Tätigkeit erstellen sie Gutachten zur Eingliederungshilfe und auch Unterbringungsgutachten sowie Stellungnahmen im Rahmen des § 35a SGB VIII.

Diagnostik als Teil der Feststellung von Behinderung

Behinderungsbegriff und biopsychosoziales Modell

Kinder und Jugendliche mit psychischer Störung sind dann behindert im Sinne des Sozialgesetzbuchs, wenn ihre seelischen Beeinträchtigungen sie „in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Mit dem Bundesteilhabegesetz wurde dem Behinderungsbegriff nunmehr also in Anlehnung an die UN-Behindertenrechtskonvention das biopsychosoziale Modell zugrunde gelegt (Abb. 2). Behinderung wird weder allein an den individuellen Beeinträchtigungen und Eigenschaften des Menschen festgemacht („Er ist behindert“) noch allein an Barrieren („Er wird behindert“), sondern stellt auf ein Wechselwirkungsergebnis der unterschiedlichen objektiven und subjektiven Wirkfaktoren auf die Teilhabe ab (Schönecker 2018). Es korreliert insoweit mit dem Modell der Funktionsfähigkeit und Behinderung nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY), die einen mehrperspektivischen Zugang wählt im Sinne eines interaktiven und sich entwickelnden Prozesses (WHO 2011).

Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs (§ 13 SGB IX)

Wenn ein (möglicher) Bedarf wegen einer Behinderung bekannt wird, sind Rehabilitationsträger verpflichtet, den individuellen Rehabilitationsbedarf zu ermitteln. Sie müssen zur „einheitlichen und überprüfbaren Ermittlung […] systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel (Instrumente)“ verwenden (§ 13 Abs. 1 SGB IX). Diese Vorgabe gilt für alle Rehabilitationsträger, also auch für Krankenkassen (§ 7 Abs. 2 SGB IX).
Hintergrund der verbindlichen Nutzung von Instrumenten ist insbesondere die Beförderung einer trägerübergreifenden Zusammenarbeit. Der Rehabilitationsbedarf soll sowohl verlässlich als auch nach möglichst einheitlichen Maßstäben ermittelt werden, um eine nahtlose Leistungserbringung zwischen den Systemen sicherzustellen. Ziele dieser Instrumente sind folglich die Vergleichbarkeit und die Sicherung eines wirkungsvollen Ineinandergreifens sowie die Gewährleistung einer individuellen und funktionsbezogenen Bedarfsermittlung sowie die Sicherung der Dokumentation und Nachprüfbarkeit der Bedarfsermittlung (§ 13 Abs. 2 SGB IX). Der Begriff der „Instrumente“ gilt als übergeordnete Bezeichnung für Arbeitsprozesse und Arbeitsmittel. Diese müssen und können nicht in allen Rechtskreisen identisch sein. Allerdings geben gemeinsame Empfehlungen einen Rahmen mit „Grundsätzen für Instrumente zur Bedarfsermittlung“ (§ 13 Abs. 1 in Verbindung mit § 26 Abs. 2 SGB IX; BAR 2018).
Nach dem verpflichtend anzuwendenden gemeinsamen Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR 2018) bedeutet „individuelle Bedarfsermittlung und -feststellung […] insbesondere, dass die aktuelle Lebenssituation des Individuums mit seinen jeweiligen Kompetenzen und Unterstützungsbedarfen den Ausgangspunkt der Ermittlung darstellen. […] Dabei sind die Wünsche, Vorstellungen, Bedürfnisse und Ziele des Leistungsberechtigten zu ermitteln und einzubeziehen. […] Funktionsbezogen ist die Bedarfsermittlung und -feststellung, wenn sie unter Nutzung des bio-psycho-sozialen Modells der WHO erfolgt und sich dabei an der ICF orientiert. Dies beinhaltet die Erhebung aller erforderlichen Informationen zu den Ausprägungen und Auswirkungen eines Gesundheitsproblems (Schädigungen von Körperstrukturen und -funktionen, Beeinträchtigungen Aktivitäten und Teilhabe) in verschiedenen Lebensbereichen sowie die im Einzelfall bedeutsamen Kontextfaktoren und die Beachtung der Wechselwirkungen untereinander.“
Die inhaltlichen Mindestanforderungen sind die Prüfung,
  • ob eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht,
  • welche Auswirkung die Behinderung auf die Teilhabe der Leistungsberechtigten hat,
  • welche Ziele mit den Leistungen zur Teilhabe erreicht werden sollen,
  • welche Leistungen im Rahmen einer Prognose zur Erreichung der Teilhabeziele voraussichtlich erfolgreich sind.

Begutachtung nach § 17 SGB IX

Der leistende Rehabilitationsträger ist gehalten, wenn erforderlich, für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs ein Gutachten zu beauftragen und die in dem Gutachten getroffenen Feststellungen seinen Entscheidungen zugrunde zu legen (§ 17 SGB IX). Sind mehrere Rehabilitationsträger an der Deckung des Bedarfs beteiligt, soll eine Abstimmung über Anlass, Ziel und Umfang der Begutachtung getroffen werden, um unnötige Mehrfachbegutachtungen zu vermeiden (§ 17 SGB IX).
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie wird sich in ihrer Diagnostik regelmäßig auf das Multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 stützen:
  • Die gutachtlichen Ausführungen zur Achse I (klinisch-psychiatrisches Syndrom), Achse II (umschriebene Entwicklungsrückstände), Achse III (Intelligenzniveau) und Achse IV (Körperliche Symptomatik) beziehen sich auf die Krankheit als Teil des biopsychosozialen Modells.
  • Mit Achse V (assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände) und Achse VI (globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus) sind auch der Teilhabebedarf und die Wechselwirkungen angesprochen.

Gutachten nach § 35a Abs. 1a SGB VIII

Steht die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe wegen (drohender) seelischer Behinderung (§ 35a SGB VIII) im Raum, so strukturiert das Gesetz das Zusammenspiel zwischen dem leistungsverantwortlichen Jugendamt und der diagnostisch begutachtenden Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie ganz dezidiert:
Der bereichsspezifische Behinderungsbegriff ist – weiterhin – binär beschrieben. Eine seelische Behinderung liegt vor, wenn
  • die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und
  • daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 SGB VIII).
Die seelische Gesundheit wird somit medizinisch als psychische Störung und damit als medizinische Diagnose beschrieben, die ihrerseits auf kategorialen oder dimensionalen Symptomen beruht, die ein Kind oder Jugendlicher zeigt und die entsprechend einem Klassifikationssystem eingeteilt werden (AGJ et al. 2019). Das Jugendamt hat zur Prüfung der Leistungsvoraussetzungen zwingend die Stellungnahme eines Arztes der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie oder eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten einzuholen. Diese ist gesetzlich vorgegeben – auf Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen (derzeit noch ICD-10). Für die Stellungnahme kann der Kinder- und Jugendpsychiater/-psychotherapeut vom Jugendamt eine Vergütung in Anlehnung an die Sätze des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes für die Erstellung von Sachverständigengutachten in Gerichtsverfahren beanspruchen; die Kosten der Diagnostik ist mit der Krankenversicherung abzurechnen. Eine spätere Hilfe soll nicht von der Person, dem Dienst oder der Einrichtung erbracht werden, die beziehungsweise der die Stellungnahme abgegeben hat (§ 35a Abs. 1a SGB VIII). Die Prüfung der Teilhabebeeinträchtigung ist – so die Intention dieser strikten Aufgabenzuteilung – primär Sache des Jugendamts (Wiesner 2015; Münder et al. 2018).
In der Praxis kommt es bei der Prüfung der Leistungsvoraussetzungen nach § 35a SGB VIII immer wieder zu Konflikten. Bei aller gesetzlichen Zweiteilung kann kinder- und Jugendpsychiatrische/-psychotherapische Diagnose die Teilhabedimensionen nicht ausblenden; sie sind mit dem multiaxialen Klassifikationsschema fester Bestandteil der Diagnostik. Andererseits gilt es, die mitunter begrenzten Zugänge zur Beurteilung der Teilhabebeeinträchtigung zu berücksichtigen und klar zu differenzieren zwischen der psychischen Krankheit und dem Teilhabebedarf (DGKJP et al. 2014; zur Koordinierung im Rahmen der Hilfeplanung Abschn. 4.1).

Fristen zur Feststellung des leistenden Rehabilitationsträgers (§§ 14 ff. SGB IX)

Sozialleistungen im Allgemeinen und Leistungen für Menschen mit Behinderungen bewegen sich in einem komplexen Geflecht unterschiedlicher Rehabilitationsträger (Abschn. 1). Das Recht hat die Aufgabe, Trennlinien zu ziehen und den beziehungsweise die jeweils zuständigen Träger zu bestimmen. Da die Lebenswirklichkeit der Menschen jedoch nicht ohne Weiteres rechtlich eindeutig zu kategorisieren ist, gibt der Gesetzgeber vor, wie die Rehabilitationsträger in einem verbindlichen und fristgebundenen Verfahren die Zuständigkeit zu klären haben (§§ 14 ff. SGB IX). Ziel ist die zeitnahe Feststellung des leistenden Rehabilitationsträgers. Damit dies gelingt, sollen Instrumente zur Bedarfsfeststellung eingesetzt werden (Abschn. 3.2). Sofern Leistungen weiterer Rehabilitationsträger erforderlich sind, dient die Zuständigkeitsklärung gleichzeitig der Koordinierung des Teilhabeprozesses durch den „fallverantwortlichen Rehabilitationsträger“ (v. Boetticher 2018; Abschn. 4.2). Vorgegeben sind nach § 14 SGB IX folgende verbindliche Verfahrensabläufe:
Geht bei einem Rehabilitationsträger ein Antrag ein (= erstangegangener Rehabilitationsträger), prüft dieser innerhalb von zwei Wochen, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz (SGB VIII) für die Leistung zuständig ist (§ 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Ein entsprechend fristauslösender Antrag liegt vor, wenn Unterlagen vorliegen, die eine Zuständigkeitsbeurteilung ermöglichen, insbesondere die Erkennbarkeit der Identität sowie ein konkretisierbares Leistungsbegehren wegen einer Behinderung. Maßgeblich ist der Tag der (qualifizierten) Kenntnis von einem voraussichtlichen Rehabilitationsbedarf, nicht notwendig der Tag des Antragseingangs (BAR 2018).
Stellt der erstangegangene Rehabilitationsträger bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung insgesamt nicht zuständig ist, hat er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zuzuleiten (= zweitangegangener Rehabilitationsträger) und über diese Weiterleitung den Antragsteller zu unterrichten (§ 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX). In diesem Fall wird der zweitangegangene Rehabilitationsträger „leistender Rehabilitationsträger“ im Sinne des SGB IX und kann den Antrag grundsätzlich nicht erneut weiterleiten. Eine Ausnahme besteht, wenn sie im Einvernehmen mit dem drittangegangenen Rehabilitationsträger noch innerhalb der bereits laufenden Fristen erfolgt (sog. „Turbo-Klärung“, § 14 Abs. 3 SGB IX) (Schönecker 2018).
Die Kinder- und Jugendpsychiater/-psychotherapeuten sind nicht Rehabilitationsträger, sondern die Krankenkasse, bei welcher der jeweilige Patient versichert ist. Ansinnen auf Leistungen, etwa Therapien, für die erkennbar bei der Krankenkasse keine Leistungszuständigkeit besteht, wären dieser zur weiteren Feststellung des zuständigen Rehabilitationsträgers mitzuteilen. Allerdings ist Gesetzesintention des § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX, eine Weiterleitung eines „Gesamt-Antrags“ auch für alle Fälle auszuschließen, in denen der jeweilige Rehabilitationsträger für die Erbringung zumindest einer der vom Antrag umfassten Leistungen in Betracht kommt (BAR 2018). Wenn der Teilhabebedarf als Erstes in der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie bekannt geworden ist, kommt der Krankenkasse daher in diesem Fall die Leistungs- und Koordinierungsverantwortung zu und sie kann diese nicht weiterreichen.
Sowohl wenn der erstangegangene Rehabilitationsträger keine Weiterleitung vorgenommen hat und er damit zum „leistenden Rehabilitationsträger“ geworden ist als auch wenn eine Weiterleitung erfolgt ist und damit der zweitangegangene als „leistender Rehabilitationsträger“ gilt, sind im Weiteren dieselben Verfahrensvorgaben zu beachten. So besteht die Pflicht, den Rehabilitationsbedarf unverzüglich und umfassend entsprechend festzustellen (Abschn. 3.2) und die Leistungen zu erbringen (§ 14 Abs. 2 SGB IX). Es gelten ausgesprochen knapp bemessene Entscheidungsfristen zur Feststellung des Teilhabebedarfs und Gewährung von Leistungen (Abb. 3):
  • drei Wochen nach Antragseingang/Kenntnis, wenn kein Gutachten erforderlich ist (§ 14 Abs. 2 S. 2 SGB IX),
  • zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens, wenn ein solches erforderlich ist (§ 14 Abs. 2 S. 3 SGB IX),
  • sechs Wochen nach Antragseingang, bei Beteiligung mehrerer Rehabilitationsträger, wobei die Feststellungen zum Teilhabebedarf eines Rehabilitationsträgers den anderen binden, wenn dieser nicht zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens eigene Feststellungen vorlegt (§ 15 SGB IX; Abschn. 4.2),
  • zwei Monate nach Antragseingang bei Durchführung einer Teilhabeplankonferenz (§ 20 SGB IX; Abschn. 4.2).
Leistet aufgrund eines Fristversäumnisses oder einer unberechtigten Weiterleitung ein unzuständiger Rehabilitationsträger, kann dieser vom zuständigen nachträgliche Kostenerstattung verlangen (§ 16 SGB IX). Idee ist also, Auseinandersetzungen über die Zuständigkeit nicht auf dem Rücken der Leistungsberechtigten auszutragen, sondern zwischen den Rehabilitationsträgern.

Koordinierung der Leistungen

Kinder- und Jugendhilfe als zentraler Kooperationspartner

Zentrales System für Hilfen zur Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie zu ihrer „Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) ist die Kinder- und Jugendhilfe. In ihr erhält der Staat beziehungsweise die Jugendämter und die Träger der freien Jugendhilfe – anders als die Schulen – kein eigenes Erziehungsrecht, sondern ein abgeleitetes. In den Hilfen ist sowohl das wachsende Bedürfnis des Kindes oder Jugendlichen zu selbstständigem, verantwortungsbewusstem Handeln, ist die von den Personensorgeberechtigten bestimmte Grundrichtung der Erziehung und sind die jeweiligen besonderen sozialen und kulturellen Bedürfnisse und Eigenarten junger Menschen und ihrer Familien zu berücksichtigen (§ 9 SGB VIII).
Ausgehend von diesen Leitlinien hält das SGB VIII ein hoch ausdifferenziertes Leistungsspektrum parat, das gleichzeitig ausreichend Raum lässt, um mit den jeweiligen Hilfen an der Lebenswelt und den individuellen Bedürfnissen der Kinder, Jugendlichen und Erziehungspersonen in all ihrer Eigensinnigkeit anknüpfen zu können. Zur breiten Angebotspalette gehören die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (§§ 22 ff. SGB VIII), gestaltungsoffene, niedrigschwellige Angebote zur allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie (§ 16 SGB VIII), die Beratung und Unterstützung bei Paarkonflikten, Trennung und Scheidung, inklusive begleiteten Umgangs (§§ 17, 18 SGB VIII) oder die Unterbringung in einer Mutter/Vater-Kind-Einrichtung. An der Schnittstelle zur Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie liegen vor allem die Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII), zu denen auch die Erziehungsberatungs- und Spezialberatungsstellen zum Kontext Kinderschutz- und sexuelle Gewalt zählen, und die Eingliederungshilfe bei (drohender) seelischer Behinderung (§ 35a SGB VIII; Abschn. 3.4). Beschrieben sind verschiedene ambulante, teilstationäre und stationäre Leistungen (Abb. 4). Der Leistungskatalog der Hilfen zur Erziehung ist allerdings explizit offen gestaltet und lässt Spielraum für individuelle, flexible Gestaltung (§ 27 Abs. 2 SGB VIII). Junge Volljährige erhalten die verschiedenen Leistungsarten als Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII).

Koordinierte Planung

Mit Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in der Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII)

Das Gesetz normiert in der Kinder- und Jugendhilfe fachliche Standards für die Kooperation in der Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII). Erste Adressaten und Kooperationspartner sind die Kinder, Jugendlichen und ihre Erziehungspersonen. Sie sind vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe oder vor einer Änderung zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes hinzuweisen. Ein hoher Stellenwert kommt dem Wunsch- und Wahlrecht zu (§§ 5, 36 Abs. 1 SGB VIII). Die Leistungsberechtigten haben bei der Auswahl einer Pflegestelle, Einrichtung oder eines ambulanten Dienstes ein entscheidendes, vom Rechtsanspruch auf die Leistung mit abgedecktes Mitspracherecht, das nur begrenzt wird durch die Geeignetheit der Hilfe und einen Vorbehalt bei erheblichen Mehrkosten.
Ist eine Hilfe zur Erziehung oder eine Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche voraussichtlich für längere Zeit zu leisten, so ist mit den Beteiligten aus der Familie ein Hilfeplan aufzustellen. Die Personen, Dienste und Einrichtungen, die bei der Hilfe nach SGB VIII tätig werden, sind an der Hilfeplanung in allen Phasen zu beteiligen. Diese sind bei der Aufstellung, Überprüfung und Fortschreibung des Hilfeplans zu beteiligen. Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart hat das Jugendamt im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte zu treffen (§ 36 Abs. 2 SGB VIII).
Die Kinder- und Jugendpsychiater/-psychotherapeuten, die nach § 35a Abs. 1a SGB VIII eine Stellungnahme zur seelischen Gesundheit abgegeben haben (Abschn. 3.4), sind bei der Aufstellung und Änderung des Hilfeplans sowie bei der Durchführung der Hilfe verpflichtend zu beteiligen (§ 36 Abs. 3 SGB VIII). Die Einlösung in der Praxis stößt immer wieder auf Schwierigkeiten, weshalb ihre Modalitäten vor Ort zwischen den handelnden Akteuren aus Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie und Kinder- und Jugendhilfe fallübergreifend gut abgesprochen und vereinbart werden sollten (AGJ et al. 2019). Zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung hat das Jugendamt vor Gewährung einer Hilfe im Ausland stets eine Stellungnahme zur seelischen Gesundheit eines Kinder- und Jugendpsychiaters oder eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten einzuholen (§ 36 Abs. 4 SGB VIII).

Teilhabeplan bei Behinderung (§§ 19 ff. SGB IX)

Mit dem Bundesteilhabegesetz ist seit dem Jahr 2018 ein Verfahren zur Koordination von Leistungen eingeführt, der Teilhabeplan (§ 19 SGB IX; von Boetticher 2018). In drei Konstellationen, in denen mehrere Leistungen nebeneinander oder miteinander zu gewähren sind, ist er verpflichtend aufzustellen:
  • auf Wunsch der Leistungsberechtigten;
  • bei Leistungen mehrerer Rehabilitationsträger (§ 6 SGB IX: Krankenkassen, Bundesagentur für Arbeit, Unfallversicherung, gesetzliche Rentenversicherung, soziale Entschädigung/Bundesversorgungsgesetz, Jugendhilfe, Eingliederungshilfe);
  • bei Leistungen aus mehreren Leistungsgruppen (§ 5 SGB IX: Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben, zur Teilhabe an Bildung, zur sozialen Teilhabe und unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen).
Mit der Teilhabeplanung sollen Leistungen so aufeinander abgestimmt werden, dass das gesamte Verfahren nahtlos, zügig, zielorientiert und wirtschaftlich abläuft und insbesondere auf die Erstellung beziehungsweise Anpassung eines individuellen Teilhabeplans ausgerichtet ist (BAR 2018). Verantwortlich für die Aufstellung des Teilhabeplans ist der nach §§ 14, 15 SGB IX leistungspflichtige Rehabilitationsträger (Abschn. 3.5 und Abb. 4). Dies gilt auch für die Fortschreibung und Anpassung. Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie ist dies die Krankenkasse, bei welcher der Patient versichert ist. Diese wird zur Erstellung des Teilhabeplans auf die ärztliche Expertise zurückgreifen. Allerdings haben Krankenkassen für die Erstellung des Teilhabeplans regelmäßig keine beziehungsweise begrenzte eigene Expertise beizutragen. Daher bleibt fraglich, ob und inwieweit Krankenkassen als Akteure bei der Koordination von Rehabilitationsleistungen mit Leistungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe oder der Eingliederungshilfe nach SGB XII in der Praxis tatsächlich am Teilhabeplan beteiligt werden.
Der Teilhabeplan dient der Vorbereitung der Entscheidung über die Gewährung von Rehabilitationsleistungen und somit als fachliche Grundlage für die Steuerung des Rehabilitationsprozesses (BAR 2018). Hierzu sind die Feststellungen zum Rehabilitationsbedarf von allen im betreffenden Einzelfall aufgrund des Antrags oder des Bedarfs relevanten Rehabilitationsträgern und Gutachtern einzuholen. Der nach § 14 SGB IX leistungsverpflichtete Rehabilitationsträger trägt den ermittelten Teilhabebedarf (§ 13 SGB IX; Abschn. 3.2) im Teilhabeplan zusammen. Auch weitere öffentliche Stellen sind in geeigneter Art und Weise einzubeziehen (z. B. Schulen, Jobcenter), wenn sie Erkenntnisse versprechen, die im Interesse des Kindes oder Jugendlichen liegen (§ 22 SGB IX). Die Erstellung erfolgt allerdings nicht zwingend im persönlichen Austausch mit dem Leistungsberechtigten (von Boetticher 2018).
Der Pflichtinhalt des Teilhabeplans, der schriftlich oder elektronisch zu dokumentieren ist, wird gesetzlich ausführlich aufgeführt (§ 19 Abs. 2 SGB IX; Übersicht).
Dokumentation Teilhabeplan (§ 19 Abs. 2 SGB IX)
1.
Tag des Antragseingangs beim leistenden Rehabilitationsträger
 
2.
Feststellungen über den individuellen Rehabilitationsbedarf auf Grundlage der Bedarfsermittlung nach § 13 SGB IX
 
3.
Zur Bedarfsermittlung eingesetzte Instrumente
 
4.
Gutachterliche Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit
 
5.
Einbeziehung von Einrichtungen und Diensten bei der Leistungserbringung
 
6.
Erreichbare und überprüfbare Teilhabeziele und deren Fortschreibung
 
7.
Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts
 
8.
Dokumentation der einvernehmlichen, umfassenden und trägerübergreifenden Feststellung des Rehabilitationsbedarfs bei mehreren Leistungsverpflichteten
 
9.
Ergebnisse der Teilhabeplankonferenz
 
10.
Erkenntnisse aus den Mitteilungen der anderen einbezogenen Stellen
 
11.
Besondere Belange pflegender Angehöriger bei der Erbringung von Leistungen der medizinischen Rehabilitation
 
12.
Anforderungen aus beruflicher Tätigkeit
 
13.
Ziel, Art, Umfang und inhaltliche Ausgestaltung der vorgesehenen Leistungen
 
14.
Voraussichtlicher Beginn und Dauer der vorgesehenen Leistungen sowie Ort der Durchführung
 
15.
Sicherstellung der organisatorischen und zeitlichen (Zeitplanung) Abläufe
 
Bei der Begründung seiner Leistungsentscheidung muss der leistungsverpflichtete Rehabilitationsträger erkennen lassen, dass und wie die im Teilhabeplan enthaltenen Feststellungen berücksichtigt wurden. Im Verhältnis zur Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII soll der Hilfeplan den Teilhabeplan ergänzen (§ 21 SGB IX). In der Praxis dürfte sich eine Vorgehensweise durchsetzen, nach der die entwickelten und erprobten Verfahren zur Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII um die weiteren Aspekte der Teilhabeplanung nach § 19 SGB IX ergänzt werden.
Der für das Teilhabeplanverfahren verantwortliche Rehabilitationsträger kann mit Einverständnis der Leistungsberechtigten eine Teilhabeplankonferenz einberufen (§ 20 SGB IX). Die Leistungsberechtigten nehmen neben den involvierten Rehabilitationsträgern und gegebenenfalls dem Jobcenter an der Konferenz teil. Einziger Fall, in dem eine Teilhabeplankonferenz zwingend durchzuführen ist, gilt für Leistungen an Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder (sog. Elternassistenzleistungen).

Gesamtplanverfahren in der Eingliederungshilfe (§§ 117 ff. SGB IX)

Im Bestreben, die Beteiligung der Leistungsberechtigten zu stärken, soll auch in der Eingliederungshilfe eine Hilfeplanung durchgeführt werden, das Gesamtplanverfahren. Wenn das Gesetz die Beachtung der Kriterien „transparent, trägerübergreifend, interdisziplinär, konsensorientiert, individuell, lebensweltbezogen, sozialraumorientiert und zielorientiert“ ausdrücklich benennt (§ 117 Abs. 1 SGB IX ), so deutet sich an, dass hier die Vorstellungen ihrer Verwirklichung in Recht und Praxis noch hinterherhinken. Die Leistungsberechtigten sind zu beteiligen. An der Erstellung des Gesamtplans wirkt der Träger der Eingliederungshilfe zusammen mit dem behandelnden Arzt mit (§ 121 Abs. 3 SGB IX). Wie die Mitwirkung und ihre Finanzierung erfolgen sollen, bleibt bislang unbeantwortet.
Eine Gesamtplankonferenz findet nur mit Zustimmung der Leistungsberechtigten statt (§ 118 Abs. 1 SGB IX). Allerdings sind die Trägerzusammenkünfte zur Besprechung von Einzelfällen im Akkord, wie Gesamtplankonferenzen bisher häufig verlaufen, weder beteiligungsorientiert noch leistungsqualifizierend. Die Entwicklungen gilt es zu beobachten und gegebenenfalls vor Ort aktiv zu beeinflussen.

Finanzierung

Die scharfe Konturierung der abrechenbaren Leistungen im Rahmen des selbstverwalteten Krankenversicherungssystems schaffen einerseits klare Orientierung bei der Koordination von Leistungen mit anderen Sozialleistungssystemen. Andererseits taugt die kassenärztliche Versorgung nicht als Instrument, um sich beim Auftreten von Lücken oder bei der Erweiterung der Angebote passgenau auf die Bedarfe der Patienten und die Zusammenarbeit mit den anderen Akteuren einstellen zu können. Dies verschiebt die Verantwortung zu den steuerfinanzierten Trägern der Jugendhilfe und Eingliederungshilfe, deren Flexibilität bei der Gestaltung der Angebote und fallbezogenen Zusammenarbeitsstrukturen in der Praxis vor allem dann für die Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie genutzt wird, wenn diese ihre Möglichkeiten der Abrechnung gegenüber den Krankenkassen auch an den Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen ausschöpft.
Die Beteiligung der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie gehört, wie gesehen (Abschn. 4.2), zu den Aufgaben der Träger der öffentlichen Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe nach SGB IX. Sie ist gesetzlich vorgegeben und daher personell zu hinterlegen.
Einer gemeinsamen Finanzierung durch Eingliederungshilfe und Gesundheitswesen sind sehr enge Grenzen gesetzt. Sie ist beschränkt auf
  • konsekutive Finanzierung (z. B. bei Adaptionsbehandlungen oder bei einer Dauer von Therapien über den von der Krankenkasse finanzierten Zeitraum hinaus) oder
  • abgrenzbare Teilfinanzierung (z. B. Medikamente, Therapien während einer Heim-/Pflegefamilienunterbringung).
Eine echte Mischform ist das persönliche Budget (§ 29 SGB IX). Der Leistungsberechtigte erhält statt Behandlung und Dienstleistungen in der Regel eine laufende monatliche Geldleistung, mit welcher er sich die benötigte Versorgung für seinen behinderungsbedingten Bedarf selbst einkaufen kann. Grundlage für die Berechnung sind die Feststellungen zum Bedarf und den individuell festgestellten Leistungen. Diese werden von den Leistungsträgern bepreist. Mangels nachvollziehbarer Regeln hierfür erweist sich dies in der Praxis meist als schwierig. Die Unterscheidung zwischen Leistungsrecht, in welchem ein Anspruch auf Leistungen festgestellt wird, und Leistungserbringungsrecht, in dem die anspruchsgestützten Leistungen – in der Regel nachträglich oder aufgrund von konkreten Vereinbarungen mit einzelnen Trägern – finanziert werden, fällt in der Praxis oft schwer, weshalb sich die Beträge doch meist an den Vorstellungen des Rehabilitationsträgers zu den konkret benötigten Leistungen und zur Leistungserbringung durch konkrete Angebote und Leistungserbringer orientieren (Schäfers 2009).
Sind mehrere Rehabilitationsträger an der Deckung des Rehabilitationsbedarfs beteiligt, soll das persönliche Budget von den Leistungsträgern trägerübergreifend als Komplexleistung erbracht werden (§ 29 Abs. 1 Satz 3 SGB IX). Eine solche von mehreren finanzierte und als persönliches Budget an die Patienten ausgezahlte Leistung gehört eher der gesetzlichen Theorie denn zur Praxis.

Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung

Ärzte, Berufspsychologen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen sowie Hilfspersonal in Praxen oder Kliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie arbeiten immer wieder mit Kindern und Jugendlichen, die unter schwierigen familiären Umständen aufwachsen, die körperlich oder psychisch misshandelt, vernachlässigt oder sexuell missbraucht werden oder wurden. Das Gesetz nimmt sie daher in die Mitverantwortung der „staatlichen Gemeinschaft“, über die Pflege und Erziehung der Kinder durch die Eltern zu wachen (sog. staatliches Wächteramt; Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz [GG]).
Sie sind einbezogen in verbindliche, lokale Netzwerkstrukturen im Kinderschutz. Das Gesetz fordert die Beteiligten zur fallübergreifenden Zusammenarbeit auf, zur gegenseitigen Information über das jeweilige Angebots- und Aufgabenspektrum, zu strukturellen Fragen der Angebotsgestaltung und -entwicklung sowie zur Abstimmung der Verfahren im Kinderschutz (§ 3 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz [KKG]; Abb. 1). Werden in einer kinder- und jugendpsychiatrischen/-psychotherapeutischen Praxis oder Klinik „gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung“ bekannt, aktualisiert sich für die betreffenden Berufsgeheimnisträger ein gesetzlich gerahmter Schutzauftrag (§ 4 KKG). Die Begrifflichkeit der Kindeswohlgefährdung ist dem Familienrecht entlehnt und umschreibt nach ständiger Rechtsprechung „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ (Bundesgerichtshof 14.07.1956 – IV ZB 32/56). „Gegenwärtig“ ist eine Gefahr auch dann, wenn eine Schädigung noch nicht eingetreten ist, eine solche aber in der Zukunft zu erwarten ist, wenn nicht bereits jetzt eine Intervention erfolgt. Die erhebliche Schädigung ist konkret zu beschreiben und die Erwartung mit „ziemlicher Sicherheit“ zu begründen. Gewichtige Anhaltspunkte liegen vor, wenn konkrete Hinweise oder ernst zu nehmende Vermutungen für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen und diese in ihrer Zusammenschau nicht nur entfernt auf eine potenzielle Gefährdung hindeuten, sondern von gewissem Gewicht sind (Münder et al. 2018).
Bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung besteht in Deutschland, anders als in vielen Ländern im Ausland (European Commission 2010), keine Pflicht zur unverzüglichen Meldung an das Jugendamt als zentrale Kinderschutzbehörde. Vielmehr sind die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie Tätigen aufgefordert, mit dem Kind oder Jugendlichen sowie gegebenenfalls seinen Erziehungspersonen die Situation zu erörtern. Soweit erforderlich, ist auf die Inanspruchnahme weitergehender Hilfen hinzuwirken, etwa beim Jugendamt oder durch bei einer niedrigschwellig zugänglichen Beratungsstelle. Ausnahmsweise ist von einer Einbeziehung der Kinder, Jugendlichen und/oder ihrer Erziehungspersonen abzusehen, wenn dadurch der wirksame Schutz in Frage gestellt wäre, etwa weil sofortiges Tätigwerden erforderlich erscheint, weil eine Öffnung gegenüber den Eltern für das Kind gefährlich werden könnte oder weil bei sexuellem Missbrauch der Geheimhaltungsdruck erhöht würde (§ 4 Abs. 1 KKG).
Der Gesetzgeber hat die Ansprüchlichkeit der Einschätzungsaufgaben im Kinderschutz anerkannt und stellt den Berufsgeheimnisträgern auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie Fachberatung über die Wahrnehmungen, das (potenzielle) Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung und die Methodenwahl beim weiteren Vorgehen durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“ zur Verfügung (§ 4 Abs. 2 KKG). Der Anspruch auf Fachberatung besteht gegenüber dem Jugendamt, wobei der Allgemeine Soziale Dienst als Beratender ausscheidet, da ansonsten der eigene, anders gelagerte Schutzauftrag des Jugendamts aktiviert wäre (Wiesner 2015). Seit 2017 wird als Modellprojekt des BMFSFJ rund um die Uhr für Angehörige der Heilberufe und Heilhilfsberufe die Medizinische Kinderschutzhotline bereitgestellt (Tel. 0800 19 210 00). Die WHO erwähnt in ihrem europäischen Statusbericht 2018 diese Medizinische Kinderschutzhotline als ein wesentliches Praxisbeispiel zur Verbesserung der Wahrnehmung von Kinderschutzfällen im Gesundheitswesen und gleichzeitig durch eine Feedback-Schleife über häufig gestellte Fragen (Frequently Asked Questions FAQ) und E-Learning-Programme als vorbildliches Disseminationsinstrument (Sethi et al. 2018, S. 41).
Eine Informationsweitergabe an das Jugendamt ist dann ohne Einwilligung zulässig, wenn dies erforderlich ist, weil der Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht mit ihnen und/oder den Personensorgeberechtigten gemeinsam sichergestellt oder wenn die vermutete Gefährdung nicht mit ihnen geklärt werden kann (§ 4 Abs. 3 KKG). Bei der Prüfung, ob die Schwelle für eine Mitteilung an das Jugendamt ohne Einwilligung vorliegt, sind in einem ersten Schritt der Grad des Gefährdungspotenzials mit dem Grad der eigenen Gewissheit ins Verhältnis zu setzen: Je höher das Gefährdungspotenzial, desto niedrigere Anforderungen sind an die Gewissheit zu stellen. In einem zweiten Schritt ist die konkrete Hilfebeziehung zum Patienten in den Blick zu nehmen und ihre Tragfähigkeit zu bewerten. Zum einen ist zu reflektieren, wie gut es möglich ist, die Gefährdung mit den eigenen beruflichen Hilfemöglichkeiten abzuwenden, um sodann abzuwägen, ob im Hinblick auf die Gefährdung verantwortet werden kann, die bestehende Hilfebeziehung zur Patientin (weiter) für das Werben für die Inanspruchnahme weitergehender Hilfe zu nutzen (NZFH 2015). Erscheint eine Informationsweitergabe ohne Einwilligung erforderlich, sind die Betroffenen vorab darüber zu informieren, wenn dadurch der wirksame Schutz nicht in Frage gestellt wird (§ 4 Abs. 3 KKG). Die Erwägungen für die Einbeziehung des Jugendamts sind sorgfältig zu dokumentieren.
Erhält das Jugendamt eine Mitteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie und bewertet es diese seinerseits als „gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung“, ist es im Rahmen seines Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII verpflichtet, selbst eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen, die Adressaten aus der Familie dabei einzubeziehen und ihnen, wenn erforderlich, Hilfen anzubieten. Kann in der Zusammenarbeit mit der Familie die Gefährdung nicht abgewendet werden, hat das Jugendamt das Familiengericht anzurufen. Nur dieses ist berechtigt, über einen (teilweisen) Entzug der elterlichen Sorge zu entscheiden. In dringenden Fällen, in denen die Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann, ist das Jugendamt berechtigt, das Kind in Obhut zu nehmen (§ 42 SGB VIII). Das Familiengericht greift in die elterliche Sorge ein, wenn es einerseits eine Kindeswohlgefährdung feststellt und wenn andererseits die Personensorgeberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden – auch nicht durch Inanspruchnahme von Hilfen (§§ 1666, 1666a BGB).

Fazit

Die Vielschichtigkeit und Komplexität der Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter spiegelt sich in ihrem rechtlichen Rahmen. Die Krankenversorgung nach SGB V hat sich in den letzten Jahren dynamisch weiterentwickelt und sukzessive den Bedarfen angepasst. Das ambulante Versorgungsspektrum ist durch die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung erheblich erweitert worden. Das Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen aus dem Jahr 2016 hat die Krankenhausbehandlung flexibilisiert und lässt neben vollstationärer auch stationsäquivalente, teilstationäre, vor- und nachstationäre sowie ambulante Formen zu. Die Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen verdienen, wie regelmäßig in Kooperationen, fortlaufende Erneuerung und Weiterentwicklung. Die Mitwirkung bei der Feststellung einer Behinderung nach § 35a SGB VIII markiert ebenso wie die Hilfeplanung die Schnittstellen zur Kinder- und Jugendhilfe. Zudem ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie seit dem Bundesteilhabegesetz über die Krankenkassen als Rehabilitationsträger verstärkt in eine systemübergreifende Koordination der Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung einbezogen. Für die Wahrnehmung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung gibt das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) seit 2012 auch der Kinder- und Jugendpsychiatrie einen verbindlichen Rahmen vor.
Literatur
Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie (DGKJP), Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG KJPP), Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP) (2019) „Vom Kind und der Familie aus denken, nicht von den Institutionen“. Gemeinsames Positionspapier zur Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie. http://​www.​dgkjp.​de. Zugegriffen am 30.03.2021
Becker U (2018) Das Sozialrecht: Systematisierung, Verortung und Institutionalisierung. In: Ruland F, Becker U, Axer P (Hrsg) Sozialrechtshandbuch SRH. Nomos, Baden-Baden, S 1
Boetticher A v (2018) Das neue Teilhaberecht. Nomos, Baden-Baden
Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation (BAR) (2018) „Gemeinsame Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung, zur Erkennung, Ermittlung und Feststellung des Rehabilitationsbedarfs (einschließlich Grundsätzen der Instrumente zur Bedarfsermittlung), zur Teilhabeplanung und zu Anforderungen an die Durchführung von Leistungen zur Teilhabe“ gemäß § 26 Abs. 1 i. V. m. § 25 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 und 6 und gemäß § 26 Abs. 2 Nr. 2, 3, 5, 7 bis 9 SGB IX“. Arbeitsentwurf, Stand 12. Januar 2018. http://​www.​bar-frankfurt.​de. Zugegriffen am 05.08.2018
Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie (DGKJP), Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG KJPP), Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP) (2014) Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie mit der Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen des § 35a SGB VIII sowie im Rahmen von § 27 SGB VIII und § 1631b BGB. http://​www.​dgkjp.​de/​gemeinsame-kommissionen/​jugendhilfe-arbeit. Zugegriffen am 05.08.2018
Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie (DGKJP), Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG KJPP), Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP) (2016) Positionspapier zur Zusammenführung von Leistungen des SGB VIII und SGB XII für Kinder und Jugendliche („Große Lösung“), erarbeitet durch die Gemeinsamen Kommissionen Arbeit, Soziales, Jugendhilfe und Inklusion sowie Intelligenzminderung und Inklusion. http://​www.​dgkjp.​de/​gemeinsame-kommissionen/​jugendhilfe-arbeit. Zugegriffen am 05.08.2018
Eichenhofer E (2015) Sozialrecht. Mohr Siebeck, Tübingen
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