Skip to main content

Verhaltensanalysen und Verhaltensdiagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

Verfasst von: Christina Schwenck
Die Verhaltensdiagnostik besteht aus verschiedenen Bausteinen und stellt die Grundvoraussetzung für eine verhaltenstherapeutische Psychotherapie dar. Durch die Exploration werden wichtige Informationen ermittelt, die zusammen mit den Ergebnissen der testpsychologischen Untersuchung und der Verhaltensbeobachtung in die Verhaltensanalysen einfließen. Diese stellen die entscheidende Grundlage für die Behandlungsplanung dar. Die Mikroanalyse bezieht sich auf ein spezifisches Problemverhalten, das genau beleuchtet wird in Hinblick auf vorausgehende und folgende Sequenzen sowie vermittelnde Variablen. Die Plananalyse ist weniger auf ein sehr konkretes Problemverhalten gerichtet, sondern eher auf zugrunde liegende psychische Strukturen, die dazu dienen, Grundbedürfnisse zu erfüllen. Die Makroanalyse schließlich berücksichtigt neben kindzentrierten Faktoren auch solche der Umwelt, die einen Einfluss auf das Problemverhalten haben, und stellt die Beziehungen zwischen diesen Einflussfaktoren dar.

Einleitung: Die Bedeutung der Verhaltensdiagnostik im diagnostischen Prozess

Im Rahmen der Diagnostik zur Einschätzung der Symptomatik eines Patienten und zur Behandlungsplanung unterscheidet man in der Verhaltenstherapie zwischen psychometrischer Testdiagnostik und Verhaltensdiagnostik. Beide sind Teil eines diagnostischen Prozesses, der in Abb. 1 dargestellt ist.
Bei der psychometrischen Testdiagnostik werden Testverfahren eingesetzt, um mehr oder weniger überdauernde psychologische Merkmale einer Person wie Leistungsfähigkeit (z. B. IQ oder Rechtschreibleistung), symptomorientierte Verfahren (z. B. Ängstlichkeit) oder Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Extraversion) im Verhältnis zu einer Vergleichsstichprobe zu bestimmen. Diese Merkmale müssen bei der Therapieplanung berücksichtigt werden, indem sie einerseits die übergeordnete Zielsymptomatik darstellen, andererseits Einfluss auf die gezielte Gesprächsführung des Therapeuten, flankierende Behandlungsentscheidungen und die Struktur und methodische Schwerpunktsetzung der Intervention mitbestimmen. Beispielsweise stellt eine weit überdurchschnittlich stark ausgeprägte depressive Verstimmung mit den entsprechenden Beeinträchtigungen die übergeordnete Zielsymptomatik für eine Psychotherapie dar. Wenn die Intelligenzdiagnostik zudem zeigt, dass bei dem Patienten eine Lernbehinderung vorliegt, kann möglicherweise eine schulische Entlastung für eine Verbesserung der Stimmung sorgen. Gleichzeitig würde der Therapeut die Therapie so gestalten, dass er den Schwerpunkt auf die konkrete Problembewältigung, weniger auf die kognitiv-motivationale Klärung setzt. Überdurchschnittlich ausgeprägten Persönlichkeitseigenschaften wird der Therapeut durch eine komplementäre Beziehungsgestaltung begegnen.
Im Gegensatz dazu dient die Verhaltensdiagnostik der genauen Analyse von auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren für ein Problemverhalten. Verhaltensdiagnostik ist ein Oberbegriff, der verschiedene Arten der Diagnostik wie die Verhaltensbeobachtung, Exploration oder verschiedene Arten von Verhaltensanalysen subsumiert. Sie fragt nach den Mechanismen und Bedingungen, die einen Einfluss auf Zustandekommen und Beibehaltung von problematischen Verhaltensweisen haben, und sie bezieht sich immer auf das Individuum, sein soziales Umfeld und individuelle situative Rahmenbedingungen. Die Ergebnisse, die aus dieser Art der Diagnostik resultieren, stellen die konkreten Ziele für die therapeutische Intervention dar. Das bedeutet, dass sich aus der Verhaltensdiagnostik Aufschluss darüber gewinnen lässt, woran man als Therapeut mit dem Patienten und seiner Familie arbeiten sollte, um ein übergeordnetes Problemverhalten anzugehen. Vom zeitlichen Ablauf her sind Verhaltensbeobachtung und Exploration vorgeschaltet. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse fließen auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus der psychometrischen Testdiagnostik in die Verhaltensanalysen ein. Man kann also sagen, dass die Verhaltensanalyse den letzten Schritt des diagnostischen Prozesses darstellt, der dann unmittelbar in die Therapieplanung mündet. An dieser Stelle werden diverse Erkenntnisse wie bei einem Mosaik zu einem Gesamtbild zusammengesetzt, das der Behandlungsplanung zugrunde liegt. Im Verlauf der Therapie gilt es dann weiterhin, die Erkenntnisse und Hypothesen regelmäßig zu überprüfen und die Therapieplanung an den aktuellen Sachverhalt zu adaptieren.

Verhaltensdiagnostik

Exploration

Äußere Rahmenbedingungen und Inhalte

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychologie findet die erste Exploration zumeist mit dem betroffenen Kind und wichtigen Bezugspersonen, wie den Eltern, statt. Im weiteren Verlauf werden auch andere Personen, die für die Behandlungsplanung wichtige Informationen beisteuern können, wie z. B. Erzieher, Lehrkräfte, andere Familienangehörige oder Mitarbeiter der Jugendhilfe, in die Exploration einbezogen. Die Berücksichtigung so vieler Protagonisten stellt einen wesentlichen Unterschied zur Behandlung von Erwachsenen mit psychischen Störungen dar. Sie birgt einerseits die Chancen, eine facettenreiche Sicht auf die Problematik zu bekommen und Ressourcen zu identifizieren, andererseits erschwert sie zuweilen auch Diagnostik und Behandlungsplanung, weil selten alle Beteiligten einer Meinung sind, Sachverhalte möglicherweise als unterschiedlich problematisch wahrgenommen und Therapieziele verschieden priorisiert werden können. Für die Gestaltung des Erstgesprächs bietet sich in den allermeisten Fällen eine gemeinsame Exploration von Kind und Eltern an. Dieses Vorgehen vermittelt allen Beteiligten Transparenz, macht deutlich, dass jeder, insbesondere auch das Kind, gehört wird, und ermöglicht es dem Therapeuten, zu allen Beteiligten eine therapeutische Beziehung aufzubauen. Im Gesprächsverlauf kann es sinnvoll sein, jeweils eine Partei allein zu sprechen, beispielsweise wenn es um die Ehekonflikte der Eltern oder die Drogenanamnese des Jugendlichen geht. Zum Abschluss sollten dann aber wieder alle zusammenkommen, um das weitere (diagnostische) Vorgehen zu besprechen.
Inhaltlich geht es darum, die problematische Symptomatik möglichst präzise zu erfassen. In der Übersicht „Fragen zur Abklärung der Symptomatik“ sind einige Fragen aufgeführt, die dabei helfen können.
Fragen zur Abklärung der Symptomatik
  • Welche Problemverhaltensweisen zeigt das Kind? Wie ganz genau äußern sie sich?
  • Wann ist das Verhalten zum ersten Mal aufgetreten?
  • Wie oft tritt das Verhalten auf? Pro Tag/Woche/Monat?
  • Wie lange tritt das Verhalten jeweils auf?
  • In welchen Situationen treten die Verhaltensweisen auf? Z. B. an einem bestimmten Ort? In Anwesenheit einer bestimmten Person? Bei bestimmten Anforderungen?
  • In welchen Situationen treten die Verhaltensweisen nicht auf?
  • Was sind die Folgen davon, wenn das Verhalten auftritt?
  • Was sind die Folgen, wenn das Verhalten nicht auftritt?
  • Welche familiären/schulischen/sozialen Rahmenbedingungen begünstigen das Auftreten des Verhaltens?
  • Gibt es noch andere Verhaltensweisen, die denselben Zweck erfüllen/dasselbe Gefühl auslösen/zu denselben Problemen führen?

Fallbeispiele

Im Folgenden werden die Ergebnisse einer Exploration anhand von zwei Fallbeispielen, die auch im Weiteren immer wieder zur Veranschaulichung der theoretischen Inhalte herangezogen werden, dargestellt.
Fallbeispiel 1
Leo ist 8 Jahre alt und besucht die 3. Klasse der Grundschule. Die Eltern schildern die folgende Problematik: Obwohl er zu Hause problemlos spreche, verstumme er regelmäßig in der Schule, sobald die Klassenlehrerin in der Nähe sei. Mit drei Mitschülern, die er schon vom Kindergarten kenne, spreche er leise im Klassenzimmer und auf dem Schulhof, wenn er nicht von der Lehrerin beobachtet werde. Die Lehrkraft wird als eher streng und überaus konsequent beschrieben. Es sei schon öfter vorgekommen, dass sie in der Klasse laut geworden sei, wenn die Kinder sich chaotisch verhalten hätten. Leos problematisches Verhalten bestehe seit der Einschulung. Auch in einigen anderen Situationen komme es zu einem Verstummen Leos, so z. B. wenn er fremde Erwachsene ansprechen müsse oder von ihnen angesprochen werde. Beispielsweise sei er kürzlich im Urlaub nicht dazu in der Lage gewesen, sich selbst ein Eis zu kaufen, obwohl er unbedingt eines habe haben wollen. Er habe sich hinter seiner Mutter versteckt und sei wie erstarrt gewesen. Die Eltern beschreiben Leo als ein schüchternes Kind, das von Geburt an sehr vorsichtig, zurückhaltend und ängstlich gewesen sei. Er habe Angst davor, neue Dinge auszuprobieren und traue sich insgesamt wenig zu. Immer wieder äußere er die Sorge davor, Fehler zu machen und ausgelacht zu werden. Er versuche immer, alles möglichst perfekt zu machen. Ein weiteres Problem sei, dass er noch immer nachts regelmäßig einnässe und noch nie trocken gewesen sei. Er habe auch sehr spät angefangen zu sprechen und im Vorschulalter eine Sprachstörung gehabt, die aber erfolgreich logopädisch behandelt worden sei. Die Eltern beschreiben sich selbst als eher still und wenig sozial integriert. Es komme eigentlich nicht vor, dass Bekannte zu Besuch kämen, die Familie sei meist für sich. Leos Vater sei seit drei Jahren arbeitssuchend und leide sehr unter dieser Situation. Seine Stimmung sei gedrückt, er habe wenig Freude an Dingen, die ihm früher Spaß gemacht hätten, wie z. B. das Sammeln von Briefmarken. Aufgrund seiner Antriebslosigkeit gebe er Leo wenig Zuwendung. Leos Mutter beschreibt sich als eher ängstlich, sie habe insbesondere Schwierigkeiten damit, fremde Menschen anzusprechen und im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen. Beispielsweise vermeide sie es, in der Öffentlichkeit etwas zu essen, weil sie Sorge habe, sich dabei zu bekleckern oder anderweitig zu blamieren. Sie mache sich auch viele Sorgen um Leo und versuche, ihn so gut wie möglich zu schützen.
Fallbeispiel 2
Sarah ist 9 Jahre alt und besucht die 3. Klasse der Grundschule. Ihre Eltern berichten die folgende Problematik: Die Lehrerin habe sich an die Eltern gewandt, da Sarah in der Klasse kaum mehr tragbar und ihre Versetzung akut gefährdet sei. Ständig spiele sie den Klassenclown und lenke damit sich und die anderen Kinder ab. Den Anweisungen der Lehrkraft folge Sarah oft nicht, sondern gebe Widerworte und beleidige die Lehrerin sogar. Aufgrund zahlreicher Flüchtigkeitsfehler und ihrer stark erhöhten Impulsivität im Arbeitsverhalten erziele sie sehr schlechte Noten. Auch mache sie die Hausaufgaben nur sporadisch, lieber beschäftige sie sich mit Fernsehschauen und Fußballspielen. Immer wieder komme es zu ausgeprägten Wutanfällen, sowohl in der Schule als auch zu Hause. Sarah sei sehr schnell genervt, wenn Anforderungen an sie gestellt würden, und „raste dann aus“. Die Eltern berichten weiterhin, dass Sarah schon immer sehr unruhig und impulsiv gewesen sei. Autoritäten akzeptiere sie kaum, und sie versuche, immer ihren Kopf durchzusetzen. Richtige Freunde habe Sarah nicht, was die Eltern v. a. darauf zurückführen, dass sie andere Kinder gerne ärgere und ihnen die Schuld zuschiebe, wenn es zu Streit komme. In der letzten Zeit habe sie häufiger geäußert, dass sie zu nichts tauge. Sarahs Vater gibt an, dass er als Kind unter ähnlichen Schwierigkeiten gelitten habe und auch heute noch oft die Geduld verliere. Die Eltern seien sich in ihrem Erziehungsverhalten selten einig und hätten Schwierigkeiten damit, angekündigte Konsequenzen durchzuziehen, weshalb es häufig zu Streit zwischen ihnen komme. Sahras jüngerer Bruder Max habe von Geburt an eine Körperbehinderung und sei auf den Rollstuhl angewiesen. Die Mutter wende sehr viel Zeit für seine Pflege auf, sodass Sarah manchmal zu kurz komme.

Exploration: Schwierige Situationen und der Umgang damit

Nicht immer fällt es dem Kind und den Erwachsenen leicht, diese Fragen präzise zu beantworten. Oft sind den Beteiligten von außen deutlich sichtbare Regelhaftigkeiten nicht bewusst, wie z. B. dass die Bauchschmerzen nur an Schultagen, nicht aber am Wochenende oder in den Ferien auftreten. Weiterhin kann die zeitliche Einordnung von Ereignissen schwierig sein. Hier können die Familien unterstützt werden, indem ein Zeitstrahl benutzt wird, auf dem wichtige Ereignisse wie z. B. die Einschulung, Geburtstage, Weihnachten, Jahreszeiten, Trennung der Eltern etc. eingezeichnet werden. Mit dieser Methode fällt es vielen Personen leichter, bestimmte Ereignisse zu terminieren. Eine Möglichkeit, um Häufigkeiten oder den Zusammenhang von bestimmten Verhaltensweisen mit situativen Gegebenheiten und Konsequenzen zu erfassen, stellt das Protokollieren der Zielverhaltensweisen dar. In Abb. 2 ist ein Protokollbogen zum Thema Angst exemplarisch dargestellt.
Neben den Erinnerungsschwierigkeiten kann es noch weitere Gründe dafür geben, dass die Kinder, Jugendlichen und auch ihre Eltern nicht über alle Problembereiche unmittelbar und uneingeschränkt berichten können. Dem kann der Therapeut durch Gesprächsführungsstrategien begegnen. Die häufigsten Gründe sind in der Übersicht „Wenn Kinder, Jugendliche und ihre Eltern nicht über alle Problembereiche berichten können“ aufgeführt.
Wenn Kinder, Jugendliche und ihre Eltern nicht über alle Problembereiche berichten können
  • Manche psychischen Störungen sind deutlich schambehaftet, so z. B. Zwangsstörungen und Ausscheidungsstörungen. Den Kindern und Jugendlichen ist es – verständlicherweise – peinlich, über diese Symptomatik mit einem (fast) fremden Erwachsenen zu sprechen. Hier kann es einerseits hilfreich sein, den Patienten Zeit zu geben und zunächst am Beziehungsaufbau zu arbeiten. Eine weitere Strategie ist es, durch die Gesprächsführung den Patienten zu vermitteln, dass die Symptomatik für den Therapeuten nichts Ungewöhnliches, Schlimmes oder Peinliches ist („Ich kenne einen Jugendlichen, der auch immer sehr viel beten muss. Er sagt, dass er das tun muss, weil er schlecht über Gott denkt. Kennst du das auch von dir?“).
  • Neben der Scham, die besonders stark mit einzelnen psychischen Störungen verbunden ist, sind psychische Störungen allgemein nach wie vor stark stigmatisiert. Hier kann es hilfreich sein, dem Patienten und seinen Eltern mittels Psychoedukation zu vermitteln, dass eine Vielzahl von Menschen von diesen Störungen betroffen und sie nicht allein sind. Falls sich dies für das spezifische Störungsbild anbietet, können eine Gruppentherapie oder ein Elterntraining empfohlen werden, da hier der Effekt automatisch eintritt.
  • Anderen psychischen Störungen ist eine verminderte Introspektionsfähigkeit und/oder verzerrte Wahrnehmung immanent. Beispielsweise fällt es Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störungen naturgemäß schwer, differenziert Auskunft über ihr Gefühlsleben zu geben. Kinder mit einer Störung des Sozialverhaltens werden möglicherweise Schwierigkeiten haben, die Ursache für Konflikte in ihrem eigenen Verhalten zu sehen. Hier ist es wichtig, weitere Informanten als Informationsquelle zu nutzen, ein Insistieren gleich zu Beginn der therapeutischen Beziehung ist meist wenig hilfreich. Auch kann es gut sein, zu verbalisieren, dass es durchaus mehrere Sichtweisen auf ein Problem geben kann und erst einmal beide nebeneinander bestehen können, ohne dass man zu der ultimativen „Wahrheit“ gelangen muss.
  • Viele Eltern und auch manche Kinder sind durch Schuldgefühle belastet. Sie nehmen implizit an, dass sie die psychische Störung des Kindes verursacht hätten. Deshalb ist es wichtig, im Rahmen der Exploration nach ihrem Störungsmodell zu fragen und ihnen und dem Kind ein plausibles Störungsmodell im Rahmen der Psychoedukation zu vermitteln, das die Patienten und ihre Kinder entlastet.

Verhaltensbeobachtung

Vorgehen bei der Verhaltensbeobachtung

Neben der standardisierten Diagnostik und Exploration spielt die Verhaltensbeobachtung eine wesentliche Rolle für die Erfassung des Problemverhaltens, seiner auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen. Die Verhaltensbeobachtung kann auf unterschiedlichste Arten, in verschiedenen Intensitäten und situativen Kontexten stattfinden – von einer eher beiläufigen bis hin zur strukturierten Verhaltensbeobachtung, unter direkter Teilnahme des Therapeuten bis hin zur Videoaufzeichnung. Auch wenn es recht einfach klingt, die Verhaltensbeobachtung stellt hohe Anforderungen an den Therapeuten dar, da er oftmals neben der Gesprächsführung, Vermittlung von Inhalten und Strukturierung des Gesprächsverlaufs auch noch gezielt Verhaltensweisen des Kindes und seiner Eltern wahrnehmen und klassifizieren muss. Dies ist alles andere als trivial und gelingt häufig erst mit einer gewissen Routine, die die dafür notwendige Kapazität freigibt. Hilfreich können Listen mit Verbalisierungen von Verhaltensdimensionen in unterschiedlichen Ausprägungen sein, wie sie in Tab. 1 auszugsweise zu finden sind.
Tab. 1
Beispiele für Verhaltensdimensionen in unterschiedlicher Ausprägung
Merkmal
Geringe Ausprägung
Mittlere Ausprägung
Hohe Ausprägung
Sprachverhalten
wortkarg, einsilbig
kommuniziert angemessen, flüssig
übermäßig mitteilsam, logorrhöisch, weitschweifig
Sprachliches Ausdrucksvermögen
einfach, dysgrammatisch
differenziert
manieriert
Kontaktverhalten
gehemmt, schüchtern, zurückhaltend, misstrauisch, überangepasst
offen
distanzlos, ungehemmt, provokativ, testet Grenzen aus
Antrieb
verlangsamt, antriebsarm
angemessen aktiv, wach
hyperaktiv, getrieben, unruhig
Stimmungsstabilität
kaum auslenkbar
angemessen auslenkbar
stark schwankend
Instruktionsverständnis
gering, Verständnisschwierigkeiten
angemessen
rasche Auffassungsgabe
Reife
kindlich, wirkt jünger
altersangemessen
vorgereift, älter wirkend
Motivation
lustlos, gleichgültig, unmotiviert
adäquat, motiviert, bereitwillig
sehr ehrgeizig, übereifrig
Für das Verständnis der Problematik kann es hilfreich sein, sich zu verdeutlichen, dass viele Verhaltens- und Interaktionsmuster automatisiert sind und über verschiedene Situationen hinweg ähnlich gezeigt werden. Das heißt, dass beispielsweise der Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung, der die Geduld des Behandlers mit einem ausufernden Bericht über sein Sonderinteresse „Zugfahrpläne“ beansprucht, dies vermutlich nicht nur in der Interaktion mit dem Behandler so machen wird, sondern z. B. auch mit Klassenkameraden, was in diesem Kontext mit hoher Wahrscheinlichkeit Ablehnung hervorruft.
Liegen die Ergebnisse aus psychometrischer Testdiagnostik, Exploration und Verhaltensbeobachtung sowie möglichen weiteren Bausteinen der Diagnostik vor, kann eine Verhaltensanalyse vorgenommen werden, die dann den Ausgangspunkt für die Therapieplanung bildet.
Fallbeispiel 1
Leo tritt im Kontakt zur Untersucherin sehr zurückhaltend und gehemmt auf. Es gelingt ihm kaum, Blickkontakt aufzunehmen oder zu halten. Verbal äußert er sich nicht. Leos Antrieb erscheint verlangsamt, seine Körperhaltung ist angespannt und der Gesichtsausdruck amimisch. Von der Stimmung her ist er kaum auslenkbar, und er wirkt durchgehend ängstlich. Das rezeptive Sprachverständnis erscheint gut, da er Instruktionen problemlos befolgen kann. Das Arbeitstempo ist vermindert. Die Konzentration erscheint unbeeinträchtigt.
Fallbeispiel 2
Sarah tritt im Kontakt zur Untersucherin selbstbewusst und offen auf. Von der Stimmung her ist sie fröhlich und gut auslenkbar. Sarahs sprachliches Ausdrucksvermögen ist differenziert. Im Gesprächsverlauf imponieren eine deutliche motorische Unruhe und eine starke Impulsivität. Während der testpsychologischen Untersuchung lässt sich Sarah mit zunehmendem Testverlauf immer stärker ablenken und begeht Flüchtigkeitsfehler. Ihre Ausdauer ist stark begrenzt, und sie verliert rasch die Lust an den Aufgaben. Wird sie zum Weiterarbeiten aufgefordert, kippt ihre Stimmung rasch und sie reagiert trotzig. Ihre Frustrationstoleranz ist sehr gering.

Verhaltensanalysen

In der Verhaltenstherapie finden drei Verhaltensanalysen Anwendung:
  • die Mikroanalyse oder auch horizontale Verhaltensanalyse,
  • die Plananalyse oder vertikale Verhaltensanalyse und
  • die Makroanalyse oder Systemanalyse.
Alle drei Analysen beschäftigen sich mit regelhaft wiederkehrendem Problemverhalten, nicht mit einmaligen Fehlverhaltensweisen oder Ausnahmen. Sie eignen sich für unterschiedliche Problemkonstellationen und können natürlich auch in Kombination eingesetzt werden. In allen Analysen wird dasselbe Problemverhalten in den Fokus genommen, jedoch in unterschiedlichen Ausschnitten und unterschiedlicher Schärfe. Während sich die Mikroanalyse (Kanfer et al. 2012) auf das ganz konkrete Problemverhalten konzentriert und dieses sehr differenziert und genau analysiert, beschäftigt sich die Plananalyse mit den einem Problemverhalten zugrunde liegenden Strukturen, ohne sehr differenziert auf das konkrete Problemverhalten einzugehen. Die Makroanalyse geht noch weiter und erfasst umliegende Einflussfaktoren mit, berücksichtigt aber weder das konkrete Problemverhalten noch die Strukturebene in der Intensität, wie es die beiden anderen Analysen tun. Für gewöhnlich werden die Verhaltensanalysen vom Therapeuten oder im Rahmen der Supervision durchgeführt. Es spricht aber auch nichts dagegen, die Analysen gemeinsam mit dem Patienten zu machen, sofern das dem therapeutischen Prozess dienlich ist und der Patient die hinreichenden Voraussetzungen an Auffassungsgabe und Strukturiertheit erfüllt.

Mikroanalyse

Die Mikroanalyse beschäftigt sich mit einem ganz spezifischen, konkreten Problemverhalten und stellt quasi im Vergleich zu Plan- und Makroanalyse eine Art Lupen- oder Mikroskoptechnik dar, bei der einzelne Aspekte des Problemverhaltens genau analysiert werden. Es geht also nicht um die gesamte psychische Störung oder ein Cluster an zusammenhängenden Verhaltensweisen, sondern um ein singuläres Verhalten. Die Mikroanalyse geht auf lerntheoretische Ansätze und damit die Annahme zurück, dass Problemverhaltensweisen durch operante Konditionierung erlernt werden und an bestimmte auslösende Bedingungen kausal gekoppelt sind. Aufgrund dieser zeitlich-kausalen Abfolge von aszendenten situativen Bedingungen, gefolgt vom problematischen Verhalten, auf das wiederum aufrechterhaltende Konsequenzen folgen, spricht man auch von horizontaler Verhaltensanalyse. Die ursprüngliche Abfolge von Stimulus (S) – Reaktion (R) – Konsequenz (C) wurde um eine Kontingenz- (K) und eine Organismus-Variable (O) ergänzt. Diese Bausteine der Mikroanalyse sind in Abb. 3 schematisch dargestellt, wobei die über dem jeweiligen Baustein stehende Ziffer die Reihenfolge angibt, in der die einzelnen Schritte bearbeitet werden.
Mikroanalyse
1.
Zunächst wird die Reaktion (R), also das problematische Verhalten, ganz genau beschrieben. Hierbei werden verschiedene Ebenen differenziert, nämlich die kognitive (Rkognitiv), die emotionale (Remotional), physiologische (Rphysiologisch) und die motorische (Rmotorisch) Ebene. Nicht immer sind alle Verhaltensebenen gleichermaßen beobachtbar, sie müssen dann dem Selbstbericht des Patienten entnommen oder gemutmaßt werden.
 
2.
Der zweite Schritt ist die Skizzierung der Situation (S), in der das problematische Verhalten auftritt bzw. die das Verhalten auslöst. Der Begriff Situation ist hier im weitesten Sinne gemeint und umfasst sowohl äußere als auch innere Bedingungsfaktoren. Beispiele hierfür könnten der übervolle Kühlschrank oder aber ein Gefühl von Leere sein, die jeweils das problematische Verhalten, nämlich einen Essanfall, auslösen.
 
3.
Die Organismus-Variable (O) umfasst zumeist überdauernde Merkmale des Individuums, die eine moderierende Stellung zwischen Situation und Problemverhalten einnehmen. Hier spielen einerseits biologisch-physiologische Variablen, wie z. B. eine ausgeprägte motorische Unruhe, und kognitiv-psychologische Variablen eine Rolle. Letztere umfassen z. B. kognitive Schemata, Dispositionen oder Grundüberzeugungen.
 
4.
Die Konsequenzen (C) orientieren sich an den aus der operanten Konditionierung bekannten Verhaltensfolgen, die dazu führen, dass ein Verhalten in Zukunft häufiger oder seltener gezeigt wird: positive Verstärkung (C+), negative Verstärkung (C-/), Bestrafung (C-) und indirekte Bestrafung (C+/). Weiterhin wird noch der Zeitpunkt, zu dem die Konsequenzen auftreten, unterschieden. Hier interessieren in der Mikroanalyse kurzfristig (Ck) die Konsequenzen, die das Problemverhalten aufrechterhalten, also positive und negative Verstärkung, und langfristig (Cl) die Konsequenzen, die sich negativ auswirken, also Bestrafung und indirekte Bestrafung, jedoch aufgrund der zeitlichen Distanz keinen signifikanten Einfluss auf das Auftreten des Verhaltens haben. Die Konsequenzen können äußerlich, also z. B. in Interaktion mit einer anderen Person, oder innerlich, z. B. durch die Änderung eines aversiven physiologischen, emotionalen oder kognitiven Zustandes, erfolgen.
Wichtig: Für die Mikroanalyse sind kurzfristig nur Konsequenzen relevant, die dazu führen, dass das Verhalten häufiger gezeigt wird, also positive und negative Verstärkung.
 
5.
Im letzten Schritt wird die Kontingenz (K) bestimmt, die die Frequenz zwischen Verhalten (R) und Konsequenzen (C) beschreibt. Hier können die folgenden Formen unterschieden werden: Bei der kontinuierlichen Verstärkung folgt die Konsequenz auf jede Reaktion. Diese Art der Verstärkung ist besonders effektiv für den Aufbau eines Verhaltens (leider auch eines Fehlverhaltens). Ist das Verhalten allerdings etabliert, kommt es bei Ausbleiben der Konsequenz zu einer Löschung. Bei der intermittierenden Verstärkung erfolgt die Konsequenz auf das Verhalten nur gelegentlich. Diese Art der Verstärkung wirkt besonders dann aufrechterhaltend auf ein (Problem-) Verhalten, wenn dieses bereits aufgebaut wurde, und zeigt sich deutlich resistenter gegenüber Löschung als die kontinuierliche Verstärkung.
Wichtig: Kontinuierliche Verstärkung ist besonders für den Aufbau eines Verhaltens wirksam, intermittierende Verstärkung für die Aufrechterhaltung des Verhaltens.
 
Fallbeispiele
In Abb. 4 ist die Mikroanalyse für Leo zu sehen.
Als problematische Situation wurde diejenige aus dem Urlaub, in dem Leo nicht dazu in der Lage war, sich ein Eis zu kaufen, ausgewählt. Natürlich wäre es auch möglich gewesen, andere Situationen für die Mikroanalyse zu nehmen, diese bietet sich deshalb an, weil die Eltern selbst anwesend waren und detailliert davon berichten konnten. Weiterhin ist zu sehen, dass manche Bausteine in der Mikroanalyse eher indirekt aus den Angaben der Eltern und/oder allgemeinem Störungswissen geschlossen wurden, wie z. B. die kognitive Reaktion Leos oder die Organismus-Variable des erhöhten Perfektionismus. Die langfristige Konsequenz der Bestrafung (C-) wurde hier nicht aufgeführt, da eine solche augenscheinlich nicht vorhanden ist.
Aufschluss gibt uns die Mikroanalyse zu Leos Verhalten über mögliche Ansatzpunkte in der weiteren Therapie: Hier kann einerseits an den situativen Bedingungen und andererseits an den Konsequenzen gearbeitet werden. Beispielsweise könnte man in der Therapie die Situation dahingehend ändern, dass Leo zunächst im Rollenspiel mit seiner Mutter (vertraute Person) ein Eis bestellen soll. Im Rahmen einer hierarchischen Exposition wird der Grad an Vertrautheit der Person dann im Weiteren variiert. Schließlich kann eine „reale“ Situation aufgesucht werden, bei der Leo aber zunächst begleitet wird und z. B. nur das Geld auf den Tresen legen muss. Diese Unterstützung wird dann schrittweise ausgeschlichen (Fading), bis Leo schließlich selbstständig ein Eis bei einem fremden Verkäufer bestellen kann. Bezüglich der Konsequenzen empfiehlt sich eine ausführliche Psychoedukation mit den Eltern, die in guter Absicht aufrechterhaltend fungieren. Die Eltern werden zu Kotherapeuten ausgebildet, wobei der Therapeut zunächst als Modell dienen sollte. Das Ziel wäre hier, dass die Eltern Leo einerseits nicht mehr positiv in derartigen Situationen verstärken, indem sie ihm Aufmerksamkeit schenken (stattdessen sollten sie mutigem Verhalten von Leo viel Aufmerksamkeit und Beachtung widmen), und andererseits sollten sie ihm die Aufgabe nicht abnehmen und das Eis für ihn kaufen, da dies zu einer negativen Verstärkung über den Abfall der Anspannung und Angst führen und das Insuffizienzgefühl des Jungen stärken würde. Natürlich kann man mit Leo auch selbst an der Reaktion arbeiten, indem man beispielsweise eine wünschenswerte Reaktion definiert und diese einübt wie oben geschildert. Auch hier ist Psychoedukation unabdingbar, um dem Kind einerseits Sicherheit zu geben, andererseits auch ein Verständnis und damit einhergehend eine Motivation für diese schwierige Herausforderung zu generieren.
Abb. 5 zeigt die Mikroanalyse zum zweiten Fallbeispiel.
Bei Sarah wurde eine Situation aus dem schulischen Kontext für die Mikroanalyse ausgewählt. Bei dieser Analyse zeigt sich, dass manche situativen Bedingungen nur bedingt verändert werden können. Der Therapeut kann zwar versuchen, die Lehrkraft dahingehend zu beraten, den Unterricht abwechslungsreicher zu gestalten und die Einheiten, in denen eine hohe Aufmerksamkeit erforderlich ist, kürzer zu halten, aber nicht immer ist diese Möglichkeit der Einflussnahme gegeben. Auch bezüglich der Konsequenzen können Empfehlungen ausgesprochen werden, beispielsweise dass Sarah positive Verstärkung für angemessenes Verhalten erhält, möglicherweise durch einen Punkteplan, mit dem sie für jede Schulstunde, in der sie nicht „gekaspert“ hat, einen Punkt erhält. Eine weitere Möglichkeit ist eine Time-out-Maßnahme, z. B. in Form eines „stillen Stuhls“, um die Aufmerksamkeitszuwendung durch die Lehrkraft und Mitschüler zu reduzieren. Es wird aber deutlich, dass all diese Maßnahmen im hohen Maße von der Bereitschaft Außenstehender abhängen, sodass ggf. auf eine Veränderung der Organismus-Variablen selbst hingearbeitet werden müsste. Hier böte sich einerseits ein soziales Kompetenztraining an, in dem Sarah lernt, die soziale Zuwendung auf anderem Wege zu erhalten als durch das problematische Verhalten. Eine andere Möglichkeit stellt die Behandlung der Grunderkrankung der ADHS dar.

Plananalyse

Die Plananalyse beschäftigt sich mit den einem Problemverhalten zugrunde liegenden Strukturen. Im Vergleich zu der Lupentechnik der Mikroanalyse ist sie also quasi eine Betrachtung der Thematik in einem ausgewogenen Verhältnis aus Distanz und Nähe. Die Plananalyse betrachtet dabei nicht nur ein einzelnes Problemverhalten, selbst wenn dieses Ausgangspunkt für die Betrachtung sein kann, sondern zusammenhängende Problemcluster, die thematisch auf einen oder mehrere gemeinsame Faktoren zurückgeführt werden können. Eine direkte Verbindung zur Mikroanalyse ergibt sich aus dem psychologischen Teil der Organismus-Variable, der häufig Bereiche der Plananalyse, allerdings nur bezüglich des konkret untersuchten Problemverhaltens, benennt.
Die Plananalyse geht auf Grawe und Caspar zurück (Klemenz 1999). Die Grundannahme der Plananalyse ist, dass (problematische) Verhaltensweisen dazu dienen, grundlegende psychische Bedürfnisse zu befriedigen (Caspar 1996; Übersicht „Grundlegende psychische Bedürfnisse nach der Konsistenztheorie (Grawe 1998)“).
Grundlegende psychische Bedürfnisse nach der Konsistenztheorie (Grawe 1998)
  • Das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit
  • Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
  • Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
  • Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und -schutz
Nach der Theorie versucht jeder Mensch, nicht erfüllte Grundbedürfnisse zu befriedigen bzw. deren Bedrohung oder Verletzung zu verhindern. Daraus entstehen sog. Oberpläne, die übergeordnete Handlungsanweisungen im Sinne eines Annäherungs- oder Vermeidungsverhaltens darstellen und wiederum in verschiedene Unterpläne münden. Auf der untersten Ebene dieser hierarchischen Struktur stehen die konkreten Verhaltensweisen. Abb. 6 zeigt eine solche Plananalyse schematisch. In den meisten Fällen sind die höheren Pläne nicht bewusst zugänglich und lassen sich deshalb leichter „bottom-up“, also von der untersten Verhaltensebene hin nach oben entschlüsseln.
Eine Plananalyse bietet sich immer dann besonders an, wenn man als Therapeut den Eindruck hat, dass eine Vielzahl von problematischen Verhaltensweisen mit demselben höheren Ziel ausgeführt werden, ein starker kognitiver oder moralischer Überbau dem Verhalten zugrunde liegt und/oder das Problemverhalten kompensatorischen Charakter hat.
Fallbeispiele
Abb. 7 stellt die Plananalyse für das erste Fallbeispiel dar.
Leos ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbstwertschutz resultiert in zwei Vermeidungszielen. Durch sein dysfunktionales Verhalten – indem er kein Eis bestellt, nur mit vertrauten Kindern spricht oder ganz schweigt – vermeidet Leo Situationen, die aus seiner subjektiven Sicht seinen Selbstwert bedrohen. Therapeutisch könnte man daraus Maßnahmen ableiten, die den Selbstwert durch Annährungsziele erhöhen, wie z. B. Stärken und Dinge, die er gut kann, zu sammeln oder sein Kompetenzerleben durch kleine Expositionsübungen zu erhöhen. Gleichzeitig kann man auch die Wahrscheinlichkeiten, die Leo zwischen seinem Verhalten und den negativen antizipierten Konsequenzen annimmt, empirisch durch Verhaltensexperimente überprüfen. Beispielsweise wird Leo die Wahrscheinlichkeit, vom Eisverkäufer ausgelacht zu werden, wenn er ein Eis bestellt, als unrealistisch hoch einstufen.
In Abb. 8 ist die Plananalyse für Sarah dargestellt.
Bei Sarah lassen sich viele problematische Verhaltensweisen dem Grundbedürfnis des Lustgewinns und der Unlustvermeidung zuordnen. Dabei könnte man sich aber auch vorstellen, dass durchaus auch noch andere, in der Abbildung nicht aufgeführte Bedürfnisse eine Rolle spielen, wie z. B. ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle und Autonomie oder auch ein Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit. So könnte ggf., wenn der Therapeut den Eindruck hat, dass im konkreten Fall mehrere Grundbedürfnisse eine Rolle spielen, die Plananalyse erweitert werden. Therapeutisch ließe sich aus der dargestellten Struktur ableiten, dass Aufgaben für Sarah so gestaltet werden müssten, dass sie entweder als solche durch Sarah als verstärkend erlebt werden oder zumindest indirekt dazu führen, dass Sarah positive Erlebnisse hat, also quasi im Sinne einer Belohnung für weniger lustbesetzte Tätigkeiten. Dabei ist es natürlich wichtig, dass die verstärkenden Tätigkeiten nicht ohne die weniger verstärkenden zur Option stehen, da sie sonst unmittelbar angesteuert werden, um das Grundbedürfnis zu erfüllen.
Beide Plananalysen kommen damit zwar nicht zu einem grundlegend unterschiedlichen Ergebnis als die Mikroanalysen, jedoch ist der Fokus ein deutlich anderer, weil es darum geht, zu überlegen, wie die Grundbedürfnisse der Kinder auf funktionale Weise erfüllt werden könnten.

Makroanalyse

Die Makroanalyse schließlich ist mit einem Blick aus der Ferne auf das Große und Ganze zu vergleichen. Sie bezieht Faktoren aus der unmittelbaren Umwelt des Kindes mit ein, die einen Einfluss auf die Symptomatik haben können. Die Analyse bietet sich besonders an, um einerseits Ressourcen und Hilfebedarf außerhalb der Psychotherapie des Kindes einzuschätzen, andererseits Faktoren zu identifizieren, die einen Therapieerfolg verzögern oder verhindern. Eine klassische Situation, die jeder Therapeut früher oder später einmal erlebt, ist, dass er zwar alles in der Behandlung nach Lehrbuch und Therapiemanual macht, sich aber trotzdem keinerlei Fortschritte einstellen. Oder die eine Symptomatik verschwindet, dafür aber eine andere auftaucht. In solchen Situationen ist es sinnvoll, bildlich gesprochen, einen Schritt zurückzutreten und den Blick auf den Hintergrund zu richten, in den die Symptomatik eingebettet ist. Hier lassen sich evtl. Räder finden, an denen erst gedreht werden muss, bevor man sich psychotherapeutisch wieder der eigentlichen Symptomatik zuwenden kann.
In der Makroanalyse differenziert man vier verschiedene Bereiche, wobei die ersten beiden das Kind, die letzten beiden die Umwelt betreffen (Übersicht „Makroanalyse“).
Makroanalyse
1.
Symptome: Hier werden einzelne Problemverhaltensweisen aufgeführt, ohne dass sie, wie bei der Mikroanalyse, genauer beschrieben werden.
 
2.
Individuelle aufrechterhaltende Faktoren: Vergleichbar mit der Organismus-Variable in der Mikroanalyse werden hier Faktoren aufgeführt, die im Patienten liegen und einen Einfluss auf die Symptomatik haben.
 
3.
Aufrechterhaltende Faktoren Umwelt: In diesem Bereich werden außerhalb vom Patienten liegende Faktoren angeführt, die die Symptomatik aufrechterhaltend beeinflussen.
 
4.
Hintergrundvariablen: Diese Variablen stellen die angenommene Ursache für die aufrechterhaltenden individuellen und umweltbedingten Faktoren dar.
 
Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Variablen wird zudem gekennzeichnet, wodurch sich auch direkte Ansatzpunkte für die therapeutische Intervention ergeben (Kanfer et al. 2012). In Abb. 9 ist eine Makroanalyse schematisch dargestellt, wobei die über den einzelnen Bausteinen stehenden Ziffern die Reihenfolge, in der die Bausteine bearbeitet werden sollten, kennzeichnen und die Pfeile exemplarisch angeordnet sind.
Fallbeispiele
In Abb. 10 ist die Makroanalyse für Leo dargestellt.
Neben den bereits in der Mikroanalyse angesprochenen Ansatzpunkten, die hier erneut deutlich werden, ergeben sich noch weitere wichtige Hinweise für die Therapie. So könnten die Eltern, insbesondere der Vater, dahingehend beraten werden, selbst eine therapeutische Behandlung in Angriff zu nehmen. Leo sollte altersadäquat über die Erkrankung des Vaters aufgeklärt werden, um dessen fehlende Zuwendung nicht falsch zu attribuieren. Hier wäre ggf. auch eine „zweckfreie Quality-Time“ für Vater und Sohn sinnvoll, wenn der Vater dies leisten kann. Die Familie könnte dazu ermuntert werden, insgesamt mehr soziale Kontakte zu suchen, um so dem Jungen Rollenmodelle zu bieten und soziale Kontakte als erstrebenswert zu vermitteln. Beide Eltern sollten zumindest im Rahmen einer Psychoedukation über dysfunktionale Erziehungsmuster aufgeklärt werden, für die Mutter wäre hier auch ein Elterntraining denkbar, in dem sie lernt, dass sie mit ihrem gut gemeinten, überbehütenden Verhalten aufrechterhaltend in Bezug auf die Störung wirkt.
Abb. 11 zeigt die Makroanalyse für Sarah.
Diese Analyse legt nahe, dass die Familie zusätzliche Unterstützung für die Pflege von Sarahs Bruder beantragen könnte, um die Mutter zu entlasten und es ihr zu ermöglichen, Sarah mehr Zuwendung zu geben. Möglicherweise wäre eine Behandlung des Vaters sinnvoll, und beide Eltern könnten von einem Elterntraining oder einer Erziehungsberatung profitieren, durch die konsequentes und einheitliches elterliches Verhalten vermittelt würde. Für Sarah wären außerschulische Aktivitäten, bei denen sie in Kontakt mit Gleichaltrigen kommt, sinnvoll, da sie so ihre sozialen Kompetenzen verbessern und Freunde finden könnte, was sich wiederum positiv auf ihren Selbstwert auswirken sollte.

Fazit

Die Verhaltensdiagnostik ist ein bedeutsames Werkzeug für verhaltenstherapeutische Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, da es eine Grundvoraussetzung für die Behandlungsplanung darstellt und deshalb unverzichtbar ist. Durch eine Kombination verschiedener verhaltensdiagnostischer Verfahren lässt sich die Problematik des individuellen Falls umfassend erschließen. Für die Behandlung bedeutsame Aspekte werden offensichtlich und können so berücksichtigt werden.
Literatur
Caspar F (1996) Beziehungen und Probleme verstehen. Eine Einführung in die psychotherapeutische Plananalyse. Huber, Bern
Grawe K (1998) Psychologische Therapie. Hogrefe, Göttingen
Kanfer FH, Reinecker H, Schmelzer D (2012) Selbstmanagement-Therapie: Ein Lehrbuch für die klinische Praxis, 5. Aufl. Springer, BerlinCrossRef
Klemenz B (1999) Plananalytisch orientierte Kinderdiagnostik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen