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Viszeral- und Allgemeinchirurgie
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Publiziert am: 25.12.2021

Operationstechnik: Neuromonitoring bei Schilddrüsenoperationen (cIONM, iIONM)

Verfasst von: Rick Schneider, Ilker Satiroglu und Kerstin Lorenz
Mit dem intraoperativen Monitoring des N. vagus und N. laryngeus recurrens und dessen Weiterentwicklung in den letzten 20 Jahren steht eine Technik zur Verfügung, mit deren Hilfe die Stimmlippenfunktion im Rahmen von zervikalen operativen Eingriffen anatomisch-funktionell zweifelsfrei dargestellt werden kann. Der wesentliche Vorteil gegenüber der alleinigen visuellen Nervendarstellung besteht darin, dass auch nichtanatomische, funktionell jedoch gleichwohl relevante Nervenstörungen bereits intraoperativ erkannt und postoperative Stimmlippenparesen vorhergesagt werden können. Seit kurzem ist zusätzlich zur Technik der intermittierenden Stimulation eine neue Technik zur kontinuierlichen Stimulation entwickelt worden, die durch Echtzeitanalyse bereits den drohenden Nervenschaden anhand kombinierter EMG-Ereignisse erkennen und verhindern, oder aber die intraoperative Erholung des EMG-Signals identifizieren kann. Eine jüngste multivariate Analyse konnte die Überlegenheit des kontinuierlichen gegenüber dem intermittierenden Neuromonitoring zeigen. Dieses Buchkapitel gibt einen Überblick über das dynamische Voranschreiten der intraoperativen Nervenkontrolle durch die Implementierung des kontinuierlichen Neuromonitorings in der Schilddrüsenchirurgie unter EMG-adaptierter intraoperativer Entscheidungsfindung und Resektionsstrategie sowie Präparationsform für die größtmögliche Patientensicherheit.

Einleitung

Die präparatorische Darstellung des N. laryngeus recurrens (NLR) ist national und global als Goldstandard zur nervenschonenden Resektionstechnik in der Schilddrüsenchirurgie akzeptiert (Dralle et al. 2008). Bei zunehmender Radikalität des Resektionsausmaßes gilt die initiale Nervendarstellung als Voraussetzung für die obligat langstreckige Präparation und Isolation des Nerven von der Schilddrüse (Higgins et al. 2011).
Das intraoperative Neuromonitoring (IONM) ergänzt die visuelle Nervendarstellung durch Stimulation des NLR und ein zeitgleich abgeleitetes Elektromyogramm (EMG) der Kehlkopfmuskulatur, vorrangig des M. vocalis. Diese intraoperative neurophysiologische Funktionsanalyse verbessert die Identifikation des Nervens, erlaubt eine Unterscheidung von nichtnervalen Strukturen und ermöglicht bereits intraoperativ eine Aussage zur postoperativen Stimmlippenfunktion (Musholt et al. 2018; Randolph et al. 2011).
Das IONM fand in der Schilddrüsenchirurgie in den letzten 20 Jahren nach vielfacher Diskussion über die klinische Relevanz weltweit zunehmende Verbreitung. Die für die USA vorliegenden aktuellen Zahlen zeigen eine routinemäßige Anwendung von 60 % und selektive Benutzung von 35 % im Jahr 2016. Die häufigsten Argumente für den Einsatz dieser Technik sind die damit verbundene Erhöhung der intraoperativen Sicherheit zur Schonung des NLR (55 %), die Anwendung bei Rezidiveingriffen und sehr großen Strumen (33 %) sowie medizinrechtliche Aspekte (22 %) (Marti et al. 2016). Eine jüngste Umfrage unter Head-and-Neck-Surgeons der USA und internationaler Endocrine-Surgeons berichtet sogar von 83–93 % Anwendung des IONM für alle oder ausgewählte Schilddrüsen- und Nebenschilddrüseneingriffe. Dabei greifen insbesondere jüngere Chirurgen zum Neuromonitoring (Feng et al. 2020; Ritter et al. 2020). In Deutschland besitzen heute die meisten chirurgischen Kliniken (89 %) Neuromonitoringgeräte und verwenden sie routinemäßig oder in schwierigen Situationen im Rahmen der Nervendarstellung und -funktionskontrolle (Dralle et al. 2012). Eine aktuelle Auswertung der multizentrischen StudDoQ/Schilddrüse-Datenbank der DGAV, basierend auf 12.388 Patienten (mit 18.793 Risikonerven) mit benigner Struma zeigt, dass 98 % aller Patienten unter Anwendung des IONM operiert wurden (Bartsch et al. 2019).
Die Ergebnisse der beiden großen Multicenterstudien zur postoperativen Stimmlippenpareserate der „Interdisziplinären Studiengruppe Intraoperatives Neuromonitoring Schilddrüsenchirurgie“ sind Grundlage der Leitlinienforderung der intraoperativen Nervendarstellung sowie der Anwendung des IONM in anspruchsvollen Situationen (Dralle et al. 2013; Musholt et al. 2018; Thomusch et al. 2004; Timmermann et al. 2004).
Seit Beginn der durch IONM unterstützten Schilddrüsenoperationen hat sich über die letzten 15 Jahre die Frequenz der Stimmlippenparesen verringert. In über 80 % der Fälle sind die Paresen Folge nichtstruktureller, ausschließlich funktioneller Läsionen des NLR, die aber dennoch zu Dysfunktionen der Stimmlippenbeweglichkeit führen. Ausschließlich die Anwendung des IONM ermöglicht die Detektion dieser makroskopisch nicht erkennbaren, funktionellen Beeinträchtigungen der Nervenfunktion und verlagert damit die vorher erst postoperativ mögliche Diagnose in den Operationssaal.
Präoperativ nicht vorhersehbare, erst intraoperativ erkennbare Risikosituationen des NLR-Verlaufes, wie z. B. ein ventral dem Nerven aufliegender Tuberkulum-Zuckerkandl-Knoten, ein bifaszikulär, antevaskulär oder ventral eines dorsal gelegenen Schilddrüsenknotens verlaufender Nerv, oder ein nonrekurrenter N. laryngeus inferior rechts sind einer der wesentlichen Gründe, das IONM nicht nur selektiv, sondern routinemäßig einzusetzen. Hinzu kommt ein Paradigmenwechsel in der chirurgischen Therapie bei benignen Schilddrüsenerkrankungen von einer subtotalen Resektion hin zu einer totalen Resektion des betroffenen Schilddrüsenlappens oder der gesamten Schilddrüse bei bilateraler Erkrankung (Bartsch et al. 2019). Damit ist der NLR gegenüber Schädigungen stärker exponiert als bei organerhaltender Resektion (Thomusch et al. 2000).
Die Tracheotomie infolge beidseitiger Stimmlippenparesen ist eine der gefürchtetsten Komplikationen in der Schilddrüsenchirurgie. Anhand prospektiv erhobener Daten konnte eine signifikante Überlegenheit des IONM zur Senkung der frühpostoperativen Pareserate gegenüber der alleinigen visuellen Nervendarstellung gezeigt werden (Barczyński et al. 2009). Dabei nimmt die Vagusstimulation gegenüber der alleinigen NLR-Stimulation in Hinblick auf die Vorhersage der postoperativen Nervenfunktion eine überlegene Position ein (Randolph et al. 2011). Dies impliziert für den Operateur diverse Hauptanforderungen: Den sicheren Umgang mit der Technologie, adäquate Anpassung der Resektionsmanipulation und eine operative Strategie für den Fall des intraoperativen EMG-Signalverlustes.

Funktionsweise der Neuromonitoringsysteme

Intermittierendes IONM

Der erste erfolgreiche Einsatz des IONM beim Menschen wurde von Flisberg und Lindholm 1969 publiziert (Flisberg und Lindholm 1969). Bei elektrischer Stimulation des NLR konnten über eine bipolare Nadelelektrode, die durch das Ligamentum cricothyreoideum in die Stimmlippe gestochen wurde, intakte EMG-Signale abgeleitet werden. Die beiden Erkenntnisse der (1) eindeutigen Nervenidentifikation und der (2) intakten Nervenleitstrecke zwischen Stimulationspunkt und M. vocalis bilden unverändert das Grundprinzip des modernen, standardmäßig durchgeführten IONM (Randolph et al. 2011). Es besteht aus der elektrischen Stimulation des N. vagus und des NLR sowie der Messung evozierter Muskelaktionen am Kehlkopf. Von Seiten der seit den 1990er-Jahren zur Verfügung stehenden Technik ist bekannt, dass die zur Beurteilung der Nervenfunktion wesentlichen Parameter, die Amplitude (Stärke des Aktionspotenzials) und Latenz (Zeitintervall zwischen Nervenstimulation und Auslösung des Aktionspotenzials) Gesetzmäßigkeiten folgen, die vor allem von der Stimulationsstärke (gemessen in mA) und dem Stimulationsort am N. vagus bzw. NLR moduliert werden. Oberhalb einer bestimmten Stimulationsstärke (ca. 0,8 mA) kommt es zu keiner weiteren Amplitudenzunahme (Schneider et al. 2010). Es wurde daher festgelegt, die Nervenstimulation mit einer sog. „supramaximalen“ Stimulationsstromstärke von 1–2 mA vorzunehmen (Dralle et al. 2013). Mit zunehmendem Abstand des Nervenstimulationspunktes zum Erfolgsorgan des NLR, dem Stimmlippenmuskel (M. vocalis), nimmt die Latenz zu. Die Stimulation des N. vagus weist aufgrund der längeren Nervenleitzeit eine längere Latenz auf als die Stimulation des N. recurrens.
Im modernen Setup des IONM werden die Oberflächenpotenziale durch nichtinvasive, auf dem Beatmungstubus aufgebrachte Oberflächenelektroden abgeleitet. Für spezielle Indikationen, v. a. bei Kleinkindern kann alternativ auf invasive Nadelelektroden zurückgegriffen werden, da konfektionierte Kindertubusgrößen nicht verfügbar sind (Schneider et al. 2018a). Alle aktuell erhältlichen Neuromonitoringgeräte verfügen über einen Generator für den Stimulationsstrom und geben das Muskelaktionspotenzial als optische Spannungs-Zeit-Kurve auf dem Monitor und als akustisches Signal wider. Als Handstimulationssonden kommen monopolare und bipolare Sonden zum Einsatz. Während bipolare Sonden ein nur sehr umschriebenes Gewebsareal stimulieren können und sich daher eher für eine Bestätigung des bereits visualisierten Nerven oder der Diskriminierung des motorischen anterioren Astes bei extralaryngealem Branching des NLR eignen, werden die monopolaren Stimulationssonden bevorzugt zum Mapping des Nerven angewandt. Eine schematische Übersicht zum IONM-Setup ist in Abb. 1 dargestellt.
Die Narkoseeinleitung erfolgt mit einem kurzwirksamen, nichtdepolarisierenden Muskelrelaxans (z. B. Rocuronium). Es kann eine geringe Dosierung, z. B. die halbe Standarddosis zur Anwendung kommen, um die Wirkungszeit auf 15–20 min zu reduzieren. Unter visueller Kontrolle wird der endotracheale Tubus so platziert, dass die Ableitelektroden auf Höhe der Stimmlippen zu liegen kommen. Zur anschließenden Aufrechterhaltung der Narkose kommen bevorzugt inhalative Anästhetika (z. B. Sevofluran) zum Einsatz. Bei Kontraindikationen empfiehlt sich eine totale intravenöse Anästhesie (z. B. Propofol). Idealerweise sollte der Tubus mit dem größtmöglichen Durchmesser appliziert werden, damit ein bestmöglicher Kontakt (Impedanz <5 kiloohm) der Ableitelektroden zu den Stimmlippen erzielt werden kann. Bei anschließender Patientenlagerung (Schulterrolle, Vakuumkissen, „beach chair“ etc.) ist eine Seit- oder Längsrotation bzw. Dislokation des Tubus unbedingt zu vermeiden.
Für eine erfolgreiche intraoperative Anwendung und zuverlässige Beurteilung des IONM ist ein standardisiertes Vorgehen Voraussetzung. Hierzu wurden von der International Neuro Monitoring Study Group (INMSG) die L1-V1-R1-R2-V2-L2-Sequenz vorgeschlagen (Randolph et al. 2011):
L1:
Präoperative Laryngoskopie zur Beurteilung der Intaktheit der präoperativen Stimmlippenfunktion
V1:
Intaktes Stimulations-EMG des N. vagus vor Dissektion des ipsilateralen Schilddrüsenlappens
R1:
Intaktes Stimulations-EMG des NLR vor Dissektion des ipsilateralen Schilddrüsenlappens
R2:
Intaktes Stimulations-EMG des NLR nach Dissektion des ipsilateralen Schilddrüsenlappens
V2:
Intaktes Stimulations-EMG des N. vagus nach Dissektion des ipsilateralen Schilddrüsenlappens
L2:
Postoperative Laryngoskopie am 2. postoperativen Tag zur Beurteilung der Intaktheit der postoperativen Stimmlippenfunktion
Die Evaluierung der präoperativen Stimmlippenfunktion (V1) ist ein kritischer Schritt vor der eigentlichen Operation, da das EMG des stimulierten Nerven lediglich als Surrogatparameter der vermeintlich intakten Stimmlippenfunktion zu sehen ist. Es herrscht Konsens, dass eine intraoperative Beurteilung der Nervenfunktion nur dann zuverlässig ist, wenn eine intakte Stimmlippenfunktion in der präoperativen Laryngoskopie vorliegt. So können in 0,5 % der Fälle bereits präoperativ asymptomatische Stimmlippenparesen verursacht durch z. B. eine virale Infektion oder einen Diabetes mellitus vorliegen. In einer Studie mit 285 Patienten konnte trotz vorbestehender ipsilateraler Parese bei 41 Patienten (14 %) intraoperativ ein EMG bei Stimulation des N. vagus bzw. des NLR abgeleitet werden (Lorenz et al. 2014).
Das IONM ermöglicht neben der erleichterten und verbesserten Identifikation des NLR gegenüber der ausschließlich visuellen Darstellung, die intraoperative Überwachung der Nervenfunktion und damit einer Vorhersage der postoperativen Stimmlippenfunktion sowie der damit verbundenen chirurgischen Operationstaktik. Zur initialen Überprüfung des funktionierenden Neuromonitoring-Set-ups und der Differenzierung von Stimulationsartefakten ist die direkte Stimulation des N. vagus vor Beginn der Resektion („vagus first approach“) (V1) und vor der Präparation am NLR notwendig.
Der Zugang zum N. vagus und der Karotisscheide kann über verschiedene Wege erfolgen. Für die Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie wird der anteriore oder „Mittellinien-Zugang“ im Allgemeinen präferiert (Video 1). Dabei werden vorderes und mittleres Blatt der zervikalen Faszie durchtrennt und die kurze gerade Halsmuskulatur nach Trennung in der Mittellinie auf der zu resezierenden Seite von der Schilddrüsenkapsel von medial nach lateral abpräpariert. Die gemeinsame Retraktion des M. sternothyroideus und M. sternohyoideus nach lateral gibt den Blick auf die Karotisscheide frei. Bei allen Rezidiveingriffen sowie bei Primäreingriffen aufgrund sehr großer Knotenstrumen oder lokal fortgeschrittener Schilddrüsenkarzinomen ist der laterale Zugang zwischen dem M. sternocleidomastoideus lateral und der kurzen geraden Halsmuskulatur medial hilfreicher (Video 2).
Nach Identifikation des lagevariablen N. vagus in der zervikalen Gefäß-Nerven-Scheide zwischen V. jugularis interna (lateral) und A. carotis communis (medial) erfolgt die Stimulation mit einer supramaximalen Stromstärke von 1,0 mA (Schneider et al. 2010). Dabei ist in aller Regel das ventrale Eröffnen der Gefäß-Nerven-Scheide ausreichend. Das primäre Vagus-EMG gilt dabei als Referenz für EMG-Veränderungen während der Operation, sodass bei Operationsbeginn eine Amplitude von mindestens 300 μV anzustreben ist, z. B. durch Lagekorrektur der Tubusposition bei Verwendung von Tubuselektroden (Dralle et al. 2013). Bei Erhalt eines regelrechten EMG-Signals kann von einem intakten Regelkreis ausgegangen und die Funktion des NLR in seinem gesamten Verlauf kontrolliert werden. Außerdem kann bereits die seltene anatomische Variante (ca. 0,5 %) eines rechtsseitigen nonrekurrenten N. laryngeus inferior identifiziert werden, der durch eine sehr kurze Latenz (<3,5 ms) bei proximaler und Nichtstimulierbarkeit bei kaudaler Stimulation des N. vagus (Brauckhoff et al. 2011) frühzeitig mit dem IONM erkennbar ist. Nach erfolgreicher Stimulation des N. vagus schließt sich das Mapping zur eindeutigen Lokalisation sowie die direkte Stimulation des NLR (R1) mit einer Stimulationsstromstärke von 1,0 bis 2,0 mA als Grundlage der funktionellen Nervenidentifikation an.
Während der Dissektionsphase ist eine repetitive Stimulation des NLR und auch des N. vagus in aller Regel erforderlich, insbesondere bei nicht vorhersehbaren, anatomischen Gegebenheiten wie das Vorliegen eines Tuberculum Zuckerkandl, eines zur A. thyroidea inferior anterior verlaufenden NLR sowie bei extralaryngealem Branching des NLR oder bei vorhersehbaren Eingriffen mit erhöhter Schwierigkeit wie Rezidiv-Strumaeingriffen, M. Basedow, lokal fortgeschrittenen Schilddrüsenkarzinomen mit systematischer Dissektion der zentralen Lymphknotenkompartimente.
Nach Abschluss der Gewebsresektion ist die abschließende Stimulation und Dokumentation des NLR (R2) und final des N. vagus (V2) als letzte intraoperative Maßnahme zu empfehlen (Video 3). Frühpostoperativ ist eine videolaryngoskopische Kontrolle zur Beurteilung der Intaktheit der Stimmlippenfunktion als valide Referenz für R2 und V2 notwendig. Idealerweise sollte dies am 2. postoperativen Tag erfolgen, da zu diesem Zeitpunkt die Balance zwischen falsch-positiven und falsch-negativen Befunden am günstigsten erscheint (Dionigi et al. 2010).
Ein wesentlicher Nachteil der bislang zur Verfügung stehenden Gerätetechnik des intermittierenden Neuromonitorings unter Anwendung der handgeführten Stimulationssonde ist das Unvermögen der gleichzeitigen Präparation und Stimulation des NLR. Somit erfolgt die Detektion einer funktionellen Beeinträchtigung des Nerven immer erst nach der Schädigung, sodass bei einer kritischen chirurgischen Aktion nicht frühzeitig gegengesteuert werden kann.

Kontinuierliches IONM

Das System des kontinuierlichen IONM (CIONM) unterscheidet sich von den bisherigen Nervenidentifikationsverfahren durch die Echtzeitüberwachung des NLR über die gesamte Dauer der chirurgischen Präparation. Es arbeitet darüber hinaus unabhängig vom Operateur. Biokompatible Vagusstimulationselektroden ermöglichen bei konstantem Stimulationsstrom von 1 mA eine vollständige Erregung des Nerven, sodass Änderungen von Amplitude und Latenz als Stressindikatoren der Funktion des NLR gewertet werden müssen. Über ein Mehrkanal-EMG-System erfolgt mittels spezieller Hard- und Software eine Echtzeitsignalanalyse mit optischer und akustischer EMG-Rückmeldung an den Operateur (Abb. 1) (Schneider et al. 2017).
Die Anwendung des CIONM erfordert die Öffnung der Karotisscheide und die Dissektion des zervikalen N. vagus, um die Vagus-Stimulationselektrode am Nerven platzieren zu können (Videos 1 und 3). Nach Stimulation des identifizierten N. vagus mit der Handsonde und intaktem EMG ist es bei Anwendung des CIONM erforderlich, den zervikalen N. vagus kurzstreckig auf einer Länge von ca. 1 cm zirkulär unter Erhalt der neuralen Mikrogefäße zu präparieren, um die Stimulationselektrode am Nerven applizieren zu können (Abb. 2). Die Baselinebestimmung der Amplitude und der Latenz gilt als Referenzwert für die nachfolgend evozierten Potenziale. Eine Baselineamplitude von mindestens 500 μV bei einer Stimulationsfrequenz von 1 Hz und einer -stromstärke von 1 mA hat sich als zuverlässiger Parameter für eine „Echtzeitüberwachung“ der Nervenfunktion während der Resektionsphase erwiesen. Im Gegensatz zur einfachen Visualisierung des EMGs erfolgt beim CIONM zusätzlich die separate Darstellung von Amplitude und Latenz im zeitlichen Verlauf als sog. Trendlinie in Relation zur Baseline, sodass bei Über- oder Unterschreiten definierter kritischer Werte sowie Elektrodendislokation sowohl eine optische als auch akustische Echtzeitwarnung erfolgen (Schneider et al. 2019a).
Durch Korrelation der prä- und postoperativen Stimmlippenfunktion mit der intraoperativen Rekurrensfunktion (intraoperativ gemessen als EMG) erreicht die CIONM-Technik nicht nur ein Höchstmaß an Sicherheit bezüglich der Prädiktion der frühpostoperativen Stimmlippenfunktion, sondern erlaubt darüber hinaus bereits intraoperativ einen direkten Einfluss auf die Nervenfunktion durch Variieren der chirurgischen Präparationstechnik (Schneider et al. 2020).
Ein Vergleich der Vor-und Nachteile des intermittierenden und kontinuierlichen IONM, auch im Vergleich zur alleinigen Visualisierung des Nerven ist in Tab. 1 zusammengefasst.
Tab. 1
Vergeich der alleinigen visuellen Identifikation des N. laryngeus recurrens vs. Benutzung des intermittierenden vs. Benutzung des kontinuierlichen intraoperativen Neuromonitorings
Parameter
Visuelle Identifikation
ohne IONM
Intermittierendes
IONM
Kontinuierliches
IONM
Identifikation des segmentalen und globalen Signalverlustes
+
+
Vermeidung der bilateralen Stimmlippenparese bei struktureller Unversehrheit des NLR
+
+
Identifikation der intraoperativen Erholung der NLR-Funktion
(+)
+
Vermeidung des Traktionsschadens am NLR
+
Vermeidung der thermischen Schädigung am NLR
(+)
Funktionelles Echtzeitmonitoring des gesamten NLR
+
Detaillierte und lückenlose EMG-Dokumentation
+
EMG Elektromyogramm, IONM intraoperatives Neuromonitoring, NLR N. laryngeus recurrens

Pitfalls

Artefakte

Klassischerweise handelt es sich bei Artefakten um unerwünschte Signale durch Störfaktoren, die sowohl durch einen Störeinfluss von außen (Stromnetze, Elektrogeräte), aber auch von innen (Muskelkontraktionen, schlecht sitzende Elektroden), verursacht werden können. Akustische Artefakte können mitunter sehr schwer von realen Nervenstimulationssignalen zu differenzieren sein, die Visulisierung der Artefakte hingegen erlaubt eine eindeutige Unterscheidung vom realen Neuromonitoringsignal. Zur Vermeidung von Artefakten existiert ein Problemlösungsalgorithmus (Abb. 3).
Bei Veränderungen der EMG-Aufzeichung unter CIONM hingegen ist der Begriff Artefakt irreführend, da es sich auch bei Abweichungen von der Baseline um echte Aktionspotenziale handelt. Vielmehr sollte zwischen „combined events“ (synchroner Amplitudenabfall auf <50 % der Baseline mit Latenzanstieg auf >110 % der Baseline) – prädiktiv für einen drohenden Signalverlust– sowie ungefährlichen EMG-Veränderungen unterschieden werden (Abb. 4).

IONM-Problemlösungsalgorithmus

Das Einhalten des von der INMSG empfohlenen L1-V1-R1-R2-V2-L2-Konzeptes sowie des Problemlösungsalgorithmus (Abb. 3), sichert eine zuverlässige Beurteilung des intraoperativen Neuromonitorings. Unter dieser Prämisse lässt sich mit dem CIONM eine Sensitivität von 90,9 %, eine Spezifität von 99,7 %, ein positiver prädiktiver Wert von 88,2 % und ein negativer prädiktiver Wert von 99,8 % erreichen. Mit dem intermittierenden IONM hingegen ist das Erreichen eines vergleichbaren Levels an Risikoreduktion aufgrund der diagnostischen Überwachungslücke der Nervenfunktion als auch des Unvermögens der Differenzierung zwischen inkompletter und kompletter intraoperativer Funktionserholung nicht möglich (Schneider et al. 2015b).

Sicherheit

Unter Berücksichtigung (tier-)experimenteller und humaner Daten sind sowohl die intermittierende als auch die kontinuierliche Nervenstimulation mit einer Stimulationsstromstärke von 1–2 mA und einer Frequenz von max. 4 Hz eine sichere Technik (Dionigi et al. 2013; Friedrich et al. 2012; Schneider et al. 2013; Ulmer et al. 2008). Selbst bei Patienten mit 2.- oder 3.-gradigem AV-Block sowie Herzschrittmachern oder bei Kindern wurden keine klinisch relevanten, hämodynamischen Veränderungen oder kardiale Arrhythmien bei engmaschiger Überwachung verzeichnet (Schneider et al. 2016a, 2018a). In Einzelfallberichten wurden reversible Vagusläsionen nach Sondenapplikation oder hämodynamische Instabilitäten beschrieben (Brauckhoff et al. 2016; Marin Arteaga et al. 2018; Terris et al. 2015).

Stimulation des Ramus externus des N. laryngeus superior – Ergänzung der INMSG-Formel

Neben dem NLR ist auch der Ramus externus des N. larygneus superior („external branch of the superior laryngeal nerve“, EBSLN) an der Stimmbildung beteiligt. Insbesondere bei Präparation der Schilddrüsenoberpolgefäße kann der EBSLN verletzt werden. Die Diagnostik einer EBSLN-Parese ist aufgrund variierender und oftmals subtiler Symptome erschwert und entzieht sich in aller Regel der routinemäßigen postoperativen Laryngoskopie. Die resultierende Dysfunktion des M. cricothyroideus äußert sich insbesondere bei Sprech-/Singberufen durch eine Reduktion der Stimmkraft und hochfrequenter Töne.
Die Empfehlungen der INMSG empfiehlt die Stimulation des EBLSN vor und nach der Dissektion des Schilddrüsenoberpols bei allen Schilddrüseneingriffen, sodass in Erweiterung zum L1-V1-R1-S1-S2-R2-V2-L2-Konzept das Vorgehen etabliert werden kann:
S1:
Intaktes Stimulations-EMG des Ramus externus des N. laryngeus superior vor Dissektion des ipsilateralen Schilddrüsenoberpols
S2:
Intaktes Stimulations-EMG des Ramus externus des N. laryngeus superior nach Dissektion des ipsilateralen Schilddrüsenlappens
Mittels IONM-Handsonde kann der sog. „cricothyroid twitch“ in allen Patienten ausgelöst werden, ein EMG des M. vocalis kann allerdings nur in etwa 70–80 % der Fälle abgeleitet werden (Barczyński et al. 2013, 2016).

Ergebnisse

Zuverlässigkeit des IONM

Die intraoperative Prädiktion der frühpostoperativen Stimmlippenfunktion ist charakterisiert durch
  • Sensitivität: 63,0–91,3 % für intermittierendes und 88,5–100 % für kontinuierliches IONM und
  • Spezifität: 97,1–99,4 % für intermittierendes und 90,2–99,6 % für kontinuierliches IONM.
Für seltene Ereignisse, wie die NLR-Parese, ist der positive prädiktive Wert (PPW) unweigerlich niedriger als der negative prädiktive Wert (NPW):
  • PPW: 37,8–80,5 % für intermittierendes und 47,6–79,3 % für kontinuierliches IONM;
  • NPW: 97,3–99,8 % für intermittierendes und 99,8–100 % für kontinuierliches IONM
Das seltene Auftreten von postoperativen Stimmlippenparesen,
  • frühpostoperativ: 1,1–10,5 % für intermittierendes und 1,5–4,9 % für kontinuierliches IONM,
  • permanent: 0,2–1,5 % für intermittierendes und 0–2,3 % für kontinuierliches IONM
ist Ausdruck des hohen Standards bei Schilddrüsenoperationen in Zentren mit entsprechender Expertise (Tab. 2).
Tab. 2
Literaturübersicht (Auswahl): Prädiktion der frühpostoperativen und permanenten Stimmlippenfunktion durch intermittierendes und kontinuierliches intraoperatives Neuromonitoring in der Schilddrüsenchirurgie
Autor, Jahr
NAR n
Sensitivität %
Spezifität %
PPW %
NPW %
Frühpostop. Stimmlippen-parese; n (%)
Perm. Stimmlippen-parese; n (%)
Intermittierendes intraoperatives Neuromonitoring
Barczyński et al. 2009
1000
63,0
97,1
37,8
98,9
27 (2,7)
8 (0,8)
Calò et al. 2014
2068
91,3
99,4
77,8
99,8
23 (1,1)
6 (0,3)
Melin et al. 2014
3426
85,4
99,0
68,0
99,6
82 (2,4)
N/A
Cavicchi et al. 2018
1264
90,0
99,2
78,3
99,7
40 (3,2)
3 (0,2)
Sedlmeier et al. 2019
409
76,7
97,8
80,5
97,3
43 (10,5)
6 (1,5)
Schneider et al. 2015a
1658
70,3
99,4
72,2
99,3
36 (2,2)
5 (0,3)
Kontinuierliches intraoperatives Neuromonitoring
Jonas und Boskovic 2014
1184
b
b
b
b
34 (2,9)
1 (0,08)
Anuwong et al. 2016
626
b
b
b
b
20 (3,2)
0 (0)
De la Quintana et al. 2018
400
100
97,7a
47a
100
8 (2,0)
0 (0)
Hamilton et al. 2019
256
100
85a
18*
100
8 (3,1)
6 (2,3)
Sedlmeier et al. 2019
204
100
90,2
47,6
100
10 (4,9)
2 (1,0)
Schneider et al. 2020
5208
88,5
99,6
79,3
99,8
78 (1.5)
1 (0,02)
aAmplitude unter 50 % der Baseline zum Ende der Operation (V2)
bkeine Angaben
Frühpost. frühpostoperativ, NAR Anzahl Risikonerven, NPW negativer prädiktiver Wert, Perm. permanent, PPW positiver prädiktiver Wert
Kürzlich konnte in einer multivariaten Analyse mit 6029 Patienten (mit 10.232 Risikonerven) die Überlegenheit des CIONM gegenüber dem intermittierenden IONM gezeigt werden. Unter Anwendung des CIONM lässt sich die frühpostoperative Stimmlippenparese 2-fach (Odds-Ratio 0,56) und die permanente Parese 30-fach (Odds Ratio 0,034) im Vergleich zum intermittierenden IONM reduzieren. Eine permanente Parese kommt beim CIONM auf 75,0, beim intermittierenden IONM hingegen auf 4,2 frühpostoperative Paresen. Unter CIONM ist der Erholungswahrscheinlichkeit einer frühpostoperativen Parese 18-fach höher als beim intermittierenden IONM. Durch die sofortige Reaktion auf eine mit dem CIONM signalisierte Nervenfunktionsstörung ist diese selbst dann, wenn eine Stimmlippenparese eingetreten ist, geringer in ihrem Schädigungsausmaß mit schnellerer Restitutio ad integrum, als bei der intermittierenden Nervenstimulation, bei der die Nervenschädigung nur ex post ohne adäquate Reaktion festgestellt werden kann (Schneider et al. 2021).
Eine Auswahl aktueller Literatur zur Validität des IONM und Prädiktion der frühpostoperativen bzw. permanenten Stimmlippenparese ist in Tab. 2 zusammengefasst.

Unerwünschte EMG-Ereignisse und intraoperativer Signalverlust

Mit der Online-Registrierung des Amplituden- und Latenzverlaufes können die chirurgischen Manöver im Rahmen der Schilddrüsenoperation direkt mit ihren Auswirkungen auf die Rekurrensfunktion korreliert werden. Das sog. Combined Event, d. h. ein gleichzeitiger Amplitudenabfall unter 50 % des Ausgangswertes kombiniert mit einem Latenzanstieg auf über 110 %, als unerwünschtes EMG-Ereignis – typischerweise verursacht durch Traktion – stellt den entscheidenden Risikofaktor für einen nachfolgenden Signalverlust dar (Abb. 5a und 6). In einer Proof-of-concept-Studie mit 52 Patienten (52 Risikonerven) konnte gezeigt werden, dass unangemessene Traktion zu Verletzungen des Rekurrensnerven führt (Schneider et al. 2013). International multizentrisch wurde bei 115 Patienten mit persistierendem Signalverlust bestätigt, dass mehr als 80 % der Fälle durch Traktion verursacht waren (Schneider et al. 2016b). 68–80 % der Combined Events sind reversibel, wenn eine umgehende Revision des zugrunde liegenden chirurgischen Manövers erfolgt (Phelan et al. 2014).
Isolierte Veränderungen nur eines Parameters, der Amplitude oder der Latenz hingegen führen zu keiner Beeinträchtigung der Stimmlippenfunktion (Abb. 4).
Die INMSG hat den intraoperativen Signalverlust definiert als Amplitudenrückgang auf <100 μV und unterscheidet 2 Formen (Randolph et al. 2011; Schneider et al. 2018b):
  • den segmentalen Typ-1-Nervenschaden, charakterisiert durch einen Verlust der Nervenfunktion am Schädigungspunkt des NLR mit unbeeinträchtigter Neurostimulation distal (erfolgsorganwärts) des Schädigungspunktes, jedoch aufgehobener Neurostimulation proximal des Schädigungspunktes und des N. vagus;
  • den globalen Typ-2-Nervenschaden mit einem kompletten Funktionsverlust und Unvermögen der Neurostimulation über den gesamten N. vagus und NLR.
Die beiden Schädigungstypen unterscheiden sich hinsichtlich der Zeitdauer des Signalverlustes als auch der Dynamik des Amplitudenverlustes. Während die segmentale Nervenschädigung durch einen sehr raschen Amplitudenabfall mit nachfolgendem Latenzanstieg und prognostisch einer insgesamt stärkeren Funktionsbeeinträchtigung gekennzeichnet ist, geht dem globalen Nervenschaden immer ein Combined Event voraus mit vergleichsweise langsamen Progress der Nervendysfunktion, sodass bei rechtzeitigem Erkennen ein Korrigieren des chirurgischen Manövers mit Abwendung der drohenden Nervenschädigung oder Abschwächung der Funktionsbeeinträchtigung möglich ist. Ein definitiver Signalverlust korreliert sehr stark mit der frühpostoperativen Beeinträchtigung der Stimmlippenfunktion: Bei 95 % der Patienten mit Signalverlust Typ 1 vs. 70 % der Patienten mit Signalverlust Typ 2 lässt sich eine Parese nachweisen (Schneider et al. 2016c).

Vermeidung der ipsilateralen Parese: Transienter Signalverlust mit kompletter intraoperativer Erholung der EMG-Amplitude

Eine intraoperative Erholung der Nervenfunktion nach segmentalem oder globalem Signalverlust ist gekennzeichnet durch einen Wiederanstieg der EMG-Amplitude <100 μV auf über 100 μV. Dabei korreliert das Ausmaß der intraoperativen Amplitudenerholung, in Bezug auf die initiale Baselineamplitude, mit der postoperativen Stimmlippenfunktion und der Zeitdauer der Erholung. Wie in einer großen multizentrischen Studie gezeigt werden konnte, ist bei einer „kompletten“ Erholung der Amplitude um ≥50 % von einer normalen frühpostoperativen Stimmlippenfunktion sowohl nach segmentalem Signalverlust als auch nach globalem Signalverlust auszugehen (Abb. 5b und 6) (Schneider et al. 2019b). Hingegen zieht eine „inkomplette“ Erholung der Amplitude um <50 % eine Beeinträchtigung der Stimmlippenfunktion in 25 % der Fälle nach globalem Signalverlust und sogar 65 % der Fälle nach segmentalem Signalverlust nach sich (Abb. 5c und 6).
Eine relative bzw. absolute Erholung der Amplitude auf 49 % der Baseline bzw. 455 μV (beide p <0,001) nach segmentalem Signalverlust oder 44 % der Baseline (p = 0,01) bzw. 253 μV (p = 0,15) nach globalem Signalverlust diskriminieren am besten zwischen normaler und beeinträchtigter frühpostoperativen Stimmlippenfunktion. Da diese absoluten Amplitudengrenzwerte weder eine bessere (nach segmentalem Typ 1) noch schlechtere (nach globalem Typ 2) Prädiktion der frühpostoperativen Stimmlippenfunktion aufweisen, wurde pragmatischerweise ein Amplitudengrenzwert von ≥50 % für eine intakte Funktion definiert. Während nach segmentalem Signalverlust dieser Erholungswert der Amplitude eine normale postoperative Funktion exakt vorhersagt, wird die Vorhersage einer intakten Funktion nach globalem Signalverlust, der milderen Nervenschädigung, eher unterbewertet. Nach einem Signalverlust beträgt bei der segmentalen Nervenschädigung die Erholungszeit 8 min, beim globalen Nervenschaden 15 min, sodass eine „Wartezeit“ von 20 min nach Signalverlust und Erreichen der 50 %-Amplitudenerholung kalkuliert werden sollte (Schneider et al. 2016c).

Vermeidung der kontralateralen Parese durch zweizeitige Thyreoidektomie („staged thyroidectomy“)

Bei einem regelrecht ableitbaren Stimulations-EMG des N. vagus nach Resektion des Schilddrüsenlappens ist die Vorhersage einer intakten postoperativen Stimmlippenfunktion mit 92–100 % sehr hoch (Randolph et al. 2011). Dennoch lässt sich ein unerwarteter intraoperativer Signalverlust bei anatomisch intaktem NLR nicht immer vermeiden. Ein Signalverlust bei geplanter Hemithyreoidektomie oder auf der zweiten Seite bei totaler Thyreoidektomie führt letztlich zu keinem Abweichen von der Umsetzung der geplanten Resektion. Die Situation ändert sich jedoch grundlegend bei Signalverlust auf der erstoperierten Seite bei geplanter totaler Thyreoidektomie mit dem Risiko der bilateralen Parese. So kommt dem Ausmaß der intraoperativen Amplitudenerholung eine zentrale Rolle in der Entscheidung des Aufschiebens (zweizeitiger Eingriff) oder des Fortsetzens (einzeitiger Eingriff) der Resektion der Gegenseite zu (Schneider et al. 2015a, 2018b).
Bei Persistenz des Signalverlustes oder inkompletter Erholung der Signalamplitude <50 % der Baselineamplitude mehr als 20 min nach Eintreten ist zur Vermeidung einer bilateralen Parese ein zweizeitiges Vorgehen ratsam (Abb. 5d und 6). Dieses Vorgehen begründet sich in der Tatsache, dass 95 % bzw. 70 % der Patienten mit einer inkompletten Amplitudenerholung nach segmentalem bzw. globalem Signalverlust eine frühpostoperative Parese aufweisen.
Das Konzept der zweizeitigen Resektion bei intendiertem bilateralen Vorgehen und Signalverlust auf der 1. Seite empfiehlt sich daher bei allen benignen (Knotenstruma, M. Basedow) oder nicht-lebensbedrohlichen malignen Schilddrüsenerkrankungen (differenzierte und medulläre Low-risk-Schilddrüsenkarzinomen). Das Fortsetzen der Resektion auf der Gegenseite sollte ausschließlich besonderen und sehr gut begründbaren Situationen vorbehalten sein. Solche Ausnahmen können Nervenresektionen auf der 1. Seite, Nervendurchtrennungen der 1. Seite oder fortgeschrittene Tumorerkrankungen sein, um zeitnah eine lokale Tumorkontrolle erreichen zu können. Eine Alternative kann ein vermindertes Resektionsausmaß unter höchster Vorsicht der chirurgischen Präparation auf der Gegenseite darstellen, insbesondere in High-volume-Zentren.
In der Regel sind die Risiken eines zweizeitigen Vorgehens nach Erholung der Stimmlippenfunktion und weiterbestehender Resektionsindikation als geringer einzuschätzen als das Risiko einer potenziellen bilateralen Parese. Wie kürzlich gezeigt wurde, konnte der Anteil der bilateralen Paresen bei Signalverlust der erstoperierten Seite und Beendigung der Operation ohne kontralaterale Resektion signifikant (p = 0,017) reduziert werden (Goretzki et al. 2010; Sadowski et al. 2013).
In einer deutschlandweiten Umfrage im Jahr 2011 unter Chirurgen, die IONM in das Konzept der Schilddrüsenchirurgie integrieren, konvertieren 93,5 % der Befragten vom geplanten bilateralen „One-stage-“ zum „Two-stage-Vorgehen“ nach Signalverlust auf der ersten Seite (Dralle et al. 2012). In ähnlicher Weise unterstützt eine 2009- bis 2013-Analyse von 1757 Patienten des Skandinavischen Qualitätsregisters für Schilddrüsen-, Nebenschilddrüsen- und Nebennierenchirurgie dieses Vorgehen (Bergenfelz et al. 2016).

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