Endoskopische Ohrchirurgie wurde im deutschsprachigen Raum zuletzt und einzig von Preyer 2016 detailliert beschrieben [
26]. Trotz der hohen internationalen Präsenz dieses Themas ist für Deutschland 5 Jahre später nicht klar, welchen Stellenwert diese Technik in der mikroskopisch geprägten Ohrchirurgie tatsächlich spielt. Im internationalen Vergleich unter Betrachtung der allein in den vergangenen 12 Monaten erschienen 466 Publikationen (hiervon 18 Reviews) wird der subjektive Eindruck verstärkt, dass die EES-Technik in Deutschland weiterhin eher wenig Beachtung findet. In mehreren aktuellen Übersichtsarbeiten bekannter Arbeitsgruppen aus den USA, Italien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Brasilien und der Türkei wurden hingegen der Stellenwert, die chirurgische Anatomie und die Indikationen für die EES-Technik klar formuliert. Übereinstimmend wurde dort festgestellt, dass die endoskopische Technik dem Mikroskop überlegen ist, wenn die Präparation ein weiteres Gesichtsfeld erfordert oder in mikroskopisch schlecht einsehbaren Gebieten gearbeitet werden muss. Außerdem wird betont, dass jede otologische Operation grundsätzlich endoskopisch durchgeführt werden könnte. Als logische Konsequenz wird die Entwicklung neuer Instrumente sowie eine einheitliche Nomenklatur und Standardisierung der Technik gefordert [
6,
8,
11].
Die einzige Arbeit, in der mittels einer Umfrage der Einsatz der EES-Technik schon näher untersucht wurde, stammt von Kapadiya und Tarabichi aus dem Jahr 2018 [
10]. Hier wurden 385 Mitglieder der American Academy of Otolaryngology – Head and Neck Surgery, welche sich als Otolog*in registriert hatten, über eine Online-Plattform in den Jahren 2010 und 2018 angeschrieben. Die Autoren formulierten 13 Fragen zu Indikationen und Einsatzgebieten der EES sowie dem Alter der Operateur*innen und der Erfahrung in anderen endoskopischen Techniken. Der Rücklauf der Fragebögen betrug 47 (12 %) im Jahr 2010 und 28 (7 %) im Jahr 2018. Die Verfasser stellten fest, dass über die Zeit das endoskopische Vorgehen zunehmend bei Cholesteatomen und flankierend zur mikroskopischen Technik favorisiert wurde. Es wurde auch gezeigt, dass die Anzahl der Antwortenden, die einen speziellen Operationskurs besucht hatten, deutlich anstieg. Während 2010 noch 81 % angaben, keinen entsprechenden Kurs besucht zu haben, lag diese Zahl 2018 nur noch bei 14 %.
Grundsätzlich ist bei einer Responserate von weniger als 100 % stets zu hinterfragen, ob die Stichprobe tatsächlich repräsentativ war. Man kann hierzu feststellen, dass 85 % der Kliniken in Deutschland elektronisch erreicht werden konnten und hiervon knapp ein Drittel geantwortet hat. Die Responserate von 32 % erscheint vor diesem Hintergrund zunächst zwar nicht all zu hoch und sollte nach Möglichkeit in einem solchen „setting“ mindestens 40 % betragen [
33]. Bei Betrachtung anderer Onlineumfragen in der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Deutschland entspricht allerdings die vorliegende Antwortrate durchaus den dort erzielten Werten zwischen 30 und 40 % [
12,
27]. Bezogen auf die einzige vergleichbare Studie [
10] war die Responserate sogar deutlich höher.
Grundsätzliche Fragen zur EES-Technik
Die Einführung der EES-Technik ist selbstverständlich eine individuelle und grundsätzliche Entscheidung jeder einzelnen Klinik. Eine Ablehnung dieser Methode aus den genannten Gründen jedoch erscheint unter Betrachtung vorliegender Literatur schwer nachvollziehbar. Eine vergleichende Untersuchung zwischen EES und MES beispielsweise hinsichtlich der Schnitt-Naht-Zeiten oder des materiellen Ressourcenverbrauchs für Deutschland wären hilfreich, diese Einschätzung zu objektivieren.
Indikationsstellung und Durchführung der EES sowie Vergleich zur MES
Dieser Fragenbereich wurde sowohl von EES-Kliniken als auch von einzelnen MES-Kliniken beantwortet. Alle Antwortenden sahen annähernd gleiche Indikation zur Anwendung der EES-Technik bei der Tympanoskopie, einem Cholesteatom, am Antrum und bei Retraktionstaschen. Dies entspricht durchaus den Ergebnissen anderer Untersuchungen [
17,
19,
25,
32]. Nur selten wurde eine Stapesplastik als Indikation angesehen. Wie in einem Vergleich zwischen endoskopischer und mikroskopischer Technik an knapp 200 Fällen gezeigt wurde, weisen insbesondere die Hörergebnisse sowie die Schnitt-Naht-Zeiten keine signifikanten Differenzen auf [
14], weshalb das endoskopische Vorgehen hier außer einem etwas geringeren Aufwand auch keinen wesentlichen Vorteil gegenüber der MES erkennen lässt.
EES-Kliniken sahen wesentlich häufiger als MES-Kliniken eine zusätzliche Indikation für die EES-Technik bei Arbeiten am Gehörgang und am Trommelfell. Mikroskopisch ist die Kontrolle der vorderen Trommelfellabschnitte und des tympanomeatalen Winkels bei vorspringender Gehörgangswand häufig eingeschränkt und nur mittels operativer Gehörgangserweiterung möglich. Endoskopisch ist dies jedoch ohne zusätzliche Intervention zu erreichen, sodass genau dieser Umstand zu diesem Ergebnis geführt haben müsste [
25].
Die endoskopische Durchführung einer Operation kann im Vergleich zur MES-Technik bekanntermaßen die Notwendigkeit chirurgischer Zugänge absenken. Mögliche Vorteile könnten v. a. in einer geringeren postoperativen Schmerzentwicklung bestehen. In einer Studie an insgesamt 60 Patienten mit jeweils transmeatal endoskopischer, endauraler Inzision und retroaurikulärem Zugang konnten allerdings keine signifikanten Unterschiede bezüglich dieser Vermutung aufgezeigt werden [
4]. Insgesamt kann nach der vorliegenden Umfrage festgestellt werden, dass der chirurgische Zugangsweg in den EES-Kliniken in Deutschland sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Eventuell besteht bei der Häufigkeit der Anlage eines endauralen Schnitts ein Zusammenhang mit der Möglichkeit, problemlos ein eventuell notwendiges Transplantat über denselben Schnitt zu heben.
Erwartungsgemäß verwendeten alle EES-Kliniken das vorhandene konventionelle Instrumentarium. Eine stärkere Blutung kann das endoskopische Vorgehen im Ohr erheblich erschweren. Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass diese durch den lokalen Einsatz von Vasokonstringenzien auf kleinen Wattestückchen ausreichend zu kontrollieren sind [
1]. Instrumente mit Saugkanal können dabei zusätzlich hilfreich sein. In knapp 3 Viertel der EES-Kliniken kam passend hierzu zusätzlich Material mit Saugkanal bei stärkeren Blutungen zum Einsatz. Die Anschaffung und Aufbereitung von Sauginstrumenten bedeuten allerdings einen höheren Aufwand, weshalb sie anscheinend auch nicht regelhaft verwendet wurden.
Der Bohrereinsatz ist endoskopisch nur sehr eingeschränkt möglich, da die Optik durch die Bohrrückstände und Spülflüssigkeit verschmutzt. Es wurden zwar Einsatzmöglichkeiten am Mastoid mit in die Spülflüssigkeit eingetauchtem Endoskop und Bohrer entwickelt [
35], insgesamt ist die Sicht jedoch nicht optimal. Die geringe Häufigkeit des Bohrereinsatzes in nur einem Drittel der EES-Kliniken war daher zu erwarten. Trotzdem bietet die EES-Technik aber gerade angesichts der derzeitigen SARS-CoV-2-Pandemie gegenüber dem mikroskopischen Vorgehen deutliche Vorteile mit einer geringeren Tröpfchenbildung im Op.-Feld [
2]. Die Entwicklung eines geeigneten Systems mit Spülung und Absaugung wäre daher auch aus diesem Grund sinnvoll. Die monopolare Nadel sowie die Piezotechnik kamen ebenfalls nur selten zum Einsatz. Insbesondere der Piezoeinsatz bedeutet zusätzliche Kosten und ist am Knochen weniger effektiv als ein Bohrsystem.
Die sehr gute Eignung von Knorpel zur Rekonstruktion des Trommelfells und der hinteren Gehörgangswand sind hinlänglich bekannt [
8]. Bei der Transplantatwahl der EES-Kliniken dominierte daher auch klar die Verwendung von Tragusknorpel mit Perichondrium und in geringerem Umfang Temporalisfaszie. Diese Materialien bieten sich bei Anlage eines endauralen Schnitts an, da beide ohne zusätzliche Inzision erreichbar sind. Insbesondere starres Transplantatmaterial wie Knorpel und Perichondrium lässt sich einhändig besser platzieren als die häufig feucht verwendete und dann flexible Temporalisfaszie. Conchaknorpel oder Xenografts spielten zur Rekonstruktion eine deutlich geringere bis gar keine Rolle.
Der Endoskopdurchmesser limitiert ohne Zweifel die Einsetzbarkeit dieses Instruments, weshalb dieser in einer Befragung bezüglich der EES stets mit erfragt werden sollte. In einer Studie an 201 computertomographischen Felsenbeinaufnahmen von Kindern und Heranwachsenden wurden für die Altersklassen von 1–3, 4–7, 8–11 und 12–18 Jahren die durchschnittlichen Gehörgangsdurchmesser und -flächen berechnet und in Beziehung zur Durchführbarkeit endoskopischer Operationen gesetzt. Die Autoren verwendeten ein Endoskop mit einem Optikdurchmesser von 2,7 mm. Hierbei wurde gezeigt, dass der für die EES-Technik erforderliche Durchmesser des Gehörgangs mindestens 5,1 mm betragen sollte, welcher meist bei einem Alter ab 8 Jahren erreicht wird [
28].
In der vorliegenden Studie kamen passend zu dieser Publikation in 74 % der EES-Klinken Endoskope mit einem Durchmesser kleiner als 3 mm und mit einem Arbeitswinkel von 0°, 30° und 45° zur Anwendung. Die unterschiedlich eingesetzten Arbeitswinkel der Optiken entsprachen sicher den individuellen Anforderungen der jeweiligen Operation. Größere Durchmesser als 3 mm sind daher als Nachteil anzusehen, da sie die Bewegungsfreiheit v. a. bei Kindern einschränken und das chirurgische Vorgehen damit erschweren würden [
20]. Die 3‑D-Technik scheint bei der EES in Deutschland bisher keine Rolle zu spielen.
Das Mikroskop halten 2 Drittel aller EES-Kliniken steril bezogen bereit. Bei diesen EES-Anwendenden wird offensichtlich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Einsatz des Mikroskops erwartet. Zur Vermeidung eines intraoperativen Zeitverlusts ist daher eine entsprechende sterile Abdeckung des Endoskops und des Mikroskops notwendig. Der rein materielle Mehraufwand der sterilen Mikroskopabdeckung ist hierbei gegenüber einem möglichen Zeitverlust durch das intraoperative Beziehen zu vernachlässigen.
Indikationen für einen intraoperativen Wechsel von der EES zur mikroskopischen Technik sehen die meisten Kliniken bei Blutungen, erforderlichen bimanuellen Tätigkeiten oder bei umfangreicheren Bohrarbeiten am Mastoid. All diese Angaben entsprechen den Einschätzungen in der Literatur und sind mit einer schlechteren Sicht bei Bohrarbeiten und bei Blutungen verbunden [
1,
22]. Weitere Indikationen für den Wechsel zum Mikroskop waren das Vorliegen einer Bogengangsfistel oder eines freiliegenden N. facialis. Möglicherweise sind diese Angaben auf das Erfordernis des beidhändigen mikroskopischen Arbeitens zurückzuführen und sind somit objektiv nachvollziehbar.
Die überwiegende Mehrheit der EES-Kliniken gab an, mehr als die Hälfte des Eingriffs mikroskopisch durchzuführen und lediglich endoskopisch zu flankieren. Rein endoskopische Eingriffe am Ohr wurden nur von einer Klinik angegeben.
An EES-Kliniken dominierten zu erwartende Einsatzorte, die mikroskopisch schlechter einsehbar sind. Das Protympanon sahen allerdings mit 49 % nur knapp die Hälfte der EES-Kliniken als geeignet an. Insbesondere dieser Bereich spielt sowohl bei der Ventilation des Mittelohrs als auch zur Kontrolle bei einer Cholesteatomausdehnung in die Tuba Eustachii eine Rolle [
9]. Gerade EES-Anwendende sahen zusätzlich Arbeiten an vorderen Trommelabschnitten und Gehörgang als Stärke dieser Technik an, da vermutlich knöcherne Gehörgangserweiterungen zur Kontrolle dieser Abschnitte entfallen.
Als größter Nachteil der EES-Technik wurde das einhändige Operieren und die schlechtere Übersicht im Vergleich zur MES angegeben. Ohne Zweifel ist die Einhändigkeit für reine MES-Operateur*innen ungewohnt und bedarf eines Trainings. Die Einschätzung der Antwortenden einer schlechteren Übersicht bei der EES steht der physikalischen Eigenschaft eines größeren Bildausschnitts des Endoskops gegenüber. Gerade die Übersicht und die Einsicht in mikroskopisch verborgene Regionen ist als großer Vorteil des Endoskops anzusehen [
15,
16,
23].
Entscheidend für die Etablierung und Weiterentwicklung einer Operationsmethode ist die Einschätzung des perspektivischen Stellenwerts. Lediglich 5 der 45 Kliniken schätzen den zukünftigen Stellenwert als „hoch“ oder „sehr hoch“ ein. Bei getrennter Betrachtung der übrigen Kliniken gaben alle Universitätsstandorte dies als mittel bis gering oder unklar an. Ähnlich schätzten dies die nichtuniversitären Kliniken ein, jedoch gab es hier zusätzlich 4 Standorte, die den Stellenwert zukünftig als sehr hoch in der Mittelohrchirurgie ansahen. Hiervon erfolgten an einer Klinik mehr als 20 und an zweien mehr als 50 % aller Mittelohreingriffe endoskopisch. Es existieren also durchaus Unterschiede in der perspektivischen Einschätzung zur zukünftigen Rolle der EES-Technik.
Es lässt sich somit zusammenfassend feststellen, dass sich seit der Erscheinung der ersten deutschsprachigen Übersichtsarbeit im Jahr 2016 [
25] durchaus viel in Deutschland bezüglich des Einsatzes der EES-Technik verändert hat. Dies beruht offensichtlich in erster Linie auf der Implementierung dieser Operationsmethode an Universitätskliniken, aber auch nichtuniversitäre Einrichtungen sind sehr aktiv beteiligt. Insbesondere die aktuellere Literatur und der steile Anstieg der Anzahl an internationalen Publikationen der letzten 5 Jahre zu diesem Thema unterstreicht das hohe Potenzial der endoskopischen Ohrchirurgie [
7,
21,
23,
24,
31,
37]. Die hier vorstellte Fragebogenerhebung hatte das ausschließliche Ziel, einen Überblick über den aktuellen Einsatz der EES in Deutschland zu geben. Dabei ist festzustellen, dass die endoskopische Chirurgie vielerorts ein Bestandteil der Ohrchirurgie in Deutschland geworden ist. Im internationalen Vergleich jedoch wäre die intensivere Anwendung dieser Technik anzustreben. Aus Sicht der Autoren könnte dies durch spezielle Fort- und Weiterbildungen [
10], durch die weitere Standardisierung der chirurgischen und anatomischen Nomenklatur und v. a. durch die Entwicklung neuer Instrumente, wie beispielsweise eines Bohrsystems, erreicht werden. Keinesfalls kann die EES-Technik aktuell das Mikroskop voll ersetzen, sie ermöglicht allerdings ohne Zweifel neue Blickwinkel in der Ohrchirurgie.