Diagnose Krebs
Trotz der Vielfältigkeit der Tumorerkrankungen und trotz moderner Therapiemethoden hält sich im Sprachgebrauch hartnäckig ein allgemeines Stereotyp „Krebs“, das, da assoziiert mit Vorstellungen wie „Aussatz unserer Zeit“ (Dornheim
1983), mehr an mittelalterliche Seuchenzüge mit Siechtum und Ausgrenzung denken lässt, als an moderne Medizin.
Wie bei keiner anderen lebensbedrohlichen Erkrankung, ausgenommen Aids, kann die Diagnose Krebs über die reale körperliche Bedrohlichkeit hinaus allein durch den metaphorischen Überbau und die damit verbundenen persönlichen Unheilserwartungen
psychotraumatisch wirken: Über die ängstigenden Krankheitserwartungen und die krankheits- und therapiebedingten Beeinträchtigungen hinaus erfährt der Betroffene durch das
Stigma Krebs einen vielschichtigen psychosozialen Leidenskomplex. Die Forderung nach einer
ganzheitlichen Betreuung von Tumorpatienten, die biologische, psychische und soziale Aspekte gleichgewichtig einbezieht, wird deshalb nicht von ungefähr gerade in der Onkologie mit besonderem Nachdruck erhoben (Schwarz und Stump
2000). Es ist die Realisierung der besonderen Belastungen, denen Tumorkranke und deren Angehörige ausgesetzt sind, und ebenso dessen, was die Arbeit mit Tumorkranken für Pflegende und onkologisch tätige Ärzte bedeutet (Herschbach
1991; Herschbach und Heußner
2008).
Allgemein betrachtet bedeutet „ganzheitliche Betreuung von Tumorpatienten“ das professionelle Zusammenwirken von Somatoonkologie und Psychoonkologie, wobei folgend die Perspektive der
Psychoonkologie dargestellt wird (siehe: Leitlinienprogramm Onkologie, AWMF
2014).
Krebs und Psyche
Der Zusammenhang zwischen Krebs und Psyche wird in der öffentlichen Meinung (und leider auch in der Medizin) kontrovers diskutiert und interpretiert. Deshalb sollen einige Klärungen vorangestellt werden.
Krebspersönlichkeit
Im Zusammenhang mit psychologischen Erklärungsversuchen der malignen Neoplasien taucht heute immer noch die ungute Vorstellung auf, Krebs sei psychisch (mit-)bedingt oder es besteht sogar die Überzeugung von einer
Krebspersönlichkeit, die schicksalhaft zur Tumorerkrankung führe und den Krankheitsprozess weitertreibe (Wolf et al.
1995). Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es dem gegenüber keinerlei Anhalt für ein persönlichkeitsgebundenes Krebsrisiko (Schwarz
2004). Dieser Mythos führt lediglich dazu, dass kranke Menschen zusätzlich psychopathologisiert werden. Selbst für den am häufigsten postulierten Zusammenhang zwischen Depressivität und Krebs findet sich keine wissenschaftliche Evidenz (Watson et al.
1999; Weis et al.
2000).
Wenn psychische Faktoren eine Rolle spielen, dann kann das lediglich als teilfaktorielles Geschehen in einem komplexen Bedingungsgefüge angenommen werden, über dessen Gesetzmäßigkeiten wir heute noch sehr wenig wissen. Allerdings lassen sich durchaus Verhaltensweisen mit einem erhöhten Krebsrisiko feststellen, die in einem Zusammenhang mit psychischen Verfassungen stehen. Paradigmatisch ist der süchtige Tabak- oder Alkoholgenuss.
Psychisches Leid versus psychische Störung
Eine kurze Anmerkung verdient noch die häufige, aber falsche Auffassung, dass eine Tumorerkrankung zwangsläufig zu einer psychischen Störung von Krankheitswert führen soll. Wenn krankheitswertige
psychische Störungen auftreten, dann handelt es sich in der Regel um eine zusätzliche Erkrankung im Sinne einer Komorbidität, die unabhängig von der Krebserkrankung besteht, durch diese allerdings forciert oder ausgelöst worden sein kann. Verglichen mit der Normalbevölkerung leiden Tumorpatienten zwar häufiger an depressiven Beschwerden
, jedoch ohne die Schwelle einer psychiatrischen Diagnose in den üblichen Klassifikationssystemen (v. a. Major Depression oder Dysthymie) zu überschreiten. Sie unterscheiden sich hinsichtlich anderer psychologischer und psychiatrischer Probleme nicht von der Normalbevölkerung (Van’t Spijker et al.
1997).
Psychisches Leid, das einer psychosoziale Beratung oder auch Betreuung bedarf, tritt bei weit mehr als der Hälfte der Betroffenen im Verlauf einer Krebserkrankung auf. Die Realität einer Krebserkrankung führt in menschliche Extremsituationen, die der betroffene Kranke, seine Familie und sein psychosoziales Umfeld bewältigen müssen. Für die meisten Patienten hat die Diagnosemitteilung zunächst einen existenziell belastenden Effekt, der akuten psychologischen Disstress auslöst. „Disstress“ bezeichnet negativen Stress, der Begriff „Eustress“ steht für positiven Stress. Es ist davon auszugehen, dass Stress nicht nur schlechte Folgen hat, sondern auch positiv wirken kann. Die Mehrzahl der Patienten überwindet dieses akute Stadium jedoch und adaptiert sich an die Herausforderungen ihrer Krankheit. Diese Prozesse, die durch die Tumorerkrankung ausgelöst sind und deren Ziel eine möglichst funktionale Anpassung an die veränderte körperliche, psychische und soziale Situation ist, werden unter dem Begriff
Krankheitsbewältigung (
Coping) zusammengefasst (Heim
1998).
Bei einer substanziellen Minderheit von Patienten verlaufen diese Anpassungsprozesse dysfunktional, das Fortbestehen der psychischen Belastung durch die Tumorerkrankung kann dann zu einer
dysfunktionalen Anpassungsreaktion mit depressiven, ängstlichen oder gemischten
affektiven Störungen (Holland
1989) führen. Dann besteht allerdings die Gefahr eines chronifizierten Disstresses. Zusammen mit den biologisch-körperlichen Folgen der Krebserkrankung beeinflusst solcher Disstress dann die gesundheitsbezogene
Lebensqualität von Patienten (Ferrell und Dow
1997; Larbig
1998).
Subjektive Krankheitstheorie
„Warum gerade ich?“ Als Reaktion auf eine Krebserkrankung ist diese Frage nahezu unausweichlich. Sie findet bei weit über der Hälfte der Betroffenen eine Antwort in der Vorstellung, dass die Krebserkrankung einer psychischen Überlastung geschuldet ist, oft verbunden mit schuldhafter Verarbeitung und einer selbstanklagenden Tendenz (Zondermann et al.
1989). In der Auseinandersetzung mit der Krankheitsrealität und mit den Krankheitserwartungen kommt es zu solchen persönlichen Ursachenzuschreibungen im Sinne einer subjektiven Kausalität, die als ein Sinnstiftungsversuch zu werten sind. Die subjektive Realität ist mitgestaltet von den persönlichen Erfahrungen und dem persönlichen Lebensumfeld der Betroffenen.
In die subjektive Sicht des jetzt Krebskranken fließen die Laienerklärungen des ehemals Gesunden ein. Und gerade bei einer Krebserkrankung haben Gesunde eine gewisse Neigung, solchermaßen Erkrankte als für ihr Unglück selbstverantwortlich zu betrachten. Das dient der Stärkung der Überzeugung, selber gefeit zu sein, führt aber zwangsläufig zu einer Viktimisierung der Betroffenen, so als gäbe es so etwas wie eine „Krebsinfektion“, was in manchen Fällen sogar zur sozialen Isolierungen Betroffener führen kann. Die Postulierung einer Krebspersönlichkeit als Folge persönlicher Schuld bietet einen allzu guten Nährboden für eine vermeintliche Sicherung gegen Krebs.
Andererseits ist die subjektive Realität des Krebskranken ebenso wichtig und ernst zu nehmen wie die objektive Realität, sie ist ein zentraler Fokus für die psychoonkologische Versorgung.
Naturgeschichte der Krankheit – Lebensgeschichte des Kranken
Jeder Arzt kennt Patienten, die trotz gelungener Behandlung und guter Prognose auf jede gute Nachricht mit Misstrauen und Vorwürfen reagieren, oder die auf Schmerzzuständen beharren, die klinisch nicht erklärbar sind, oder Patienten, die depressiv werden, obwohl ihr Leben gerettet ist und es ihnen aus medizinischer Sicht wieder gut geht.
Um solche unverständlichen Verhaltensweisen und Verhaltensauffälligkeiten, welche die Beziehung zwischen medizinischem Personal und Patienten stark belasten können, zu verstehen, muss zwischen der objektiven (äußeren) Realität und der subjektiven (inneren) Realität des Kranken unterschieden werden.
Objektive Realität meint die Naturgeschichte der Krankheit mit all ihren medizinischen und psychosozialen Folgen, subjektive Realität meint die subjektive Bedeutsamkeit, die der Kranke seiner Erkrankung auf dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte erteilt.
An der folgenden Fallvignette soll erläutert werden, wie die spezifische psychoonkologische Kompetenz gefragt ist, wenn die Naturgeschichte der Krankheit mit der Lebensgeschichte des Kranken zu verbinden ist:
Auf diesem Hintergrund hat das
Schmerzerleben eine existenziell wichtige Funktion für die Patientin: es schützt sie vor der Scham. Auch vermeidet sie mit dem
Schmerz, mit dem Arzt über sie beschämende Dinge sprechen zu müssen. Zudem hat das Schmerzerleben – so paradox das auch erscheinen mag – die sie tröstende Funktion ihrer ehemals narzisstischen Fantasie übernommen. Das Schmerzerleben ist zum Inhalt ihres Lebens geworden, wobei sie sich darüber gleichzeitig in der Fantasie – und sogar in der Realität – Aufmerksamkeit und Zuwendung sichern kann. Es ist übrigens in der
Psychotherapie aus den genannten Gründen nicht gelungen, ihr die Schmerzen zu nehmen.
Es war aber die Aufgabe des Psychoonkologen, in dieser Krise in der
Arzt-Patient-Beziehung dadurch zu vermitteln, dass er versuchte, Verständnis für das Verhalten der Patientin zu erwirken.
Psychoonkologische Versorgung
An dieser Stelle können psychologisch und psychotherapeutisch geschulte Fachleute – als Psychoonkologen gekennzeichnet – Unterstützung bieten. Die Funktion des Psychoonkologen soll sich idealer Weise als Entlastung für alle Beteiligten auswirken, nicht nur für die Patienten und deren soziales Umfeld, sondern ebenso für die Behandlungsteams. Dass die psychische Belastung aller an der Behandlung und Betreuung von Tumorpatienten Beteiligten außerordentlich hoch sein kann, bedarf keiner besonderen Hervorhebung. Wir müssen davon ausgehen, dass diese emotionalen Belastungen in vielen Fällen zu einem Gefühl des „Ausgebranntseins“ aufseiten des Behandlungsteams führen. Bei Partnern von Krebskranken sind Überlastungsreaktionen zu erwarten. Wir wissen, dass die durch ihre eigene emotionale Belastung komplizierten Unterstützungsversuche von Angehörigen von Patienten häufig als zusätzliche Belastung verstanden werden.
Die Unterstützung des medizinischen Personals durch den Psychoonkologen erfolgt, neben der direkten Versorgung der Patienten, durch Balint-Arbeit, Teamberatung, Supervision, Fortbildung. Diese Begriffe kennzeichnen Konzepte und Programme, wie sie international angewendet werden und sich bewährt haben. Dadurch, dass das medizinische Personal im Sinne einer Therapeutischen Gemeinschaft einbezogen wird, werden auch spezifische Belastungen geringer, die im Umgang mit Krebskranken bekannt sind und gefürchtet werden, dazu nur das Stichwort „Burn-out-Syndrom“.
Die nachhaltige Wirkung psychoonkologischer Arbeit – auch wenn sie oft nicht messbar ist – erhöht die Sensibilität des medizinischen Personales für die besonderen Probleme der Tumorpatienten, was dann zur eigenen Entlastung und zur Entlastung der Patienten beiträgt. Bei den Patienten wird das Prinzip Hoffnung gestärkt, was zu besserer
Compliance und zu besserer Akzeptanz der Behandlung führt, wodurch wiederum die
Lebensqualität verbessert wird.
Psychoonkologische Perspektive
Trotz der klaren Notwendigkeiten, Aufgaben und der nachgewiesenen Wirksamkeit tut sich die Psychoonkologie manchmal schwer, sich ausreichend im Medizinbetrieb zu etablieren. Dafür sind nicht nur ökonomische Gründe wie Sparzwänge verantwortlich zu machen. Es bestehen auch Schwierigkeiten, die sich aus den Besonderheiten der psychoonkologischen Perspektive ergeben. Entscheidend für das Gelingen psychoonkologischer Versorgung ist, dass die spezifische psychoonkologische Perspektive verstanden, zumindest aber als spezifische Kompetenz anerkannt und akzeptiert wird.
Gefahr kommt vor allem aus der Erwartung an die Psychoonkologen, dass sie für ihre Problemlösungen das somatische Modell der raschen Beseitigung von Störung übernehmen sollen. Etwa: Wenn der Psychoonkologe schon den Diagnoseschock mildern geholfen hat, so müsste das ebenso rasch möglich sein bei Verhaltensauffälligkeiten infolge von Depression und Angstzuständen während des Krankenhausaufenthaltes, oder bei Verzweiflung und Protest infolge von Körpergliedverlust, oder bei auftauchenden Partnerproblemen im Rahmen von Chemotherapie.
Verstärkt wird diese Gefahr noch dadurch, dass in der Krise der Psychoonkologe auch einmal die Sicht des Patienten übernehmen wird, wenn er sich unter dem Aspekt der Lösungsfindung stärker mit dem Patienten identifizieren muss. Übernimmt der Psychoonkologe die Sicht des Patienten und bringt er das Anliegen des Patienten auch noch zur Sprache, dann kann ihm das selbst einmal ähnliche Etikettierungen einbringen wie zu „nerven“ wie der „Problempatient.“
Vom Helfer zum Störenfried
Dadurch, dass die Psychoonkologen zwischen zwei Funktionen eingespannt sind, einer Assistenzfunktion einerseits und einer eigenständigen psychoonkologischen Funktion mit einer spezifischen Kompetenz andererseits, kann es im Arbeitsfeld der Psychoonkologen zu Spannungen mit dem medizinischen Personal kommen – es muss sogar dazu kommen. Der Psychoonkologe als „Helfer“ kann auch zum „Störenfried“ werden, entgegen dem verständlichen Wunsch eines reibungslosen Stationsablaufes.
Wie ist das zu verstehen? Die psychoonkologische Arbeit setzt ein bei der
Aufklärung des Patienten durch den behandelnden Arzt. Hier haben Psychoonkologen in erster Linie eine Assistenzfunktion (Sellschopp
1989). Sie haben die Aufgabe, die
Arzt-Patient-Beziehung zu unterstützen und zu fördern in der Rolle des „Assistenten“, der neben und hinter dem behandelnden Arzt steht, dem er im Gespräch mit dem Patienten die „Vorfahrt“ lässt. Das hören Psychoonkologen zwar nicht so gerne, unbezweifelbar ist aber, dass der Glaube und das Vertrauen des Patienten in die Sicherheit des behandelnden Arztes vor allem anderen hilft, das Trauma der Diagnose und die Schwierigkeiten der Krankheit und deren Behandlung zu durchstehen. In gleicher Weise unterstützen die Psychoonkologen als Assistenten die Arbeit des Pflegepersonals. Schwergewicht haben dabei alle Hilfen, die die Krankheitsverarbeitung und die
Compliance verbessern.
Es gibt aber Situationen, in denen die Psychoonkologen aus der Assistenzfunktion heraustreten müssen, um auf ihre eigene Kompetenz zurückzugreifen. Das geschieht vor allem immer dann, wenn es zu Beziehungskrisen in der
Arzt-Patient-Beziehung oder zwischen Patient und Pflegepersonal kommt.
Beziehungskrisen zwischen Arzt und Patient resultieren oft allein schon aus der Tatsache, dass Fakten allein noch keine Wahrheit machen: Der Mensch ist nicht selbstverständlich in der Lage, sachlich vorgetragene und objektiv richtige Fakten angemessen in seine persönliche Lebenswirklichkeit zu übertragen. Und das gilt in besonderer Weise für Tumorkranke.
Beziehungskrise
Beziehungskrisen in der
Arzt-Patient-Beziehung sind menschliche „Zwischenfälle“, die zu vermeiden eine der vordringlichen Aufgaben psychoonkologischer Versorgung ist, wie sich an der folgenden Fallvignette aus der Psychosomatischen Ambulanz aufzeigen lässt:
Was war geschehen? Der Patient hatte seine Trauer, Verzweiflung, Beschämung und Wut als begründete und sinnvolle Affekte über seinen körperlichen Zustand zur Sprache bringen und dann als berechtigt akzeptieren können, was dann auch seine Familie und das Stationspersonal nachvollziehen konnten. Das hat in seiner Krankheit zu einer deutlichen Erhöhung seiner
Lebensqualität geführt.
Lebensqualität
Mit der psychoonkologischen Perspektive hat sich in der Bewertung onkologischer Therapie ein Paradigmenwechsel vollzogen: Nicht mehr nur die Besserung der klinischen Symptomatik oder die Verlängerung des Lebens sind alleinige Bewertungskriterien für die Therapie. Bewertungskriterium ist ebenso die Art und Weise, wie der erkrankte Mensch seinen körperlichen Zustand bzw. seinen Zustand in oder nach einer medizinischen Behandlung subjektiv erlebt.
Eine deutliche Verbesserung der
Lebensqualität zeigt eine aktuelle Übersicht über Studien zu den psychosozialen Belastungen und psychoedukativen Interventionen bei
Prostatakarzinom (Fritsche et al.
2008). Die Interventionsstudien zeigten eine gute Wirksamkeit vor allem in Bezug auf eine bessere Krankheitsbewältigung bei den prostataspezifischen Problemen (Harninkontinenz,
erektile Dysfunktion), mit einer Besserung der depressiven Symptome und der Verunsicherung, einer verbesserten partnerschaftlichen Kommunikation und einem verbesserten emotionale Befinden der Partnerinnen.
Aus somatisch-medizinischer Sicht ist der Begriff der
Lebensqualität manchmal zu sehr an einem gesellschaftlich verbreiteten Wunschbild eines weitgehend normalen Lebens orientiert. Ein Leben mit progredientem Krebs verliert aber immer an Lebensqualität, die an einem „normalen“ Leben gemessen ist. Es fehlt in diesem Konzept die Dimension, dass das Leben auch sinnvoller werden kann,
obwohl körperliche Verfassung und Funktionstüchtigkeit abnehmen und
Schmerz, Trauer, Depression und Angst das Leben bestimmen. Es fehlt auch die Dimension, dass das Erlebnis, krebskrank gewesen zu sein, den Wunsch nach einer Veränderung der Werte und der Lebensgestaltung nach sich zieht.
Auch hier liegt eine wesentliche psychoonkologische Perspektive, die sich an dieser Stelle mit philosophischen Fragen und Fragen der Ethik überschneidet.
Phasen der Anpassung
Die verschiedenen Krankheitsphasen fordern von Tumorpatienten spezifische Anpassung an die Krebserkrankung, die Kenntnis darum ist ein wichtiges Hilfsmittel für die Krankheitsbewältigung.
Prädiagnostische Phase
Anfangs werden häufig Symptome und Beschwerden verdrängt oder verleugnet und anderen Umständen zugeschrieben. Manchmal hat ein Patient schon eine lange, quälende Zeit hinter sich – seit den ersten „Ahnungen“. Die Angst vor der Diagnose verhindert oft den Weg zum Arzt und zur Früherkennung. In dieser Phase sollte der Arzt besonders auf verborgene Ängste und Befürchtungen des Patienten achten.
Diagnosephase
Die Phase der Ungewissheit und Unsicherheit nach einer Verdachtsdiagnose ist geprägt von Erwartungsangst. Der Patient befindet sich häufig in einem Zustand zwischen Nicht-wahrhaben-wollen, Panikstimmung, Verdrängung, Verleugnung und Verzweiflung, mit höchstem Angstniveau und innerer Erregung. Das Warten auf die Untersuchungsergebnisse wird zum Wechselbad zwischen Panik und Hoffnung. Wenn der Verdacht durch Laborergebnisse und Röntgenuntersuchungen erhärtet wird und weitere Untersuchungen notwendig sind, ist von Seiten des Arztes einfühlsame Aufklärung wichtig. Wenn sich die Verdachtsdiagnose bestätigt, setzt der Aufklärungsprozess ein. Es sind Informationen zu Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten (Arztgespräche, Informationsmaterial) für Patienten und Angehörige von Bedeutung. Überinformation zur Erkrankung kann den Patienten genauso verunsichern wie zu wenig Information oder Falschinformation.
Die Mitteilung Krebs zu haben, ruft bei Patienten und Angehörigen unterschiedliche
Belastungsreaktionen hervor (Larbig und Tschuschke
2000). Automatisch wird „Krebs“ sowohl von Betroffenen als auch von ihrer Umwelt oft mit Vorstellungen von Isolation, Leiden und Tod in Zusammenhang gebracht. Dieses auch durch Vorurteile behaftete Denken kann für Krebskranke und deren nächste Bezugspersonen zu schwerwiegenden Kommunikationsproblemen führen. Viele Betroffenen erleben die Eröffnung der Befunde und der Diagnose als Schock.
Bei der initialen Verarbeitung der Diagnose sind Abwehr und Verdrängungsstrategien wichtige Hilfsmittel bei der Krankheitsverarbeitung und im Bewältigungsprozess (Tab.
1). Die Diagnosemitteilung verlangt vom Patienten eine große Anpassungsleistung (
Coping-Anstrengung), um die neue unbekannte und bedrohliche Situation in das Leben zu integrieren. Man spricht hier auch von Anpassungskrise oder „Anpassungsstörung“, hierbei kann es zu Belastungsreaktionen kommen. Rationalisierungen wie: „Das wundert mich überhaupt nicht“, sind häufig. Immer wieder tauchen dieselben Fragen auf: „Wieso ich? Wie hätte ich verhindern können, dass es soweit kommt? Was habe ich falsch gemacht?“. Diese typischen Fragen sind Zeichen für die Auseinandersetzung und Verarbeitung der Erkrankung. Angst und Furcht erreichen ihren Höhepunkt bei der Diagnose, nehmen dann allmählich ab, um oft ersetzt zu werden von einem Gefühl von Hilflosigkeit und Mangel an Kontrolle bei Behandlungsbeginn. Nach der Verarbeitung des ersten Schocks der Diagnosestellung stellen sich häufig ein Informationsdrang und gewisser Optimismus ein, weil nun mit der Behandlung begonnen werden kann (Bischof
1999).
Tab. 1
Mögliche emotionale Reaktionen auf eine Diagnosemitteilung
Verleugnen, Verdrängen | Gefühl der Herausforderung |
Hilf- und Hoffnungslosigkeit | |
Traurigkeit, Verzweiflung | |
Innere Anspannung, Unruhe | |
Schuldgefühle, Scham | |
Behandlungsphase
Die Therapie der Tumorerkrankung induziert bei dem Patienten die Hoffnung nach vollständiger Beseitigung der Krebserkrankung. Besonders die chirurgische Intervention weckt den Wunsch, „der Krebs wird vollständig herausgeschnitten“. Gerade wenn dieser Wunsch nicht oder nur teilweise erfüllt werden kann, sind unterstützende und begleitende Gespräche oder eine psychologische Betreuung notwendig. Hier sind die Alternativen zu besprechen, andere Formen der Behandlung wie kombinierte Therapieformen (Chemotherapie/
Strahlentherapie/Immuntherapie) sollten dargestellt werden. Gerade hier kommen Unsicherheiten auf, besonders wenn die Heilungschancen gering sind oder keine heilende Therapie mehr möglich ist.
Im Verlauf der Behandlung können sich Zukunftsängste entwickeln: Ängste vor Einsamkeit, vor Verlust des sozialen Umfelds und des Berufs, Angst vor Isolation, vor
Schmerzen, Identitätsverlust (Entstellung bzw.
Auflösung des eigenen Körpers), vor Verlust der Selbstkontrolle und auch vor behandlungsbedingten Nebenwirkungen.
Nachsorgephase
Kontrolluntersuchung rufen die alten Ängste wieder wach. Fragen, wie „Hoffentlich ist alles in Ordnung, nur nicht mehr durch all das hindurchgehen müssen“ tauchen wieder auf. Nach einer erfolgreichen Primärbehandlung bleibt der weitere Verlauf für den Patienten mit Unsicherheiten verbunden. Die Betroffenen sehen sich durch Ängste und Unsicherheiten vor dem Tumorrezidiv („Damokles-Syndrom“) oder einer möglichen Zweittumorerkrankung durch die Primärtherapie bedroht. Körperliche Beschwerden durch die Erkrankung und Behandlung kommen hinzu. Den Betroffenen wird der Verlust ihrer körperlichen Integrität deutlich vor Augen geführt. Häufig verändert sich das Körperbild und -erleben: zum Beispiel durch Leistungseinbußen und Begleiterscheinungen der Therapie (Fatigue), werden Alltagsaktivitäten eingeschränkt.
Lebensentscheidende
soziale Fragen werden gestellt:
-
Werde ich weiter meinen Beruf ausüben können?
-
Werde ich meine Familie versorgen können?
-
Wie wirkt sich die Erkrankung auf meine Partnerschaft und Sexualität aus?
Die „Krebserkrankung“ ist trotz häufiger Berichte in den Medien immer noch eine Erkrankung, über die man nicht gerne spricht: Befangenheit, Tabus, Angst vor Stigmatisierung und sozialem Rückzug können die Folge sein (Faller
1998). Umso mehr positive Nachrichten der Patient bei den Nachsorgeuntersuchungen bekommt, desto sicherer wird er sich seines Körpers wieder und Ängste nehmen ab. Eine Erleichterung beim Gang zum Arzt ist es, wenn der Patient einen nahestehenden Angehörigen oder Freund mitnimmt, um für die Zeit der beängstigenden Situation einen Vertrauten zur Seite zu haben. In der Zeit der Rehabilitation, z. B. in einer Rehabilitationsklinik, sollten Ziele der psychoonkologischen Rehabilitation im Sinne der Definition der individuellen Therapieziele definiert werden.
Für viele Patienten ist die Zeit in einer Rehabilitationsklinik eine Zeit der Neuorientierung, in der Fragen auftauchen, die nicht nur die Erkrankung, sondern auch die bisherige Lebensführung oder die Identität betreffen. Hier ist viel Gelegenheit sich mit anderen auszutauschen, aber auch die Zeit der Klinik und anstrengenden Behandlungen hinter sich zu lassen und wieder neue Kräfte zu tanken.
Progrediente Phase
Die Situation des Krebskranken im Progress lässt sich mit den 3 Metaphern: Kampf – Angst – Dunkel sehr treffend beschreiben. Beim Auftreten des Rezidivs oder der unumstößlichen Diagnose der fortschreitenden nicht heilbaren Erkrankung ist mit einer Reaktivierung des ersten Schocks der Diagnose und einem Gefühl der Ohnmacht und des Scheiterns zu rechnen.
Depressive Symptome nehmen zu. In dieser Phase ist die Behandlung und Linderung der Symptome Depression und
Tumorschmerz Priorität. Auch das Eingebundensein in die Familie ist von größter Bedeutung. Bei Fortschreiten der Erkrankung kann ein Aufenthalt in einem Hospiz oder die Betreuung durch ein ambulantes Hospiz eine weitere Unterstützung werden.
Zusammenfassende Bewertung
Die Diagnose einer Krebserkrankung führt in menschliche Extremsituationen, die der Kranke und seine Familie bewältigen müssen. Hier liegen die Versorgungsaufgaben für die Psychoonkologie, deren Notwendigkeit dadurch begründet ist, dass die Medizin die Aufgabe hat, den Kranken nicht nur am Leben, sondern auch im Leben zu halten. Unter diesem Anspruch hat sich die Psychoonkologie zu einem für die Behandlung von Krebskranken unentbehrlichen Bestandteil mit klar definierten Aufgabenbereichen entwickelt. Die Aufgabenbereiche für die Psychoonkologie sind die Unterstützung des medizinischen Personals durch Balint-Arbeit, Teamberatung, Supervision und Fortbildung, die psychosoziale Betreuung der Patienten durch Sozialberatung, Einbettung von Selbsthilfeinitiativen, Beratung von Angehörigen und
Sterbebegleitung sowie die psychotherapeutische Betreuung von Problempatienten durch psychotherapeutische
Krisenintervention bei akuten psychischen Krisen sowie
Psychotherapie bei psychischer Erkrankung.
Sexualität und Krebs
Die Diagnose „Krebs“ bedeutet nicht nur Lebensbedrohung, sondern bringt auch soziale und psychologische Probleme für den Betroffenen mit sich.
Sexualität und sexuelle Funktion sind wichtige Aspekte der
Lebensqualität, werden jedoch selten im Zusammenhang mit der Behandlung neoplastischer Krankheiten bewertet. Jeffery et al. (
2009) berichten über die Schwierigkeit von Erfassung, Verständnis und Behandlung sexueller Probleme, die im Zusammenhang mit Krebs zu sehen sind, und schlägt deren Feststellung und Beurteilung als Teil der Behandlung von Krebspatienten vor. Eine Übersicht der Literatur, basierend auf 486 Artikeln, zeigte, dass zur Bewertung der sexuellen Funktion in nur 52 % der Publikationen die Verwendung von mindestens einer Methode mit Zuverlässigkeit und
Reproduzierbarkeit dokumentiert ist. Von insgesamt 31 identifizierten Methoden zur Beurteilung der sexuellen Funktion wurden nur 3 speziell auf die Bevölkerung mit der Diagnose Krebs übertragen; 76 % der Artikel waren mit Prostatakrebs verbunden (Jeffery et al.
2009).
Probleme mit der Sexualität können während des gesamten Zeitraums der Krebserkrankung auftreten und Monate oder sogar Jahre nach Beendigung der Therapie persistieren.
Sexualität
Das Unterbewusstsein wird täglich unbemerkt sexuellen Reizen ausgesetzt und Sexualität zunehmend durch die Gesellschaft und Medien gefördert. Durch Fernsehwerbung, Kommunikation der Menschen untereinander oder Körpersprache wird durch die Umwelt Einfluss auf die Sexualität genommen.
Das Sexualverhalten des Menschen ist abhängig von kulturellen Verhaltensnormen und von der Gesellschaft auferlegten Werten. Sexualität wird bestimmt durch selbst erhaltende Werte und die Beziehung zu sozialen Prinzipien, welche von der Gesellschaft vorgegeben werden. Eine Erkrankung kann soziale und moralische Werte des Patienten beeinflussen, und sie kann Einfluss nehmen auf das Ausmaß, wie Sexualität zum Ausdruck gebracht oder unterdrückt wird. Organische Veränderungen des Körpers (z. B. nach Anlage eines Anus praeter), aber auch physische, psychische, wirtschaftliche und soziale Auswirkungen haben Einfluss auf Lebensstil,
Lebensqualität, das Ausdrücken von Emotionen und das Ausleben von Sexualität.
Unter den oben beschriebenen Faktoren kommt dem Körperselbstbild eine besondere Bedeutung für die Sexualität zu. Der Verlust von Körperteilen, Entstellung oder Narbenbildung sind ernsthafte Probleme der Patienten während einer Krebsbehandlung. Die Ungewissheit auf Heilung zusammen mit den Nebenwirkungen der Therapie führen zu einer Destabilisierung der psychosozialen Struktur des Patienten, welcher Prioritäten setzt, um den Kampf gegen den Krebs und dessen Komplikationen anzunehmen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird Sexualität nicht mehr in vollen Zügen und als Teil der inhärenten und grundlegenden Essenz seines Seins gelebt.
Arzt-Patient-Verhältnis
Persönliche Themen wie Sexualität und Geschlecht sind oftmals ein Hindernis und eine Herausforderung in der Arzt-Patienten-Beziehung. Unterstützt wird dies durch fehlende ärztliche Empathie oder Fähigkeit, über dieses Thema mit dem Patienten zu sprechen. Andererseits reagieren die Patienten ggf. ängstlich oder fühlen sich sogar beschämt, über ihre intimen Probleme zu berichten, und leugnen, wenn ihnen sexuelle Störungen unterstellt werden.
Eine Studie in den Vereinigten Staaten eines Unternehmens der öffentlichen Meinungsforschung zeigte an 500 Teilnehmern im Alter >25 Jahren, dass 71 % der Ärzte die Anliegen ihrer Patienten hinsichtlich ihrer sexuellen Probleme nicht ernst nehmen. 85 % der Patienten allerdings möchten über diese Themen mit ihrem Arzt sprechen, obwohl sie wissen, dass wahrscheinlich keine Behandlung daraus resultieren wird. 68 % der Patienten meiden sogar ein Gespräch mit ihrem Arzt über Sexualität und sexuelle Funktion wegen der Befürchtung, den Arzt in Verlegenheit zu bringen (Bennett et al.
1999).
In diesem Zusammenhang ist es notwendig, dass der Arzt das Gespräch zu einem geeigneten Zeitpunkt beginnt, um dem Patienten eine Erleichterung für Probleme im Zusammenhang mit Sexualität zu ermöglichen.
Jeder Patient unterscheidet sich im Umgang mit dem Thema Sexualität. Der Arzt sollte in der Lage sein, den besten Moment für einen Dialog zu finden. Der Arzt sollte sich seiner Grenzen bewusst sein und wissen, wann der Patient an hoch qualifizierte Fachkräfte verwiesen werden sollte. Besonderes Augenmerk sollte auf ethnische und religiöse Unterschiede bestimmter Patienten und Partner gelegt werden, um eine sichere Annäherung zu schaffen und nicht gegen die Normen und Werte des Einzelnen zu verstoßen.
hoch qualifizierteKrebs und Familie
Die Diagnose „Krebs“ betrifft nicht nur den Patienten selbst, sondern auch sein gesamtes soziales Umfeld. Der (Ehe-)Partner leidet hierbei direkt mit dem Prozess der Akzeptanz und dem Engagement des Patienten, verzichtet häufig auf eigene Bedürfnisse, um den Überlebenskampf seines Partners zu begleiten. Die erheblichen Auswirkungen auf eine Ehe und langfristige Partnerschaften sind hierbei nicht zu unterschätzen. Nach der Diagnose „Krebs“ wird eine Partnerschaft mit Gefühlen von Trauer, Angst, Wut und Verzweiflung konfrontiert. Dies führt zu Veränderungen in der Beziehung und der Art und Weise, wie die Betreuung von z. B. Hausarbeiten und der Familie organisiert wird. Für einige Partnerschaften werden hierdurch die Beziehung und das Engagement gestärkt, um die durch die Krebserkrankung verursachten Herausforderungen zu bewältigen. Für andere Partnerschaften, vor allem solche, die seit langer Zeit partnerschaftlichem Stress ausgesetzt waren, kann diese Situation gravierende Probleme verursachen.
Aufgrund des unerwarteten Wechsels der Lebenssituation können Veränderungen in zwischenmenschlichen Beziehungen auftreten. Manche Partner werden überängstlich oder neigen dazu, alle Details der Diagnose oder Behandlung zum Schutz Ihres (Ehe-)Partners zu kontrollieren. Dieser Trend hat Auswirkungen auf den Austausch von Informationen sowohl zu Hause als auch mit dem medizinischen Personal, und für beide Partner besteht die Gefahr der Isolation. Oftmals versuchen die Lebenspartner, „Experten“ für diese spezielle Erkrankung zu werden, um eine differenzierte Kommunikation mit dem medizinischen Personal zu schaffen. Diese Situation kann bequem für Partner und Patient sein, aber die Erhaltung der Partnerschaft unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des anderen ist in der Regel wichtiger. Diese Veränderungen können durch Überbehütung oder Isolation Einfluss auf das Selbstwertgefühl des Patienten nehmen, besonders dann, wenn die Entscheidungen nicht gemeinsam diskutiert werden. Es ist dann wichtig, gemeinsam zu planen, um richtige Entscheidungen für die anstehende Behandlung zu treffen.
Ein weiterer Faktor ist eine Veränderung der Rollenverteilung der (Ehe-)Partner. Die Rollen, die für jeden vor der Diagnose definiert waren, werden ggf. in Frage gestellt, stören nun die Harmonie und müssen an die Bedürfnisse des Paares angepasst werden. Diese Situation kann sehr ermüdend sein und Gefühle der Frustration erzeugen. Darüber hinaus kann der Patient sich für die zusätzliche Belastung seines (Ehe-)Partners und die persönlichen Grenzen schuldig fühlen. Durch die Erkrankung ändern sich Hoffnungen und
Träume, Pläne für den Ruhestand, Reisen oder sogar die Beziehung zu den Kindern und verursachen Gefühle der Traurigkeit oder auch der Wut. Aber die Zusammenarbeit der Partner kann helfen, gemeinsame Ziele der Behandlung zu erreichen und sich verbundener zu fühlen.
Sexualität ist ein wichtiger Aspekt des partnerschaftlichen Lebens, welcher oftmals durch die Diagnose „Krebs“ oder während ihrer Behandlung großen Einfluss auf die Stabilität der Beziehung ausübt. Depressionen, Müdigkeit, Übelkeit,
Erektionsstörungen, vaginale Trockenheit und andere körperliche und emotionale Probleme können die Libido beeinträchtigen und den Geschlechtsverkehr schwierig oder sogar schmerzhaft machen. Beide Partner fühlen sich über dieses Thema besorgt, können aber unter Umständen nicht darüber sprechen. Jedes Paar hat verschiedene Ebenen der Konversation in der Diskussion über Intimität und Sexualität. Daher kann Hilfe von einem Berater, Therapeuten, Arzt oder Sozialarbeiter solche Probleme ggf. lösen oder sogar verhindern.
Es ist Aufgabe des medizinischen Fachpersonals, ein Vermittler für diese Diskussionen zu sein und Vorschläge zur Bewältigung der Auswirkungen sexueller Nebenwirkungen zu unterbreiten.
Sexualität und sexuelle Einschränkungen durch operative Eingriffe
Strain sagt, dass 5 % der Patienten vor einer Operation eine Art Panik entwickeln, welche zum Verzicht auf den opertiven Eingriff führen kann (Strain
1985). Darüber hinaus ist das Niveau des präoperativen Stresses bedeutsam, in welchem sich der Patient ein potenziell lähmendes oder schmerzhaftes Ergebnis sowie Komplikationen im Zusammenhang mit der Operation vorstellt. Das Niveau der psychosozialen Reaktion steht im Zusammenhang mit der Region des zu operierenden Körperteils, dem Grad der operativen Beteiligung und der Wahrnehmung des Patienten über seine Operation (Bottomley
1997). Daher kann eine Bewertung des psychischen Zustandes vor der Operation und eine Konfrontation mit möglichen postoperativen funktionellen Störungen helfen, Sorgen, Fragen und Hindernisse zu überwinden, die aus der Operation entstehen können. Vor diesem Gesichtspunkt ist es im Voraus entscheidend, eine psychologische Bewertung des Patienten vorzunehmen, damit eine Dekompensation des Patienten oder Schwierigkeiten nach der Behandlung verhindert werden können.
Abhängig von der Art des Eingriffs und dem Grad der Verstümmelung kann ein vollständiger Verlust der Sexualität für den Patienten resultieren. Dies muss vor der Operation vom behandelnden Arzt angesprochen werden und Möglichkeiten zur Linderung dieser Probleme, wie Implantation einer Schwellkörperprothese bei impotenten Patienten nach radikaler Prostatektomie, aufgezeigt werden.
Sexualität und sexuelle Einschränkungen nach der Strahlentherapie
Trotz Verringerung von Nebenwirkungen und bemerkenswerter Entwicklungen in den Anwendungsmethoden verursacht die
Strahlentherapie auch Gefühle der Angst und Furcht bei Patienten. Es wird angenommen, dass dies auf die Rolle der Strahlentherapie in der Vergangenheit zurückzuführen ist, wo diese ohne Möglichkeit der Heilung und beschränkt auf die palliative Behandlung von Tumoren im fortgeschrittenen Stadium vorgenommen wurde. Diese kognitiven Wirkungen wurden in einer Patientengruppe untersucht, die mit Placebo statt Strahlentherapie behandelt wurden. Zum größten Teil entwickelten die Patienten während der Therapie die gleichen Symptome wie Müdigkeit, Übelkeit und ein hohes Maß an Angst. Nach Initiierung der Strahlentherapie entfalteten sich zusätzlich zu den lokalen und systemischen Veränderungen die üblichen Nebenwirkungen wie Depression, Angst und Ermüdung (Parsons und Webster
1961; Goltschalk et al.
1969; Hughson et al.
1987; Lasry et al.
1987).
Die Qualität und Möglichkeiten der
Strahlentherapie hat eine bedeutende Entwicklung durchgemacht; trotzdem sind wie bei allen anderen onkologischen Therapien Ängste und Vorbehalte bei den Betroffenen vorhanden. Daher wird der psychologischen Begleitung der Patienten unter dieser Behandlungsmodalität besondere Bedeutung für den Erfolg im Kampf gegen die Tumorerkrankung beigemessen.
Wegen ähnlicher Nebenwirkungen von
Strahlentherapie (häufig mit einer längeren Latenzzeit) und Operation hat auch die Strahlentherapie negativen Einfluss auf die Sexualität. Die Bewertung der sexuellen Funktion vor Beginn der Behandlung könnte erheblich dazu beitragen, den Patienten bei der Überwindung/Behandlung sexueller Probleme zu helfen. Eine professionelle Beratung nach Beginn der Therapie kann eine Verbesserung funktioneller Aspekte des Körpers erzielen.
Sexualität und sexuelle Einschränkungen während der Chemotherapie
Die Chemotherapie
hat in der Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen in der Vergangenheit ebenfalls eine Stigmatisierung erfahren. Im Gegensatz zur kurativen Therapie von
Hodentumoren,
Hodgkin-Lymphomen und Malignomen im Kindesalter hat die Chemotherapie meist mit wenig Aussicht auf Erfolg bei der Heilung der Erkrankung als Hauptziel, in palliativer Intention die
Lebensqualität der Patienten günstig zu beeinflussen.
Bell (
1991) berichtet, dass im Zusammenhang mit Chemotherapie 26 % der Patienten unter
psychischen Störungen und/oder organischen Depressionen
leiden. Darüber hinaus beschreibt er die Auswirkungen der verwendeten Chemotherapeutika auf den menschlichen Organismus. Besonders Antimetabolite, L-Asparaginase, Alkylanzien und
Alkaloide haben negativen Einfluss auf die Sexualität und sexuelle Funktion. Allerdings verhindert der Mangel an literarischen Bezügen eine weitere Vertiefung in dieses Thema. Eine bessere Kenntnis über chemotherapeutische Wirkmechanismen ist erforderlich, um Nebenwirkungen und psychische Belastungen der Patienten während der Behandlung zu kontrollieren.
Sexualität und sexuelle Einschränkungen während der Hormontherapie
Möglicherweise wurde bislang keine Behandlungsart besser als die endokrine Therapie im Hinblick auf die Auswirkungen auf
Lebensqualität, Sexualität und Körperbild evaluiert. Mehrere Autoren beschreiben, dass trotz erheblicher Nebenwirkungen der endokrinen Therapie das körperliche Erscheinungsbild der relevanteste Faktor für die Sexualität von Frauen mit Brustkrebs zu sein scheint (Brédart et al.
2010; Meyerowitz et al.
1999; Fobair et al.
2006; Speer et al.
2005; Ganz et al.
1999). Unter den in der Hormontherapie eingesetzten Medikamenten führen Aromataseinhibitoren (Blockierung von 95 % der Östrogensynthese) bei vielen behandelten Frauen zu atrophischen Veränderungen der Vulva und Vagina sowie vaginaler Trockenheit und
Dyspareunie. Die lokale Hormonersatztherapie mit Östrogen, die diese Symptome lindern könnte, ist allerdings aufgrund tumorfördernder Nebenwirkungen kontraindiziert. Neuere Studien beschreiben Alternativen zur Therapie der vaginalen Atrophie unter Einsatz von Tamoxifen als intravaginale Ovuli oder intravaginale Applikation von DHEA (Dehydroepiandrosteron) und Testosteron-Gel. In Anbetracht der potenziellen Risiken wurden allerdings keine dieser Therapien bislang für die regelmäßige Nutzung genehmigt (Krychman und Katz
2012; Rutanen et al.
2004; Bachmann und Komi
2010; Labrie et al.
2009; Witherby et al.
2007).
Ähnliche Nebenwirkungen treten während der hormonellen Blockade bei Männern mit Prostatakrebs auf. Verringerung der Libido, Depressionen und Müdigkeit sind einschränkende Nebenwirkungen und häufig mit negativen Einfluss auf die Sexualität verbunden.
Die Testosteron-Ersatztherapie kann eine Unterstützung bei der Wiederherstellung der sexuellen Libido sein, wird allerdings wegen möglicher Stimulation der Tumorproliferation (
Prostatakarzinom) kontrovers diskutiert. Eine adäquate psychotherapeutische Unterstützung kann helfen, die durch diese Medikamente verursachten Nebenwirkungen zu lindern.
Ansatzmodelle zur Beurteilung der Sexualität
Neben dem PLISSIT-Modell (Annon
1976; Abschn.
5.2), welches inzwischen als veraltetes Modell bewertet wird (Hordern
2008), existiert das ALARM-Modell („activity, libido,
arousal, resolution, medical information“) mit dem Fokus auf der Beurteilung von körperlichen Problemen (Andersen
1990) und das BETTER-Modell („bring up, explain, tell, time, educate, record“), welches eine strukturierte Vorgehensweise bei der Auswertung sexueller Probleme bei Krebspatienten darstellt (Mick et al.
2004). Letzteres wird allerdings wegen hoher Komplexität häufig von den Patienten abgelehnt (Quinn und Happell
2012).
Offensichtlich besteht die Notwendigkeit, sich mit dem Thema „Sexualität und sexuelle Funktion“ intensiv zu befassen und den Hintergrund dieser Fragen, die so wichtig sind und doch so wenig in Zeiten der „modernen Medizin“ untersucht werden, besser zu verstehen und beurteilen zu können.
Letztendlich existiert derzeit kein spezifischer und validierter Ansatz zu Beurteilung der Sexualität, was Anstrengungen zur Standardisierung neuer Methoden hervorrufen sollte.