Wieso ist eigentlich dieses Buch entstanden?
Dafür gab es einige gute Gründe. Fangen wir ganz vorne an. Die Idee folgt den strategischen Inhalten des nationalen Krebsplanes (2008). Eines der Ziele ist die Stärkung der Patientenorientierung (Patient-Empowerment). Eigene, d. h. selbst zu tragende Verantwortung verbessert die Heilungschancen. Eigenverantwortung meint aber keine Selbstdiagnosen, sondern das Bereitstellen von Patienteninformationen (Broschüren, Apps, Wearables oder mobilen Devices). Alternativ kann das auch in einfach konsumierbaren Formaten wie ProstaTALK erfolgen. Die wichtigsten Faktoren für ein Patient-Empowerment sind Know-how, Kenntnis der Gefahren und Motivation. Im Einzelnen steckt hinter „Wissen“ die Forderung: Patienten haben die notwendigen Daten über die Krankheit wie auch das notwendige Wissen und Verständnis über mögliche Behandlungsmethoden. „Risiken“ meint, dass Patienten die krankheitsbezogenen Risiken verstehen. Außerdem steckt aber auch darin, wie Risiken durch persönliche Einflussnahme verändern werden können. Letztlich braucht es „Motivation“. Patienten sind motiviert, die vereinbarte Therapie so gut wie möglich zu unterstützen. Und zwar so, wie es vom Behandlungsplan verlangt wird.
Aber lassen Sie uns die Meta-Ebene verlassen und zu uns selbst zurückkehren. Warum ticken wir Männer so, wie wir ticken? Ein Grund ist, dass uns Verhaltensmuster ein Leben lang beeinflussen können. Bestimmte Männlichkeitsmuster entstehen in der Zeit des Erwachsenwerdens („Adoleszenz“) im Kontext von Jugendkulturen und Peers.
Wenn Männer älter werden, passieren in ihrem Körper verschiedene Dinge. Über Nacht rückt das Thema „Prostata“ häufig völlig unangekündigt in den Fokus. Neben der Prostataentzündung sind es vor allem zwei altersbedingte Prostataprobleme, über die Männer Bescheid wissen sollten. Es ist die Rede von der gutartigen und der bösartigen Prostataveränderung. Aufgrund deren Häufigkeit ist die Frage, warum ausgerechnet ich betroffen bin, nicht wirklich zutreffend. Es gibt eine medizinische Redensart, die jeder Medizinstudent früh kennenlernt: „Was häufig ist, ist häufig“. Spätestens seit der Corona-Pandemie (SARS-CoV-2-Virus) kennt jeder Mensch den Begriff der Epidemie. Im Alltag sind es aber vor allem die nicht epidemischen Erkrankungen, die unserer Leben prägen. Nichtepidemische Krankheiten, die aufgrund ihrer Verbreitung und ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen (Behandlungskosten, Anspruch auf Lohnausgleich bei Arbeitsunfähigkeit, Frühberentung) sozial ins Gewicht fallen, bezeichnet man als Volkskrankheiten. Ähnlich der Herz-Kreislauf- und Nieren-Erkrankungen (die Folgen von Bluthochdruck), Arthrose und Diabetes mellitus Typ 2 (die Folge von Überernährung) sind die gut- und bösartigen Prostata-Erkrankungen klassische und bedeutende Volkskrankheiten. Und selbst das so fürchterlich klingende „Prostatakarzinom“ ist durch die Trickkiste der neuen hormonellen Substanzen (Agentien), NHA, auf dem Weg in eine chronische Erkrankung. „Chroniker-Programme“ gibt es bereits für Diabetes, Asthma und Brustkrebs. Wo bleibt die Prostata, meine Herren?
Das vorliegende Buch heißt ProstaTALK. Also wird erzählt. Ein alternativer Untertitel hätte sein können: „Entzündet, vergrößert oder entartet?“ Ein Dreiklang aus gutartiger, bösartiger und entzündlicher Prostataerkrankung. In Dur und nicht Moll. Marktschreierisch könnte man auch sagen, es gibt drei zum Preis von einem. Neben der Schilderung der Krankheitsbilder erfolgt eine aktive Vorbereitung auf den ersten Urologen-Besuch. Berührungspunkte, neudeutsch „Touchpoints“, werden gesetzt. Die Schnittmengen des Arzt-Patienten-Kontaktes werden in Kap.
2 intensiv vorgestellt.
Wir alle kennen das: Im Alltag ist Medizin getaktet. Die Zeitfenster reichen oftmals nicht aus, den betroffenen Patienten ihr Krankheitsbild in der zur Verfügung stehenden Zeit ausreichend zu erklären. Nichtwissen führt zu Ängsten. Wissen macht hingegen sicher! Die durch einen Mangel an Zuwendung zwangsläufig entstehenden Informationslücken sollen ein wenig mit dem vorliegenden Buch geschlossen werden. Es soll ja einige Männer geben, die sich nicht trauen, beim Arzt nachzufragen. Die Stereotype sind ja bestens bekannt: „Ein Mann fragt nicht, er macht!“ In diesem Buch werden wir immer wieder auf den archaischen Bauplan des Homo sapiens als Jäger und Sammler stoßen. Seit 70.000 Jahren ist Homo sapiens auf sich alleine gestellt. In der Höhle gab es keinen Staat, kein Gesundheitssystem, dass sich um ihn gekümmert hat. Es gab nur ein Recht: das des Stärkeren. Quasi auf eigne Faust. Wie ein Cowboy streifte Homo sapiens John Wayne like umher. Me, Myself and My Gun. Halt fand er allenfalls in der Gruppe. Das geschah in erster Linie durch die Narrative und Mythen. Diese hielten die immer größer werdenden Gruppen zusammen. Vor allem diesen „Lonesome Ridern“, den „Machern“, sei die Lektüre zum besseren Verständnis und zur Urteilsfindung empfohlen.
Wir kennen das vom Wandern. Auch da sind die Wege mit eindeutigen Symbolen beschrieben. Je nach persönlicher Fitness und abhängig von dem, was wir erleben wollen, können wir die individuelle Tour planen. ProstaTALK funktioniert ähnlich, erzählt das Buch nicht wahllos alles, was der Autor weiß, sondern nur das, was der fragende Patient draufhaben will. Und auch wissen muss. Um den Leser nicht zu über- oder unterfordern, wurden dem jeweiligen Nutzungsmotiv entsprechend drei Informationsebenen erzeugt:
Am Anfang des jeweiligen Abschnittes ist ein Levelvermerk (#, * oder **) hinterlegt. Das Prinzip des Buches folgt hierbei dem Häuten einer Zwiebel. Mit jeder Schicht, mit jedem Satz hat Man(n) die Gelegenheit, etwas tiefer in das Thema einzudringen. Sprachlich folgt das Konzept dem geschilderten Inhalt und bewegt sich von allgemein verständlicher Schulsprache über Fachsprache bis hin zu den Ausläufern der Wissenschaftssprache. In extenso werden auf der letzten Stufe des Faktenchecks auch Studien und aktuelle Publikationen aufgeschlüsselt. Der Wunsch ist, dass der Leser bis zum Ende durchhält. Wem die höheren Niveaus zu langatmig erscheinen, der bleibt einfach im Text und verfolgt die Kennzeichnungen der anspruchsvolleren Wanderwege (*) nicht weiter.
1.
„Du und ich“: # Hash, die Doppellatten. Hoffentlich hat der nachfolgende Text alle am Zaun, handelt es sich in der Kurzzusammenfassung doch um wesentliche Inhalte. Der laufende Text vermittelt ohne weitere Markierung das Basiswissen. Alltagssprache:
Das Niveau entspricht einer Publikation wie beispielsweise der Zeitschrift „Apothekenrundschau“, ist gut und allgemein verständlich.
2.
Dr. Google * Asterisk. Mit einem Schluck Zaubertrank wird Zusatzwissen angeboten. Fachsprache:
Das Niveau ist deutlich gehobener und entspricht einem medizinischen Fachbuch. Vorsicht: Bereits hier kann die persönlich aufgebaute Meinungsblase aufplatzen.
3.
Experte ** Ein weiterer Schluck Zaubertrank erklärt kniffligen Fachjargon.
Faktencheck:
In trockener Wissenschaftssprache ist das Niveau nun deutlich sachlicher. Der Text entspricht einem medizinischen Fortbildungsniveau.
4.
Fazit: Hier gibt es eine allgemein verständliche Zusammenfassung.
5.
Think positiv ☺ An dieser Stelle kann man mehr Gesundheit gewinnen. Positiv eingerahmte Inhalte werden unter diesem Symbol eingereiht.
6.
DANGER ☹ Verlustrahmen. Informationen über Risiken oder schädliche Folgen von bestimmten Verhaltensmustern.
Klassische Fragen der alltäglichen Praxis leiten durch den Text. In gleicher Weise werden diese jeden Tag mehrfach gestellt.
Viele Ärzte kennen die Patienten mit einem maximal gesteigerten Interesse an Ihren Befunden. Es sind diejenigen, die ihre Arztbriefe analysieren, mit Marginalien verzieren und redigieren. Die mit ganzen Aktenordnern und DIN-A4-Seiten voller Fragen in die Sprechstunde kommen. Ein bisschen ist das so, wie bei Inspektor Columbo: „Just One More Thing.“ Man ist eigentlich nach gefühlt endloser Zeit fertig mit den Erklärungen. Der Mund ist trocken und fusselig und man hat den Besprechungsraum eigentlich schon verlassen. Da dreht sich Patient Peter Falk mit der Bitte um eine Zugabe um: „Ich habe da noch einige Fragen.“ Fassungslos oder völlig schmerzfrei realisieren die hier Angesprochenen, dass sie mit diesem Konzept in den Praxen und Ambulanzen nicht sonderlich beliebt sind. Warum nur? Das Abrechnungssystem sieht solche Patienten nicht vor und plant für die ganze Sache all-inclusive maximal 3 min ein! Getröstet sind auch diese Menschen. So finden die an mehr inhaltlicher Tiefe interessierten Männer und Frauen, die Zauberlehrlinge unter Ihnen, die bei der 360-Grad-Analyse aufpassen müssen, nicht wieder vorne anzufangen, in diesem Sachbuch unter (**) und Faktencheck ihre XXL- Antworten.
Wann immer es geht, werden zum besseren Verständnis lebensnahe Beispiele, Metaphern, Analogien und eingängige Bilder eingesetzt. Nicht zuletzt hilft bei der Einordnung von schwer erträglichen Sachverhalten manchmal ein kleines Augenzwinkern weiter. Cui bono gibt es neben den harten Fakten, quasi als Beifang, noch einige kleine Geschichten. Trivia. Im Ruhrgebiet sagt man „Dönekes“ dazu. Durch diese Parabeln und Geschichten werden Inhalte über Bande bewegt. Sie werden beim Lesen einige historische Gestalten der Urologie und andere berühmte Personen neu kennenlernen und feststellen, dass es urologische Probleme schon immer gab und sie Teil unseres Lebens sind. So konnte beispielsweise der Geigenvirtuose Nicolò Paganini infolge einer Schwermetallvergiftung nicht mehr Wasserlassen und musste sich selbst katheterisieren. So ganz nebenbei kann man beim Lesen erfahren, wie mühsam sich der medizinische Fortschritt erkauft wurde. Wir lernen, wie wach, klug und mutig die Pioniere waren und auch sein mussten, um den Menschen ein Stück ihrer Gesundheit zurückgeben zu können. Für das Verständnis des Buches spielen gerade die lebensnahen Beispiele oder Geschichten eine tragende Rolle. Sie vertiefen per analogiam das Geschriebene.
Keine Ahnung, ob das Buch diesen Ansprüchen im Weiteren nur annäherungsweise gerecht wird. Stecken wir den Parcours abschließend ab. Es ist vielleicht ein wenig so wie bei der längsten Praline der Welt. Anfänger, Fortgeschrittene, selbst für einen Fachkrankenpfleger oder einen Allgemeinmediziner ist was dabei (**, Faktencheck). Das auch Studiendaten präsentiert werden, macht deshalb Sinn, denn ohne die Orientierung der Wissenschaft geht es nicht. Gerade auch um aufzuzeigen, dass alles im Fluss ist. Besonders in pandemischen Zeiten scheint es notwendig, eine Lanze für die Wissenschaft zu brechen. Vielleicht kann der Leser das Ringen um Fakten so verstehen, dass Wissenschaft aus dem Bedürfnis entstanden ist, sich in der Welt zu orientieren. Deshalb kann es aber gleichzeitig nie eine hundertprozentige Wahrheit geben.
Konzeptionell handelt sich im vorliegenden Fall um ein Hybrid aus einem populären, erzählenden Sachbuch und Ratgeber. Das ist zwangsläufig subjektiv. Und um beim Bild des Scouts zu bleiben: eher ein Reisebericht als eine in Stein gemeißelte Nachricht für die Ewigkeit. Es gilt: „Perfect ist boring.“ Wo viel Licht ist, ist im Übrigen auch viel Schatten. Der OP- wurde zum Schreib-Tisch, das Skalpell des Urologen zum Federhalter gemacht und der Versuch unternommen, auf dem Papier recht akkurate Linien zu ziehen. Aber lieber Leser, eines ist und bleibt dabei klar herauszustellen: Ein Buch ersetzt ebenso wie eine Suchmaschinenabfrage nie den Besuch und die Beratung beim Arzt. Wir leben in einer Zeit, in der einem das Wort im Munde veraltet. Die Lehrbuchmeinung des heutigen Tages ist der morgige Behandlungsfehler. Immer kürzer ist die zeitliche Phase, in der sich das Wissen verdoppelt. In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren es ca. 50 Jahre. In den Achtzigerjahren, waren das sieben Jahre. 2010 brauchte es etwa vier Jahre und heute verdoppelt sich das Wissen innerhalb von nur 73 Tagen. Tendenz sinkend. Aktuelle Leitlinienempfehlungen sind bei Manuskriptschließung im April 2022 längst Geschichte! Zwischen Abgabe beim Verlag und Bücherregal liegen weitere 5 Monate. Spätestens an diesem Punkt wird jedermann klar, dass schon allein aus diesem Grund keine Haftung für die Inhalte übernommen wird. Ich bitte auch Folgendes zu bedenken. Irgendetwas in uns verführt uns dazu, dass wir meist nur das Herauslesen und Hören, was uns gerade passt. Männer sind geradezu erfüllt von einer „do-it-yourself“-Mentalität. In den elektronischen Plauder- und Echoräumen des Internets werden die Baumaterialien geholt, aus denen dann mit Baumarktmitteln und „YouTube“-Tutorials ein oftmals unzerstörbares Meinungshäuschen gezimmert wird. Wie fehlerhaft manche Videos sind, ist dabei völlig egal! „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“, oder wie heißt der Slogan des Lieblingsbaumarktes? „Respekt, wer’s selber macht!“ Es sind die gleichen Werkzeuge, die Homo sapiens auch bei den Themen „COVID-19-Pandemie“ oder „Klimawandel“ zur Realitätsabwehr einsetzen. Manche dieser Selfmade-Meinungshäuschen haben leider den Baufehler, dass sie keine Fenster haben, sodass der unverstellte Blick über den Tellerrand verwehrt bleibt. „Ich sehe was, was Du nicht siehst.“ In der Psychologie nennt man dieses Phänomen „selektive Wahrnehmung“. Und irgendwann kommt im Leben, wie früher im Sandkasten, die berühmte Stunde der Wahrheit. Wir stellen das liebevoll gebastelte Meinungshäuschen dem Arzt vor, wollen für das gelungene Projekt gelobt werden. Und was macht der Scharlatan? Wer will es uns kaputtmachen, findet das nicht gut! Von kognitiver Dissonanz sprechen wir, wenn das eigene Bild und das Bild, das andere von Ihnen haben, nicht mehr zusammenpassen. Hocheffektiv und für uns unbemerkt belügen wir uns dann selbst. „Wir sind die besten Bilanzfälscher der eigenen Buchführung!“, lautet der Befund von Prof. Richard David Precht. Der klassische Abwehrmechanismus besteht darin, den Überbringer der uns nicht passenden Nachricht zu entwerten. Und meist übertreiben wir heute damit, denn in sozialen Medien kann sich auch niemand gegen Bashing wehren. Das soll beileibe nicht larmoyant klingen. Angeblich wurde im Mittelalter der Überbringer einer schlechten Botschaft geköpft. Dagegen ist die Methode des medialen Dekapitierens körperlich überlebbar. Ein weiterer klassischer Taschenspieler-Trick besteht darin, sich positiv zu vergleichen: „Mein Nachbar hat …“. Machen Sie es anders! Versuchen Sie eine gewisse Selbstverpflichtung für sich aufzubringen und lesen Sie weiter. Verantwortung zu übernehmen, ist eine Pflicht, der man sich gerne entzieht, während man Rechte überall einfordert. „Ich mache Ihnen ein Angebot, das man nicht ablehnen kann“, flüstert Ihnen Marlon Brando in Gestalt seines Alter Ego Don Vito Corleone zu.
1.1 Was macht ein Urologe?
Urologie. Im Studium ist es lediglich ein „kleines“ Lehrfach. Über 35 andere Fächer muss ein Medizinstudent obligatorisch belegen. Aber auch in der Öffentlichkeit und im modernen Medizinbetrieb herrscht ein verzerrtes Bild des Urologen vor. Herz und Hüfte. Das sind sexy Körperteile. Kardiologen und Orthopäden sind geeignet für die große Bühne. Mit deren Inhalten kann man Veranstaltungshallen füllen. Sie sind der komplette Gegenentwurf des Urologen. Urologen. Deren Arbeit wird mit Scham und Ekel in Verbindung gebracht. Hier geht es um die Ausscheidungsorgane von Flüssigkeiten. Der Camper spricht von Grauwasser. Die entgegengebrachte soziale Wertigkeit entspricht der Müllabfuhr. Der Müllmann des menschlichen Körpers, zumindest was die Wasserentsorgung angeht. Doch Vorsicht! In so manchen Ländern kann man sich ansehen, was passiert, wenn Entsorgungsunternehmen nicht so funktionieren, wie wir uns das wünschen. Da liegt der Müll am Wegesrand. Keine Angst, hier beschwert sich niemand. Schon gar kein Urologe. Wieso auch? Hybris hilft jedenfalls nicht immer weiter. Besonders dann, wenn man nicht mehr Wasserlassen kann. Das ist plötzlich ganz dicht am Existenziellen. Dann wird den Fähigkeiten des kleinen Faches auf einmal große Wichtigkeit beigemessen. Akut wie ein Herzinfarkt oder Schlaganfall, nur nicht so sozial akzeptiert. Aber Koliken, Harnverhalt, urologische Krebserkrankungen machen Symptome, die in ihrer Maximalausprägung keiner haben möchte. Heimwerkern hilft da nicht mehr weiter! Dann wird auf einmal der Profi gesucht. Nebenbei bemerkt: Die meisten bösartigen Tumore kommen aus dem urologischen Fachgebiet. Prostata, Blase, Nieren und Hoden. Selbst Darm und Lunge werden zahlenmäßig von diesen vier Krankheiten geschlagen. Wer den Urologen als „Katheter-Leger“ adressiert, der unterschätzt das Fach in seiner Komplexität und Breite. Über die steinschneidende Zunft wurde das Fach zunächst in die Chirurgie integriert, spaltete sich aber später wieder aus dieser ab. 1906 wurde in der Stuttgarter Liederhalle die deutsche Gesellschaft für Urologie gegründet. Felix Oberländer hatte den ersten Vorsitz. Und heute gibt es Urologie von A bis Z, von der Andrologie bis zur Zystoskopie. Diagnostik und Therapie liegen in einer Hand. Denken Sie nur an die komplexe Behandlung von Steinen in Niere, Harnleiter, Blase und Harnröhre. Kenntnisse zur Diagnostik und Regulation von speziellen Hormonen sowie komplexen Stoffwechselproblemen bis hin zur Sepsis-Therapie gehören zum Fach. Man mag es kaum glauben, aber das Fach „Urologie“ ist von galaktischer Größe. Ohne die operative Hightech-Endoskopie ist die moderne Urologie heute nicht mehr denkbar. Hier versteckt sich ein wahres Kleinod. Immer wieder sind Studenten und Hospitanten erstaunt, was alles „ohne“ oder mit „kleinsten Schnitten“ geht. Zum Beispiel die RIRS („Retrograde Intrarenal Surgery“). Mit Minikameras kommen wir bis in die entlegensten Galaxien, den letzten Winkel des Harntraktes.
1.2 Der lange Weg vom Steinschneider zum Urologen
Marin Marais (1656–1728) kam aus einfachen Verhältnissen. Vincent Marais, sein Vater, war Schuhmacher. Er ermöglichte seinem 11-jährigem Filius, die Chorschule von St. Germain-l’Auxerrois zu besuchen. Dort erhielt der Junge eine hervorragende musikalische Ausbildung, spielte hervorragend Geige und durfte ab 1675 im Pariser Opéra-Orchester spielen. Eigentlich ein schönes Leben. Glück gehabt. Bis jetzt.
1.3 Die Rahmenbedingungen
Wenn wir heute zum Arzt gehen, dann ist die Erwartungshaltung hoch: Es darf nicht weh tun, operative Schnitte müssen klein sein, es soll flott heilen und man darf hinterher von der OP nichts mehr sehen. Alles muss schnell gehen, Gespräche sind oftmals weniger wichtig als tolle Maschinen. Technik dominiert. Alles ist selbstverständlich geworden. Alles ist 100 % keimfrei, sicher, schmerzfrei, erfolgreich und billig. Die „Geiz ist geil“ Mentalität durchdringt mittlerweile alle Lebensbereiche. Wie Kaufleute oder Ökonomen kalkulieren mitunter Mediziner heute durch, was dieses oder jenes bringt. Derweil versuchen wir, das Beste für uns herauszupicken. Wir kennen alle unsere Rechte und vergessen dabei unsere Pflichten. Wie Kunden soll uns der Staat, der Dienstleister und selbstverständlich auch der Arzt hofieren und bedienen. Ist das nicht unser Anrecht? Dafür sind wir doch versichert! Wofür zahle ich das denn sonst?
Durch Wohlstand und Hygiene haben wir uns gegen die Tücken der Natur gewappnet. Alle unsere gesundheitlichen Probleme werden technisch gelöst. Einige bahnbrechenden Erfindungen und Entdeckungen trugen maßgeblich zur Weiterentwicklung der Medizin und der operativen Fächer bei. Gerade für das Gebiet der Urologie war Arbeiten in Schmerzfreiheit ein Quantensprung. Die Entdeckung der Narkose, der Röntgentechnologie, der Keimfreiheit, die Entwicklung von Kathetern und vieles anderes mehr trugen zur Weiterentwicklung bei. Am Anfang stand die örtliche Betäubung. Eine nicht belastbare Geschichte der Urologie. Don’t spoil a good story with truth.