Einleitung
Die Ausübung von Zwang
kann Teil einer psychiatrischen Behandlung sein, auch wenn dies keineswegs zum Alltag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gehört. Auch wenn im Vergleich zu den vielfältigen Interventionen im Laufe einer stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung Zwangsmaßnahmen
ein vergleichsweise seltenes Geschehen darstellen, so sind sie doch in ihrer Gesamtheit eine nicht zu vernachlässigende Größe. In einer bevölkerungsrepräsentativen
Stichprobe in Deutschland von 2524 Teilnehmerinnen und Teilnehmern von 14–99 Jahren (mittleres Alter: 48,8 Jahre) gaben 15,9 % der Befragten an, sich zumindest einmalig während ihres Lebens in psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung befunden zu haben. Insgesamt hatten sich 4 % der Befragten bereits zumindest einmalig unfreiwillig in psychiatrischer Behandlung befunden, davon 68,8 % in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung. Es fand sich hierbei kein geschlechtsspezifischer Unterschied, jedoch berichteten Teilnehmende ohne Abitur häufiger davon, gegen ihren Willen psychiatrisch behandelt worden zu sein (Groschwitz et al.
2017).
Es sind verschiedene Formen der Behandlung gegen den Willen zu unterscheiden. Dies reicht von einer – nach richterlichem Beschluss angeordneten – unfreiwilligen Behandlung in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik, in der Kinder durch geschlossene Türen in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, sich aber dennoch an den Therapien beteiligen, bis zu Maßnahmen der Zwangsernährung
, der körperlichen Fixierung
durch Festhalten, der mechanischen Fixierung
(etwa in einem Fixierbett) oder Zwangsmedikation
(manchmal auch als „chemische Fixierung“ bezeichnet; vgl. Libal et al.
2006).
Zu Zwangsmaßnahmen kommt es dabei meistens in Situationen, in denen unmittelbar eine akute Gefährdung für das Leben oder das körperliche Wohlergehen von Patientinnen oder Patienten oder ihrer Umwelt besteht. Etwa dann, wenn es zu suizidalen oder direkt körperlich schädigenden Handlungen kommt, die nicht anders unterbrochen werden können, oder wenn agitierte Patienten andere Patienten oder Mitarbeiter körperlich bedrohen. Mitunter kann auch eine drohende vitale Gefährdung bei fehlender Krankheitseinsicht (wie etwa im Rahmen einer exazerbierten anorektischen Symptomatik) oder aber auch eine chronische Gefährdung des Wohles des Patienten zu einer Behandlung gegen den Willen des Patienten führen. Hierbei existieren jedoch in den verschiedenen deutschsprachigen Ländern deutliche Unterschiede in den rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine Zwangsmaßnahme begründen können. Allen Kontexten gleich ist, dass eine Auseinandersetzung mit der Zwangsthematik für alle kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken unumgänglich ist. Dabei sollte in den Kliniken darauf hingearbeitet werden, Zwangsmaßnahmen vorab zu reflektieren bzw. einen Algorithmus eines Vorgehens zu erstellen, da in aller Regel jene Momente, in denen es zur unmittelbaren Anwendung von Zwang kommt, Akutsituationen darstellen, in denen klare Entscheidungshilfen notwendig sind. Zudem sollte an allen kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken, in denen eine Behandlung gegen den Willen von Patienten ausgeführt wird, eine einheitliche Dokumentation von Zwangsmaßnahmen erfolgen, einerseits um den gesetzlichen Dokumentationspflichten nachzukommen, andererseits aber auch, um die Wirksamkeit von getroffenen Maßnahmen zur Reduktion von Zwangsereignissen evaluieren zu können. Ein solches Register kann damit zum Ausgangspunkt zur Prävention von Zwangsmaßnahmen werden.
Aus der Dokumentation muss eine Begründung für ein Eingreifen in das Recht auf Selbstbestimmung und auch in die körperliche Freiheit nachvollziehbar und klar ersichtlich werden. Nicht zuletzt sind solche Dokumentationen auch notwendig, um im Rahmen von Visitationen (etwa durch Menschenrechtskommissionen oder – in Deutschland – auch durch die in vielen Landesgesetzen geregelten Besuchskommissionen) eine entsprechende Dokumentation vorhalten zu können. Ausgehend von der relativen Seltenheit dieser Ereignisse und der Notwendigkeit einer schnellen Reaktion, empfiehlt sich gerade in diesem Bereich eine (immer wieder aufzufrischende) Schulung des Personals wie auch ein hohes Maß an Standardisierung im Vorgehen.
Rechtliche Rahmenbedingungen
Österreich
In Österreich regelt das Unterbringungsgesetz
(UbG) die
Unterbringung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in Krankenanstalten. Maßgeblich ist demnach das Vorliegen einer psychischen Erkrankung. Wenn ein psychisch krankes Kind oder Jugendlicher nach § 3 UbG „sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet und nicht in anderer Weise […] ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann“, muss es in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht werden.
Die Polizei ist berechtigt, ein Kind oder einen Jugendlichen entweder nach § 9 Abs. 1 UbG oder § 9 Abs. 2 UbG gegen seinen Willen in eine psychiatrische Abteilung zu bringen. Gem. § 9 Abs. 1 UbG erfolgt die Einweisung über die Bescheinigung von einem Arzt (§ 8 UbG) (meist Amtsarzt). Liegt Gefahr im Verzug vor, kann die Polizei nach § 9 Abs. 2 UbG den Betroffenen auch ohne ein ärztliches Zeugnis in eine psychiatrische Abteilung bringen. Eine
Unterbringung kann nur auf Rechtsgrundlage einer Unterbringung auf Verlangen (§ 4 UbG) oder einer Unterbringung ohne Verlangen erfolgen.
Bei einer
Unterbringung auf Verlangen
gem. § 5 UbG kann ein mündiger Minderjähriger nur auf sein eigenes Verlangen untergebracht werden. Ein entscheidungsfähiger unmündiger Minderjähriger darf nur auf Verlangen untergebracht werden, wenn das Verlangen von ihm und seinem Erziehungsberechtigten gestellt wird. Ein entscheidungsunfähiger Minderjähriger darf auch auf Verlangen seines Erziehungsberechtigten untergebracht werden. Zur Aufhebung reicht der Widerruf nur einer Person, die zur Antragsstellung berechtigt war. Eine Unterbringung auf Verlangen dauert gem. § 7 UbG 6 Wochen und kann maximal auf insgesamt 10 Wochen verlängert werden.
Bei einer
Unterbringung ohne Verlangen kann der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie den Patienten gegen seinen Willen unterbringen, wenn die Voraussetzungen (unmittelbare Selbst- oder Fremdgefährdung) für eine Unterbringung nach seinem ärztlichen Zeugnis gegeben sind. Der Facharzt muss den Patienten über die Gründe der Unterbringung in Kenntnis setzen. Überdies ist er verpflichtet, einen Patientenanwalt und einen Angehörigen zu verständigen, einen Rechtsbeistand hingegen nur auf Wunsch des Patienten. Der Patient muss darauf hingewiesen werden, dass auf sein Gesuch oder das Gesuch seines Erziehungsberechtigten oder des Facharztes, ein zweites ärztliches Zeugnis erstellt werden kann. Dies muss spätestens am Vormittag des nächsten Werktages erfolgen. Eine Erstanhörung des Patienten durch einen Richter muss innerhalb von 4 Tagen stattfinden (§ 19 Ubg). Erklärt der Richter die Unterbringung für zulässig, erfolgt eine mündliche Verhandlung 14 Tage nach der Erstanhörung (§ 20 UbG). In der Zeit bis zur mündlichen Verhandlung muss durch einen Sachverständigen ein schriftliches Gutachten erstellt werden. Wird die Unterbringung erneut für zulässig erklärt, ist diese Escheidung für maximal drei weitere Monate zulässig und kann bei erneuter Verhandlung auf maximal sechs Monate verlängert werden.
Während der
Unterbringung regelt das Unterbringungsgesetz Beschränkungen (Schutzfixierung, Einzelraum, Steckgitter, Kamera, Besuch, Telefonverkehr) und die ärztliche Behandlung. Ein entscheidungsfähiger Patient darf gem. § 36 nicht gegen seinen Willen behandelt werden, ein entscheidungsunfähiger Minderjähriger nur mit Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters. Bei Gefahr im Verzug darf gem. § 37 ein Patient auch gegen seinen Willen behandelt werden.
Das Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG) regelt in Österreich Freiheitsbeschränkungen im Sinne einer Ortsveränderung gegen den Willen einer betreuten Person bei psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung in Betreuungseinrichtungen. 2017 wurde das HeimAufG auf Einrichtungen zur Pflege und Erziehung minderjähriger Personen ausgeweitet. Die langfristigen Auswirkungen des erweiterten Anwendungsbereichs auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie sind noch nicht abzusehen.
Deutschland
Um eine Behandlung gegen den Willen einer Person im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorzunehmen, sind prinzipiell drei rechtliche Grundlagen heranzuziehen (s. auch Brünger et al.
undatiert):
So kann im Fall einer Kindeswohlgefährdung eine Inobhutnahme durch ein Jugendamt gem. § 42 SGB VIII erfolgen, wobei das Jugendamt, das diese Maßnahme für die Dauer bis zum Ablauf des Tages nach deren Beginn selbstständig setzen kann, dafür zu sorgen hat, dass ein richterlicher Beschluss erwirkt wird. Eine solche Inobhutnahme muss nicht zwingend, kann aber auch in einer stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik und auch gegen den Willen der Sorgeberechtigten erfolgen.
Auf einer anderen Rechtsgrundlage fußt die
Unterbringung gem. § 1631b BGB
. Es handelt sich hierbei um eine zivilrechtliche Form der Unterbringung, die explizit nur im Bereich der Behandlung von Kindern und Jugendlichen gegen deren Willen in Deutschland existiert, da es sich um eine Bestimmung zur Wahrnehmung des Sorgerechts handelt und in den anderen deutschsprachigen Ländern keine Entsprechung findet. Hier fungieren die Sorgeberechtigten als Antragsteller vor Gericht, dann wenn sie Unterstützung benötigen, um insbesondere eine „erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung“ abzuwenden. Auch eine solche Unterbringung bedarf vorab eines richterlichen Beschlusses. Auf einen solchen kann in der Akutsituation nur verzichtet werden, „wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist.“ In einem solchen Fall ist „die Genehmigung […] unverzüglich nachzuholen“ (§ 1631b BGB). Eine Novellierung vom 17.07.2017 verlangt nun auch dezidiert nach einer richterlichen Genehmigung von weiteren Zwangsmaßnahmen („wenn dem Kind […] durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht altersgerechter Weise die Freiheit entzogen werden soll“) in diesem Kontext. So ist daran zu denken, dass seit dieser Novellierung etwaige Fixierungen oder Zwangsmedikationen auch einer zusätzlichen richterlichen Genehmigung bedürfen.
Bei den Psychisch-Kranken-(Hilfe-)Gesetzen
oder Unterbringungsgesetzen handelt es sich um länderspezifische Gesetzgebungen, die je nach Bundesland variieren (Tab.
1). Auf Basis dieser Gesetze können
Unterbringungen aufgrund ärztlicher Veranlassung nach richterlichem Beschluss erfolgen. Die gesetzlichen Normen weisen je nach Bundesland Unterschiede auf, zumeist finden sich aber Regelungen, wonach im akuten Notfall eine Unterbringung und Behandlung gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt werden kann und das Gericht danach in Kenntnis zu setzen ist. Die Fristen, innerhalb derer solche Zurückhaltungen durchzuführen sind, variieren jedoch zwischen den einzelnen Gesetzen der Bundesländer. In den meisten Fällen sind zur Überprüfung der Einhaltung von Normen auch Besuchskommissionen vorgesehen.
Tab. 1Psychisch-Kranken-(Hilfe-)Gesetze und Unterbringungsgesetze der Länder mit der Rechtsgrundlage für Besuchskommissionen. (Diese Gesetzesnormen können Änderungen unterliegen)
Baden-Württemberg | Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz – PsychKHG vom 25.11.2014 (GBl. S. 534), in Kraft seit 01.01.2015 |
Bayern | Unterbringungsgesetz – (UnterbrG) vom 05.04.1992 (GVBl 1992, S. 60), zuletzt geändert durch VO vom 22.07.2014 (GVBl. 286) |
Berlin | |
Brandenburg | Brandenburgisches Psychisch-Kranken-Gesetz – BbgPsychKG) vom 05.05.2009 (GVBl.I S. 134), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10.07.2014 (GVBl.I Nr. 34) |
Bremen | Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) vom 19.12.2000 (Brem. GBl. S. 471), zuletzt geändert durch G. vom 22.07. 2014 (Brem. GBl. S. 338) |
Hamburg | Hamburgisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (HmbPsychKG) vom 27.09.1995 (HmbGVBl. S. 235), zuletzt geändert durch Gesetz vom 01.10.2013 (HmbGVBl. S. 425) |
Hessen | Hessisches Gesetz über Hilfen bei psychischen Krankheiten (Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz – PsychKHG) vom 04.05.2017 |
Mecklenburg-Vorpommern | Psychischkrankengesetz (PsychKG M-V) vom 13.04.2000 (GVOBl. M-V 2000, S. 182), zuletzt geändert durch Gesetz vom 09.11.2010 (GVOBl. M-V S. 642) |
Niedersachsen | Niedersächsisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) vom 16.06.1997 (Nds. GVBl. S. 272), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10.06.2010 (Nds. GVBl. S. 249) |
Nordrhein-Westfalen | Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) vom 17.12.1999 (GV. NRW. S. 662), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011 (GV. NRW. S. 587) |
Rheinland-Pfalz | Landesgesetz für psychisch kranke Personen (PsychKG) vom 17.11.1995 (GVBl. S. 442), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27.05.2014 (GVBl. S. 69) |
Saarland | Gesetz Nr. 1301 über die Unterbringung psychisch Kranker (UBG) vom 11.11.92 (Amtsbl. S. 1271), zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 182 vom 09.04.2014 (Amtsbl. S. 156) |
Sachsen | Sächsisches Gesetz über die Hilfen und die Unterbringung bei psychischen Krankheiten (SächsPsychKG) vom 10.10.2007 (SächsGVBl. Nr. 12, S. 422), zul. geändert durch Gesetz vom 07.08.2014 (SächsGVBl. S. 446) |
Sachsen-Anhalt | Gesetz über Hilfen für psychisch Kranke und Schutzmaßnahmen des Landes Sachsen-Anhalt (PsychKG LSA) vom 30.01.1992 (GVBl. LSA 1992, S. 88), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13.04.2010 (GVBl. LSA S. 192) |
Schleswig-Holstein | Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen (Psychisch-Kranken-Gesetz – PsychKG) vom 14.01.2000, zuletzt geändert durch Gesetz v. 24.09.2009 (GVOBl. S. 633) |
Thüringen | Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen (ThürPsychKG) vom 05.02.2009 (GVBl. 2009, S. 10), zuletzt geändert durch Gesetz vom 08.08.2014 (GVBl. S. 545) |
Hinsichtlich der Umsetzung von Zwangsmaßnahmen ist auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2018 (2 BvR 309/15) einzugehen. Demnach ist eine körperliche Fixierung, die einen Zeitraum von 30 Minuten überschreitet nicht mehr als kurzfristig zu betrachten und daher auch von einer richterlichen Unterbringungsanordnung nicht gedeckt.
Schweiz
Die
Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz wird in Anlehnung an die rechtliche Lage bei Erwachsenen im Zivilgesetzbuch (ZGB) geregelt. Sowohl in Art. 314b als auch in Art. 327c ZGB wird auf eine „sinngemäße Anwendung“ der Bestimmungen des Erwachsenenschutzrechts bei Minderjährigen verwiesen. Hierbei wurde von Schneller und Bernardon (
2016) darauf hingewiesen, dass die „sinngemäße Anwendung“ einen Interpretationsspielraum lässt, der unbefriedigend sein muss. In der Schweiz kann eine „fürsorgerische Unterbringung
“ (FU) laut Erwachsenenschutzrecht
(Art. 426 ff. ZGB) zur Anwendung kommen, wenn eine Person, die an einer psychischen Störung, an einer geistigen Behinderung oder unter schwerer Verwahrlosung leidet, gegen ihren Willen in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden soll, sofern die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders sichergestellt werden kann. Medizinische Zwangsmaßnahmen können bei fehlender Zustimmung von Patientin oder Patient auf chefärztliche Anordnung gemäß Art. 434e ZGB vollzogen werden, wenn eine ernste Bedrohung für Leben oder körperliche Unversehrtheit besteht, die Patientin bzw. der Patient urteilsunfähig ist und keine weniger einschneidenden Maßnahmen zur Verfügung stehen. Dies wirft bei Anwendung bei Minderjährigen das Problem auf, dass theoretisch die Entscheidung des Chefarztes über das Elternrecht gestellt werden könnte, was so vom Gesetzgeber nicht intendiert war und daher umso stärker dazu führen sollte, die Meinung des Minderjährigen einzubeziehen (Schneller und Bernardon
2016). Von Schneller und Bernardon (
2016) wird darauf hingewiesen, dass die Unterbringung sich bei Minderjährigen in der Schweiz auch nach dem Aufenthaltsbestimmungsrecht als Teil der elterlichen Sorge gemäß Art. 301a ZGB richten kann. Daraus resultiert auch, dass in diesem Fall die Verfahrensrechte für FUs nicht zur Anwendung kommen und daher in diesem Fall den Minderjährigen keine Rechtsmittel zur Verfügung stehen, um Einspruch zu erheben. Es bleibt lediglich die Möglichkeit der Meldung einer Kindeswohlgefährdung an die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde mit der Bitte um Beistellung eines Beistandes. Diese fehlende Einspruchsmöglichkeit ist als kritisch zu bewerten (Schneller und Bernardon
2016).
Umsetzung von Zwangsmaßnahmen
Als generelles Prinzip sollte gelten, dass Zwangsmaßnahmen stets als letztes zur Verfügung stehendes Mittel in einer Behandlung zu betrachten sind, wenn weniger restriktive Maßnahmen ausgeschöpft sind und eine Gefährdung des Patienten besteht. Das betrifft nicht nur die
Unterbringung und Behandlung einer Person an sich, sondern natürlich auch den Einsatz von restriktiven Maßnahmen wie Isolierung, Fixierung oder Zwangsmedikation. Der Einsatz restriktiver Maßnahmen sollte auf Situationen beschränkt bleiben, in denen durch das Verhalten der Person eine Gefährdung der Person selbst oder anderer besteht, oder es zu einer schwerwiegenden Beschädigung von Gegenständen kommt. Bei der Umsetzung dieser restriktiven Maßnahmen ist ein kontinuierliches Monitoring nötig, um einerseits die Sicherheit der Person zu gewährleisten und andererseits auch dafür Sorge zu tragen, dass die Anwendung von Zwang unmittelbar beendet wird, wenn keine Notwendigkeit mehr dafür besteht.
Einige wichtige Hinweise für die Ansprüche, die Kinder – auch im Zuge von
Unterbringungen – haben, finden sich in der Kinderrechtskonvention
(UNICEF
1989). Hier wird in Artikel 37 (Artikel 37: Verbot der Folter, der Todesstrafe, lebenslanger Freiheitsstrafe, Rechtsbeistandschaft) darauf Bezug genommen, „dass keinem Kind die Freiheit rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird. Festnahme, Freiheitsentziehung oder Freiheitsstrafe darf bei einem Kind im Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit angewendet werden“. Daneben finden sich noch weitere wesentliche Überlegungen dazu, wie im Falle einer Freiheitsentziehung vorzugehen sei. So sollen Kinder „unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Personen seines Alters behandelt“ werden. Das heißt mit Bezug auf andere Passagen der Kinderrechtskonvention, dass selbstverständlich das Recht auf Bildung, Schule und Berufsausbildung (Artikel 28) und die „Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben“ (Artikel 37) nicht durch eine Unterbringung außer Kraft gesetzt werden. Daher muss daran gedacht werden, wie Kindern und Jugendlichen, auch wenn sie gegen ihren Willen aufgrund freiheitsentziehender Maßnahmen untergebracht werden, eine Teilhabe an Bildung und auch altersgerechten Freizeitaktivitäten ermöglicht werden kann. Dies stößt mitunter auch an bauliche Grenzen, und es müssen dann individuelle Lösungen gesucht werden, etwa in dem Sinne, dass eine Einzelbeschulung im stationären Rahmen sichergestellt werden muss, wenn der Patient diesen nicht verlassen kann. In Artikel 37 wird auch darauf Bezug genommen, dass Kinder und Jugendliche, denen die Freiheit entzogen wurde, nicht gemeinsam mit Erwachsenen untergebracht werden sollen („Insbesondere ist jedes Kind, dem die Freiheit entzogen ist, von Erwachsenen zu trennen, sofern nicht ein anderes Vorgehen als dem Wohl des Kindes dienlich erachtet wird“). Das stellt eine klare Absage an die aufgrund mangelnder Angebote mancherorts immer noch durchgeführte Praxis der Behandlung von Kindern und Jugendlichen gegen deren Willen in Einrichtungen der Erwachsenenpsychiatrie dar. Diese Praxis ist daher als kinderrechtskonventionswidrig zu bezeichnen. Zudem ist darauf zu achten, dass auch Kinder und Jugendliche, die mit freiheitsentziehenden Maßnahmen untergebracht wurden, ein Recht darauf haben, Besuche durch die Familie zu erhalten und/oder mit dieser in Briefwechsel zu bleiben (UNICEF
1989)
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass:
Zwangsmaßnahmen nur als letztes Mittel anzuwenden sind, wenn andere Maßnahmen keine Aussicht auf Erfolg haben;
diese Zwangsmaßnahmen so kurz wie möglich zu halten und bei Wegfallen der den Zwang begründenden Umstände zu beenden sind;
eine Dokumentation von Ursache, Methode, Dauer und Beendigung der Zwangsmaßnahme unmittelbar standardisiert zu erfolgen hat;
darauf zu achten ist, dass auch Kinder und Jugendliche, denen die Freiheit entzogen wurde, die gleichen Rechte auf Kontakt mit der Familie und altersangemessene Freizeit- und Schulmöglichkeiten haben.
Diese Punkte werden häufig auch im Rahmen von Visitationen durch Besuchskommissionen überprüft, sodass sich Einrichtungen, in denen Kinder gegen ihren Willen behandelt werden, mit der Bereitstellung dieser Angebote auseinandersetzen müssen. Dazu gehören im Weiteren auch Überlegungen, wie Kinder und Jugendliche, denen die Freiheit entzogen wurde, eine Möglichkeit bekommen können, ins Freie zu kommen. Dafür existiert zwar keine anwendbare Rechtsnorm, es kann allerdings darauf Bezug genommen werden, dass im deutschen Strafvollzugsgesetz (§ 64 StVollzG) festgehalten wird, dass jedem Gefangenen (sofern er nicht im Freien arbeitet) „täglich mindestens eine Stunde Aufenthalt im Freien ermöglicht“ wird (sofern dies die Witterung zulässt). Eine Schlechterstellung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung ist demgegenüber nicht zu rechtfertigen. Auch ist darauf zu achten, dass gerade auch Kinder und Jugendliche, die gegen ihren Willen behandelt werden, das Recht wahrnehmen können sollten, sich zu beschweren. Daher ist darauf zu achten, dass neben den rechtlich vorhandenen offiziellen Beschwerdeformen etwa über den Rechtsbeistand des Kindes in einem Unterbringungsverfahren oder Einrichtungen wie der Patientenanwaltschaft auch niedrigschwelligere Beschwerdesysteme zugänglich gehalten werden müssen, um sich etwa über demütigende Behandlung durch Personal beschweren zu können. Möglichkeiten dafür können ein Patientenfürsprecher, ebenso wie (elektronische) Beschwerdebriefkästen oder auch telefonische Beschwerdestellen mit Verbindung zu Institutionen wie Polizei oder Jugendamt darstellen.
Dokumentation von Zwangsmaßnahmen
Für die im Rahmen einer Krankenbehandlung durchgeführten Maßnahmen besteht eine Dokumentationspflicht (§ 630 f BGB in Deutschland, § 51 ÄrzteG in Österreich). Es sollte selbstverständlich sein, dass diese Dokumentationspflicht auch alle Maßnahmen umfasst, die gegen den Willen des Patienten durchgeführt werden. Diese bedürfen einer besonders sorgfältigen Dokumentation und werden auch im Rahmen von Visitationen durch Besuchskommissionen überprüft. Daher empfiehlt es sich, die Dokumentation einer Zwangsmaßnahme einerseits in der Patientenakte, andererseits aber auch getrennt davon in einem Ordner zu durchgeführten Zwangsmaßnahmen zu führen. Ein solches Vorgehen erlaubt auch einen Überblick über alle getroffene Zwangsmaßnahmen und kann dabei helfen, die Wirkung von etwaig getroffenen Interventionen zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen, oder aber auch den Einfluss von Personalschlüsseln oder baulichen Gegebenheiten auf die Häufigkeiten von Zwangsmaßnahmen zu beobachten und ggf. Verbesserungsprozesse einzuleiten und zu evaluieren.
Bei der Erstellung einer solchen Dokumentation gilt es, einige Punkte zu beachten. So sollte der Grund für die Durchführung einer Zwangsmaßnahme, ebenso wie die Rechtsgrundlage und die durchgeführte Maßnahme an sich dokumentiert sein. Es empfiehlt sich auch, im Freitext eine kurze Beschreibung der Situation, die zur Anwendung einer Zwangsmaßnahme geführt hat, zu erfassen. Zudem sind die Dauer (mit Eintrag von Datum und Uhrzeit sowohl von Beginn als auch von Ende der Intervention) und die anordnenden Personen zu erfassen. Ebenso sollte die Dokumentation die Möglichkeit bieten, etwaige Komplikationen festzuhalten. Da Zwangsmaßnahmen und die Notwendigkeit deren Anwendung immer einer
Reflexion unterzogen werden sollten, sollte festgehalten werden, wie und in welchem Rahmen nach Beendigung der akuten Situation die Zwangsmaßnahme einerseits im Behandlungsteam, andererseits mit dem Patienten selbst reflektiert wurde (wieder unter Angabe des Datums und der Uhrzeit). Sorgeberechtigte sind über die Zwangsmaßnahmen – sofern möglich – im Vorfeld zu informieren. Bei akut aufgetretenen Situationen, in denen dies nicht mehr möglich war, muss eine solche Information zumindest im Nachgang erfolgen, und die erfolgte Information sollte ebenfalls dokumentiert werden. Diese Dokumentation ist zuletzt auch von einem Mitglied der Leitungsebene (im Krankenhaus also etwa von Oberärzten) zu überprüfen, was ebenfalls durch Signatur bestätigt werden sollte.
Reduktion von Zwangsmaßnahmen
Zwangsmaßnahmen können mit erheblichen Folgestörungen bis hin zu
posttraumatischen Belastungsstörungen verbunden sein und belasten die therapeutische Beziehung. Sie stellen schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte des Kindes und Jugendlichen dar und sollten deshalb auf ein absolutes
Minimum reduziert werden. Sie stellen kein therapeutisches Mittel dar und dürfen nicht als Strafe oder disziplinarische Maßnahme eingesetzt werden. Zwangsmaßnahmen sind ausschließlich zum Schutz des Patienten und anderer anzuwenden, wenn alle milderen deeskalierenden Maßnahmen ausgeschöpft sind.
In den „Praxisleitlinien für Psychiatrie und Psychotherapie“ von Gaebel und Falkai (
2010) werden verschiedene Maßnahmen dokumentiert, die nachweislich zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen beitragen können:
Außenfaktoren wie eine niedrige Bettenmessziffer, die Überbelegung psychiatrischer Stationen („Crowding“) und die Konzentration schwer kranker und wegen Fremdgefährdung untergebrachter Patienten auf einer Station erhöhen gewalttätiges Verhalten und in weiterer Folge erforderliche Zwangsmaßnahmen. Durch ein höheres relatives Bettenangebot und die Verteilung von Akutpatienten auf unterschiedlichen Stationen können demnach auch Zwangsmaßnahmen reduziert werden. Eine Geschlechtermischung wirkt sich ebenfalls positiv auf die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen aus.
Zwangsmaßnahmen können des Weiteren durch Methoden der Patientenorientierung reduziert werden, insbesondere einer kooperativen Entscheidungsfindung („shared decision making“) wird eine hohe Bedeutung zugemessen. Diese bestehen aus Behandlungsvereinbarungen, der Einbeziehung von Angehörigen, Angeboten zur Inanspruchnahme unabhängiger Beschwerdeinstanzen und therapeutischer Bezugspflege. Eine gewaltpräventive Rolle spielen auch quantitativ und qualitativ gute Personalausstattungen, geeignete Räumlichkeiten und eine nebenwirkungsarme psychopharmakologische Behandlung. Zwangsmaßnahmen sinken ebenfalls durch therapeutische Angebote und eine offene Stationsatmosphäre mit einem normalitätsnahen Klima.
Von weiterer Relevanz sind die architektonische Ausstattung, die z. B. die Öffnung von Stationstüren ermöglicht, die Intimsphäre des Patienten wahrt und ihm einen Bewegungsspielraum gewährleistet.
Klare patientenorientierte und transparente Stationsstrukturen unter Beteiligung der Patienten haben ebenfalls einen Einfluss auf ein gewaltarmes Klima.
Fazit
Zwangsmaßnahmen sind auch im Rahmen der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung anzutreffen. Die Rechtskontexte unterscheiden sich in den deutschsprachigen Ländern stark voneinander. Bei der Umsetzung von freiheitsentziehenden Maßnahmen muss besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, Rechte, die Kinder und Jugendlichen zustehen, nicht aufgrund institutioneller Barrieren zu übergehen. So müssen Institutionen, die freiheitsentziehende Maßnahmen durchführen, Überlegungen dazu anstellen, wie schulische Teilhabe, eine altersgemäße Freizeitbeschäftigung und das Aufrechterhalten eines Kontaktes zur Familie gewährleistet werden können. Abgesehen von den ohnehin bestehenden Dokumentationspflichten muss die Anwendung unmittelbaren Zwangs gesondert dokumentiert werden. Es empfiehlt sich, neben der Dokumentation in der Patientenakte auch eine separate Dokumentation in der Klink über alle durchgeführten Zwangsmaßnahmen vorzunehmen. Die Visitationen durch externe Besuchskommissionen sind auch als Instrument der Außenreflexion und Qualitätssteigerung zu begrüßen und können dazu dienen, durch den Blick von außen eine Verbesserung der Standards zu erreichen.