Verhaltenstherapie
Bisher wurden in unterschiedlichen Altersstufen verschiedene verhaltenstherapeutische Techniken bzw. deren Kombination mit unterschiedlichem Erfolg zur Reduktion der Tic-Symptomatik eingesetzt:
-
Selbstbeobachtung (tägliches Protokollieren der Tics),
-
Kontingenzmanagement (Belohnungen für das Kontrollieren der Tics),
-
-
Kombinationsbehandlung der Reaktionsumkehr (isometrisches Anspannen der den Tic-Bewegungen entgegengesetzten Muskelgruppen) und
-
Exposition mit Reaktionsverhinderung (Tic-Impulse aushalten).
Eine weitere Technik, die der
massierten negativen Übung, bei welcher der Patient, die Tic-Bewegung so rasch und kraftvoll wie möglich etwa 15–30 Minuten lang pro Tag durchführen soll, konnten sich in der
Verhaltenstherapie nicht durchsetzen, weil sowohl positive als auch negative Effekte in kleineren Studien berichtet wurden (vgl. Azrin und Peterson
1988).
Die
Selbstbeobachtung der Tic-Symptomatik kann bereits zu einer Symptomreduktion führen, vermutlich aufgrund der aversiven Komponente der Bewusstmachung der Tic-Reaktion. Die positiven Effekte von Selbstbeobachtung wurden in mehreren Fallstudien belegt (z. B. Peterson und Azrin
1992). In mehreren Einzelfallstudien wurden die positiven Effekte von Methoden des
Kontingenz-Managements – der positiven Verstärkung reduzierter Tic-Raten, der Nichtbeachtung (Löschung) einzelner Tic-Reaktionen oder der Durchführung negativer Konsequenzen nach Tic-Reaktionen – zur Verminderung der Tics belegt.
Aufgrund des bekannten modulierenden Einflusses von Stress auf die Tic-Symptomatik liegt die Vermutung nahe, dass die stressreduzierende Wirkung von
Entspannungsverfahren auch die Tic-Symptomatik positiv beeinflussen kann. Generell werden als Wirkmechanismen der Entspannungstechniken die Verminderung angst- und stresserzeugender Gedanken durch die Induktion von damit inkompatiblen angenehmen Wahrnehmungen und Empfindungen angenommen. Dadurch sollen sie Coping-Fähigkeiten im aktuellen Umgang mit situationsspezifischer Ängstlichkeit, Stress, Anspannung und begleitender physiologischer Erregung verbessern. Die am häufigsten angewandte Technik der
progressiven Muskelrelaxation beruht auf systematischem Wechsel zwischen An- und Entspannung ausgewählter Muskelgruppen für jeweils etwa 15 Sekunden. Wichtig hierbei ist die Konzentration auf die dabei erzeugten Empfindungen.
Verschiedene Formen des Entspannungstraining
s, vor allem progressive Muskelentspannung, gelegentlich auch Atemtechniken oder Techniken des autogenen Trainings, wurden häufig als Komponenten einer multimodalen Behandlung eingesetzt. In acht Studien, die unter anderem solche Methoden bei Patienten mit Tourette-Syndrom verwendeten, konnte die Tic-Frequenz durch das Behandlungsprogramm insgesamt reduziert werden. Insgesamt scheinen
Entspannungsverfahren für eine relativ kurze Zeit eine Symptomverminderung zu bewirken (vgl. Azrin und Peterson
1988). In einer randomisierten Kontrollgruppenstudie konnten keine nachhaltigen Effekte eines isolierten Entspannungstrainings gefunden werden (Bergin et al.
1998). Ressourcenaktivierende Interventionen, die nicht die Tic-Symptome fokussieren, sondern Patienten und Eltern dazu anleiten, die eigenen Stärken zu erkennen, das eigene Wohlbefinden zu steigern und positive Interaktionen fördern, wurden ebenfalls eingesetzt und es konnte auch Symptomminderung im Verlauf solcher Interventionen belegt werden (Viefhaus et al.
2019)
Azrin und Nunn (
1973) entwickelten eine Kombinationsbehandlung, die sie als Reaktionsumkehr
oder Gewohnheitsumkehr (Habit Reversal)
bezeichnen und die aus fünf Komponenten besteht:
1.
Selbstwahrnehmungstraining,
3.
Training inkompatibler Reaktionen,
5.
Generalisierungstraining.
Durch ein Training der Selbstwahrnehmung werden die Sinne des Patienten für seine Tics und deren Beeinflussbarkeit durch innere und äußere Reize geschärft und damit die Grundlage für das Training inkompatibler Reaktionen gelegt, in dem eine Gegenreaktion als Gegenregulation zu den Tics entwickelt wird. Zusätzlich soll ein Entspannungstraining (z. B.
progressive Muskelrelaxation) zur Stressreduktion und möglicherweise auch zur verbesserten Körperwahrnehmung beitragen. Die positive Verstärkung der einzelnen Behandlungsschritte und der Teilerfolge soll die Motivation des Patienten fördern und zur Symptomminderung beitragen. Das Selbstwahrnehmungstraining besteht aus mehreren Komponenten. Der Patient wird zur Selbstbeobachtung angeleitet und trainiert, Vorboten einer Tic-Reaktion (Impulse, sensomotorische Vorgefühle) und die Tic-Reaktion selbst bewusst wahrzunehmen und auch die situativen Einflüsse auf die Tic-Häufigkeit wahrzunehmen.
Kern des Behandlungsprogramms ist das Training inkompatibler Reaktionen. Dabei wird eine Gegenreaktion zu einem Tic eingeübt, um die Ausführung des Tics zu verhindern. Diese muskuläre Gegenreaktion
-
sollte der Tic-Bewegung entgegen gerichtet sein,
-
sollte für 1–2 Minuten aufrecht erhalten und
-
weitgehend unauffällig durchgeführt werden können und sich in gerade ausgeübte Aktivitäten eingliedern lassen.
Bei den meisten motorischen Tics kann als inkompatible Reaktion die isometrische Anspannung der Antagonisten ausgewählt werden, also jener Muskelgruppen, die entgegen der Tic-Bewegung arbeiten. Der Patient spannt diese Muskelgruppen gerade so stark an, dass die Tic-Bewegung nicht durchgeführt werden kann, selbst wenn er willentlich die Tic-Bewegung auszuführen versucht. Vokale Tics sind schwerer zu behandeln. Als Gegenbewegung kann z. B. bewusstes, langsames Ein- und Ausatmen eingesetzt werden.
Reaktionsumkehr (Habit Reversal) ist auch Kern des Therapieprogramms für Kinder und Jugendliche mit
Tic-Störungen (THICS; Woitecki und Döpfner
2015), das jedoch noch weitere Bausteine, beispielsweise zur Problemdefinition, zur
Psychoedukation, zur Verminderung symptomaufrechterhaltender Belastungen enthält.
Bevor die spezifischen Techniken der Reaktionsumkehr (Bausteine 6 bis 8) zur Anwendung kommen, sollten Störungskonzepte und die bisherige Störungsbewältigung mit dem Patienten und der Familie thematisiert und bearbeitet werden (Bausteine 1 und 2). Ziel ist es, inadäquate Störungskonzepte beim Patienten und den Bezugspersonen abzubauen (etwa, dass die Symptomatik willkürlich eingesetzt werde und Ausdruck von
Aggressionen gegenüber Familienmitgliedern darstelle) und das komplexe Zusammenspiel organischer und psychischer Faktoren zu erarbeiten. Diese psychoedukativen Interventionen können auch durch Ratgeber unterstützt werden (Döpfner et al.
2010b). Da Belastungen Tics wesentlich verstärken können, sind Interventionen zur Verminderung solcher symptomaufrechterhaltender Belastungen (Baustein 3) angezeigt und ebenso Methoden der Ressourcenaktivierung und der Stärkung der therapeutischen Beziehung (Baustein 4), da die Patienten in der Regel sehr stark unter der Symptomatik leiden. Interventionen zur Bewältigung negativer Reaktionen des Umfeldes (Baustein 5), sollten vor allem bei Patienten früh eingesetzt werden, die stark unter solchen negativen Reaktionen leiden.
Die Wirksamkeit des Habit-Reversal-Training
s ist mittlerweile gut belegt (vgl. Döpfner und Rothenberger
2007). Seit den ersten Ansätzen von Azrin und Mitarbeitern (Azrin und Nunn
1973) wurden mehr als 100 Wirksamkeitsstudien veröffentlicht, die in mehreren Übersichtsarbeiten zusammenfassend beurteilt wurden (Azrin und Peterson
1988; Carr und Chong
2005; Peterson et al.
1994; Piacentini und Chang
2005). Peterson und Mitarbeiter (
1994) kommen bei ihrer Übersichtsarbeit von Habit-Reversal-Studien zu dem Schluss, dass das komplette Habit-Reversal-Training zu einer Reduktion der Tic-Symptomatik von bis zu 90 % im familiären Rahmen und bis zu 80 % in klinischen Beobachtungssituationen führen kann. Leider sind die Daten mit einigen methodischen Unzulänglichkeiten behaftet und Follow-up-Erhebungen lassen die Aussagekraft der Studien kritisch hinterfragen. Piacentini et al. (
2010) verglichen Reaktionsumkehr mit einem Selbstwahrnehmungstraining bei 25 Kindern und Jugendlichen mit Tourette-Syndrom und fanden, dass das vollständige Reaktionsumkehrverfahren eine signifikante Verminderung der Tic-Symptomatik bewirkte, die auch noch drei Monate nach Behandlungsende nachweisbar war. Die Ergebnisse einer groß angelegten multizentrischen Studie in den USA (Comprehenisve Behavioral Interventions for Tics Study, CBITS) belegen eine deutlich stärkere Verminderung der Tic-Symptomatik durch Reaktionsumkehr (10 Sitzungen) im Vergleich zu einer allgemeinen
Psychoedukation und
supportiven Psychotherapie. Global wurde unter der verhaltenstherapeutischen Intervention bei 52 % zumindest eine deutliche Verbesserung der Symptomatik gefunden, im Vergleich zu 19 % bei supportiver
Psychotherapie (Piacentini et al.
2010). In Deutschland wurden erfolgreiche Therapien mit Reaktionsumkehr zunächst in Einzelfallanalysen und Kasuistiken beschrieben (z. B. Döpfner
1996; Döpfner und Reister
2000). Woitecki und Döpfner (
2011,
2012) und Viefhaus et al. (
2018) konnten anhand von Eigenkontrollgruppen-Design deutliche Veränderungen sowohl der Tic-Symptome als auch komorbider Auffälligkeiten im Verlauf der Therapie mit dem Therapieprogramm THICS (siehe oben) belegen.
Modifikationen des Habit-Reversal-Trainings, die Piacentini und Chang (
2005) beschreiben, bestehen darin, dass die Tics nicht vollständig unterdrückt werden, sondern gelernt wird, die Tics in verringerter Intensität und sozial unauffälliger Weise auszuführen. Dies kann vor allem dann indiziert sein, wenn die Patienten sich nicht in der Lage fühlen, die Tics komplett zu unterdrücken. Eine ähnliche Strategie wird von Evers und van de Wetering (
1994) beschrieben, nach der ähnlich wie bei der Reaktionsumkehr zunächst die Wahrnehmung spezifischer sensomotorischer Vorgefühle trainiert wird, um dann basierend auf Übungen der
progressiven Muskelrelaxation alternative, sozial akzeptablere Reaktionen zum Abbau der Anspannung einzusetzen.
Hoogduin und Mitarbeiter (
1997) verwendeten Exposition und Reaktionsverhinderung als Erweiterung zum Habit-Reversal-Training bei vier Patienten. Die Patienten wurden dazu angeleitet, die körperlichen Anzeichen eines Tics wahrzunehmen und auszuhalten, ohne einen Tic-Impuls folgen zu lassen. Die Unterdrückung des Tic-Impulses stand dabei im Vordergrund. Theoretisch sollen die Patienten durch das Aushalten der körperlichen Anzeichen darauf habituieren. Die Patienten werden dazu angehalten, den Tic immer länger zu unterdrücken. Wenn der Patient dann in der Lage ist unter ständiger Beobachtung und Ermunterung durch den Therapeuten ca. 120 Minuten das Ausführen von Tics zu unterdrücken, wird der Patient Tic-induzierenden Stimuli (z. B. Gegenständen, Vorstellungen, Situationen) ausgesetzt mit dem Ziel, trotzdem die Ausführung der Tics zu verhindern. Während sich in den ersten Therapiestunden die Beobachtung mehr auf die Dauer der Periode ohne Tics richtet, wird später die Anzahl der Tics protokolliert. Zudem stehen die sensomotorischen Vorgefühle im Mittelpunkt. Sie sollen ohne Ausführung eines Tics erträglich werden, indem der Patient auf die negativen Sensationen habituiert wird und dadurch keine Tics mehr ausführen muss. Verdellen und Mitarbeiter (
2004) verglichen die Wirksamkeitseffekte von Exposition und Reaktionsverhinderung mit Habit Reversal bei 43 Tic-Patienten im Alter zwischen 3 und 18 Jahren. Beide Ansätze zeigten statistisch signifikante Verminderungen der Tic-Symptomatik, allerdings ohne statistisch signifikanten Unterschied zwischen beiden therapeutischen Ansätzen.