Die medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW)
Mit der Sensationsmeldung der Geburt von Louise Brown 1978 in England begann in der Schweizer Öffentlichkeit die Diskussion um die Reproduktionsmedizin. Diese bis heute anhaltende Debatte beinhaltet dabei nicht nur medizinische, sondern in erster Linie gesellschaftliche, ethische, philosophische, soziale, politische und nicht zuletzt juristische Aspekte.
Als erste Organisation nahm die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) die Verantwortung wahr, die Diskussion in eine geregelte Bahn zu lenken und Handlungsregeln für die involvierte Ärzteschaft aufzustellen. Nachdem am 17. November 1981 erste medizinisch-ethische Richtlinien für die artifizielle
Insemination erlassen wurden, folgten nur wenige Jahre später, am 23. Mai 1985, Empfehlungen zur
In-vitro-Fertilisation (IVF). Beide Bestimmungen wurden 1990 in den „Medizinisch-ethischen Richtlinien für die ärztlich assistierte Fortpflanzung“ zusammengeführt (SAMW
1990). Wesentliche Punkte darin waren, dass die ärztlich assistierte Fortpflanzung bei verheirateten Paaren, aber auch bei Paaren in eheähnlicher Gemeinschaft angewendet werden dürfen. Behandlungen mit gespendeten Eizellen oder Spermien sollten jedoch verheirateten Paaren vorbehalten bleiben. Die
Kryokonservierung von Embryonen war statthaft, die Aufbewahrung bis zum Tod eines Partners möglich. An Embryonen durfte keine Forschung betrieben werden. Untersagt sein sollten im Weiteren die Geschlechtsselektion (außer zur Vermeidung von Erbkrankheiten), die
Embryonenspende und die Leihmutterschaft.
Obschon die SAMW-Richtlinien nur Standesrecht waren, hatten sie weit darüber hinaus ihre Wirkung. Sie beeinflussten kantonale Gesetzte, ja sie wurden in den sieben Kantonen Basel-Landschaft, Tessin, Obwalden, Appenzell A. Rh., Thurgau, Genf und Waadt mit geringen Änderungen sogar zu kantonalem Recht erhoben. Zudem fanden wesentliche Punkte der SAMW-Empfehlungen Eingang in die eidgenössische Gesetzgebung. So ist auch heute noch die Behandlung mit Spendersperma auf verheiratete Paare beschränkt.
Embryonenspende und Leihmutterschaft
sind weiterhin ohne Ausnahme verboten (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
1998/2017).
Die Kantone Neuenburg, Aargau, St.
Gallen, Glarus und Basel-Stadt initiierten eigene Gesetzgebungen, welche in groben Zügen ebenfalls den SAMW-Richtlinien folgten. Verschärfend erlaubte der Kanton Aargau die Anwendung der medizinisch unterstützten Fortpflanzung nur bei verheirateten Paaren. Im Jahr 1988 untersagten die Kantone St. Gallen und Glarus sogar alle Verfahren der assistierten Fortpflanzungsmedizin auf ihrem Gebiet. Basel-Stadt folgte 1991 mit einer ähnlichen Verbotsregelung.
Weil diese Restriktionen mit der Schweizer Verfassung, somit mit höherem Recht, nicht vereinbar waren, wurden alle diese Verbote später vom Schweizer Bundesgericht in Lausanne wieder aufgehoben.
Schweizerische Bundesverfassung Art. 119
Art. 119 (Übersicht) der Bundesverfassung (BV) geht auf den fast gleichlautenden Art. 24 novies zurück, der im Rahmen der Verfassungsrevision im Jahr 1999 zum Art. 119 BV wurde.
Art. 24 novies BV entstand als Reaktion auf die „Beobachter-Initiative“. Diese eidgenössische Volksinitiative wurde von der Zeitschrift „Der Schweizerische Beobachter“ (deshalb der Name „Beobachter-Initiative“) lanciert und 1987 eingereicht. Der Bund sollte damit Bestimmungen zur Verhinderung des Missbrauchs von Fortpflanzungs- und Gentechnologie im Humanbereich erlassen. Das Parlament stellte diesem Volksbegehren den neu geschaffenen Art. 24 novies BV gegenüber, worauf die Initiative zurückgezogen wurde. Dieser Gegenvorschlag wurde im Mai 1992 vom Stimmvolk und den Kantonen mit großer Mehrheit angenommen.
Trotz der schon sehr restriktiven Fassung von Art. 24 novies bzw. später 119 BV wurde 1994, somit nur 2 Jahre nach der Annahme von Art. 24 novies durch das Schweizer Volk, ein noch restriktiveres Begehren eingereicht, nämlich die „Initiative für menschenwürdige Fortpflanzung“. Im Unterschied zur Vorgängerinitiative bezweckte dieses erneute Änderungsgesuch noch viel weitergehende Einschränkungen. Es forderte das komplette Verbot der assistierten Reproduktionsmedizin sowie der heterologen
Insemination in der Schweiz. So waren folgende Verbote formuliert:
Diese Verbotsinitiative kam im Jahr 2000 zur Abstimmung. Mit einer überwältigenden Mehrheit von über 70 % Neinstimmen wurde sie vom Schweizer Stimmvolk jedoch wuchtig abgelehnt. An ihrer Stelle trat im Jahr 2001 der indirekte Gegenvorschlag in Kraft, das 1998 von der Bundesversammlung verabschiedete Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz; FMedG) (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
1998/2006).
Noch vor dem Inkrafttreten des FMedG gab es im Jahr 2000 einen ersten parlamentarischen Vorstoß, das Verbot der Präimplatationsdiagnostik (PID)
in der Schweiz aufzuheben (Polla
2000). Diese parlamentarische Initiative ebenso wie zwei weitere gleichgerichtete Anträge im Jahr 2002 scheiterten (Gutzwiller
2002; Langenberger
2002). Im Jahr 2005 wurde jedoch auf Initiative von Nationalrat Felix Gutzwiller die von der nationalrätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur formulierte Motion „Zulassung der Präimplantationsdiagnostik“ von beiden Parlamentskammern angenommen (Gutzwiller
2004; Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats
2004). Sie beauftragte den Bundesrat, die PID in der Schweiz unter vorgegebenen Rahmenbedingungen zuzulassen und das FMedG entsprechend anzupassen. Es dauerte 4 Jahre, bis Anfang 2009 ein erster Revisionsentwurf in die Vernehmlassung gegeben wurde (Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Gesundheit
2008). Dieser Entwurf war aber äußerst restriktiv. So sollte das Embryokryokonservierungsverbot beibehalten werden ebenso wie die Auflage, nur maximal drei Vorkernstadien zu Embryonen entwickeln zu dürfen (3er-Regel). Damit wäre eine PID im klinischen Alltag nicht durchführbar gewesen, weswegen dieser Vorschlag im Vernehmlassungsverfahren von breiten Kreisen abgelehnt wurde. Daraufhin passte der Bundesrat den Gesetzesentwurf an: Neu sollte die Embryokryokonservierung erlaubt werden. Anstelle von drei Vorkernstadien sollten zudem neu zwölf Vorkernstadien (12er-Regel) zu Embryonen entwickelt werden dürfen. Allerdings bedurfte diese Anpassung des FMedG einer Verfassungsänderung, insbesondere von Art. 119 BV Abs. 2 Bst. c. Denn dort war bisher festgehalten, dass „ … nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als ihr sofort eingepflanzt werden können.“ Der von Verfassung und Gesetz geforderte „sofortige“ Transfer von bis zu zwölf Embryonen hätte zu einer unlösbaren Mehrlingsproblematik geführt. Deshalb wurde Art. 119 BV Abs. 2 Bst. c folgendermaßen geändert: „c. … es dürfen nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als für die medizinisch unterstützte Fortpflanzung notwendig sind.“
Da in der Schweiz jede Verfassungsänderung dem obligatorischen Referendum untersteht, wurde im Jahr 2015 eine eidgenössische Volksabstimmung anberaumt. Die Anpassung von Art. 119 BV musste dabei nicht nur vom Volk, sondern auch von der Mehrheit der Kantone angenommen werden. Am 14. Juni 2015 wurde das Plebiszit abgehalten. Der neue Art. 119 BV wurde erfreulicherweise mit einer großen Mehrheit von 62 % der Stimmen und von 18.5 Ständen angenommen und am 1. September 2017 zusammen mit dem revidierten FMedG in Kraft gesetzt.
Das Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG)
Das im internationalen Vergleich äußerst restriktive, am 1. Januar 2001 in Kraft gesetzte eidgenössische Fortpflanzungsmedizingesetz
wurde vom eidgenössischen Parlament revidiert und am 14. Dezember 2014 verabschiedet. Dabei wurden unter strengen Einschränkungen neu die PID und die Embryokryokonservierung zugelassen. Die 3er-Regel (Abschn.
2) wurde zwar nicht – wie erhofft und weltweit üblich – abgeschafft, aber immerhin zu einer 12er-Regel erweitert. Zudem wurde die maximale Kryokonservierungsdauer von Keimzellen, Vorkernstadien und Embryonen von 5 auf 10 Jahre verlängert.
Obschon die Anpassung von Art. 119 BV im Jahr 2015 – als verfassungsrechtliche Voraussetzung zur vorgesehenen Revision des FMedG – von einer überwältigenden Mehrheit der Schweizer Bürgerinnen und Bürger und der Kantone angenommen wurde, ergriff die Evangelische Volkspartei (EVP) das für Gesetzesänderungen, im Gegensatz zu Verfassungsanpassungen, fakultative Referendum. Der EVP gelang es in der vorgesehenen Frist, die für das Zustandekommen des Referendums nötigen 50.000 Unterschriften zu sammeln. Nach der Verfassungsabstimmung kam es deshalb am 5. Juni 2016 erneut zu einer eidgenössischen Volksabstimmung zum Thema Fortpflanzungsmedizin. Das von den Gegnern teilweise mit hässlichen Argumenten bekämpfte revidierte FMedG wurde jedoch wieder mit einer deutlichen Mehrheit von erneut 62 % JA-stimmen angenommen. Wie der angepasste Art. 119 BV trat das revidierte FMedG zusammen mit der ebenfalls überarbeiteten Fortpflanzungsmedizinverordnung (FMedV) am 1. September 2017 in Kraft.
Das revidierten FMedG vom 1. September 2017 umfasst 5 Kapitel:
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1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen,
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2. Kapitel: Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung,
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3. Kapitel: Nationale Ethikkommission,
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4. Kapitel: Strafbestimmungen und
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5. Kapitel: Schlussbestimmungen (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
1998/2017).
Gleichzeitig wurden die erläuternden Ausführungsbestimmungen, die Fortpflanzungsmedizinverordnung (FMedV), erlassen (Schweizerischer Bundesrat
2000/2017). Mit dem im Jahr 2001 erstmals in Kraft gesetzten FMedG wurde eine nationale Ethikkommission geschaffen, die sich mit ethischen Fragen nicht nur rund um die Fortpflanzungsmedizin, sondern auch mit den Entwicklungen in der Gentechnologie befasst und dem Gesetzgeber beratend zur Seite steht.
Im FMedG werden nur die Verfahren der assistierten Fortpflanzungsmedizin unter Einschluss der
Inseminationen geregelt. Nicht definiert hingegen sind alle anderen Sterilitätstherapien wie beispielsweise hormonelle Stimulationen der Ovarien oder chirurgische Behandlungsmethoden.
Von entscheidender Bedeutung ist das 2. Kapitel, Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung. Das 2. Kapitel des FMedG wird im Folgenden aufgeführt und kommentiert:
2. Kapitel des FMedG: Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung
2. Abschnitt: Bewilligungspflicht
2a. Abschnitt: Evaluation
3. Abschnitt: Umgang mit Keimgut
4. Abschnitt: Samenspende
Ausblick
Der neue Art. 119 der Bundesverfassung, das revidierte Fortpflanzungsmedizingesetz und die überarbeitete Fortpflanzungsmedizinverordnung, die alle am 1. September 2017 in Kraft traten, haben der Schweizer Reproduktionsmedizin einen kräftigen Schub verliehen. Möglich sind seither die
Präimplantationsdiagnostik unter Einschluss des Präimplantations-Screening (PGS), die Embryokryokonservierung und der elektive Single-Embryotransfer (eSET). Zudem beträgt die maximale Kryokonservierungsdauer von Gameten und Embryonen 10 Jahre. Zwar ist die Schweizer Gesetzgebung immer noch restriktiv und von vielen Ängsten geprägt. Immerhin können die Schweizer Kinderwunschpaare jetzt aber auch in der Schweiz mit einer Gesetzgebung rechnen, wie sie in den meisten europäischen Ländern Standard ist. Reisen zur Erfüllung des
Kinderwunsches ins Ausland erübrigen sich nun – allerdings mit einer gewichtigen Ausnahme! So bleibt neben der
Embryonenspende und der Leihmutterschaft die Eizellspendenbehandlung weiterhin verboten.
Bereits im Jahr 2012 reichte Nationalrat Jacques Neirynck eine parlamentarische Initiative ein, die das Ziel hatte, das Verbot der
Eizellspende im FMedG zu streichen (Neirynck
2012). Im März 2016 wurde dieser Vorstoß vom Nationalrat jedoch abgeschrieben mit der Begründung, dass die Zulassung der Eizellspende einen erhöhten Regelungsbedarf hätte und die alleinige Streichung des Eizellspendenverbots dem nicht gerecht würde. Allerdings war das Anliegen damit nicht vom Tisch. Anfang 2017 reichte Frau Nationalrätin Rosmarie Quadranti eine Motion ein, die den Bundesrat beauftragen soll, eine Regelung vorzulegen, die die Zulassung der Eizellspende in der Schweiz erlaubt (Quadranti
2017). Es ist zu hoffen, dass diese Motion vom eidgenössischen Parlament angenommen wird. In jedem Fall wird die Zulassung der Eizellspende bis auf Weiteres ein wichtiges Thema in der Schweizer Politdiskussion bleiben.