Die Patientin leidet seit 3 bis 4 Jahren an rezidivierenden depressiven Episoden, zum Teil mit psychotischen Symptomen. Die bisherige Behandlung erfolgte mit verschiedenen Antidepressiva sowie zuletzt in einer Kombination mit Fluanxol bei wahnhafter Symptomatik. Vor 6 Monaten wurde ein Adenokarzinom des Uterus diagnostiziert, worauf eine Hysterektomie erfolgte. In der Folge kam es psychopathologisch subakut zu erneut reduziertem Antrieb und Appetit, verlangsamtem Denken, Hoffnungslosigkeit, Störung von Konzentration, Auffassung und Merkfähigkeit sowie ängstlich-gedrückter Stimmung. Im weiteren Verlauf über mehrere Wochen imponierte eine zunehmende Wesensänderung, Ablehnung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen sowie ein zunehmender Mutismus und temporärer Stupor. Es erfolgt eine freiwillige stationär-psychiatrische Aufnahme.
Diskussion 1: Sollen wir organische Diagnostik durchführen oder abwarten?
Dr. Haus erreicht, dass die Patientin einer Lumbalpunktion zustimmt, sodass diese durchgeführt wird. Dabei zeigen sich eine normale Zellzahl und eine leichte Eiweißerhöhung. Es werden antineuronale Antikörper gegen NMDA-, GABA-, AMPA-Rezeptoren, LGI1 und Caspr2 bestimmt. Das nach zwei Wochen vorliegende Ergebnis lautet: NMDAR-Antikörper im Serum von 1:32 und im Liquor von 1:1. Außerdem fällt eine Hashimoto-Thyreoiditis mit Schilddrüsen(TPO [Thyreoperoxidase])-Antikörpern, TSH(thyreoideastimulierendes Hormon)-Erhöhung und typischen Ultraschallveränderungen auf. Kurz vor der Visite wird Frau C. am Boden liegend aufgefunden, sie hat sich am Kopf verletzt und kommt langsam wieder zu sich, das Stationsteam vermutet eine Synkope.
Diskussion 2: Sprechen die Befunde für eine autoimmune Enzephalitis?
In Zusammenschau der Befunde wird die Diagnose einer Autoimmunenzephalitis gestellt. Dr. Haus verordnet Frau C. eine Steroidtherapie mit Methylprednisolon, 1000 mg pro Tag über 5 Tage. Darunter lässt sich keine eindeutige Stabilisierung feststellen, weiterhin bestehen deutliche Störungen der Orientierung, Auffassung und Mnestik. Unter der Annahme einer weiterhin bestehenden depressiven Symptomatik wird durch Dr. Rück Sertralin aufdosiert. In der Folge äußert die Patientin den Wunsch, „wegen der vielen Infusionen und Tabletten“ das Krankenhaus verlassen zu wollen.
Diskussion 3: Entlassung aus dem Krankenhaus gegen ärztlichen Rat?
Bei unterschiedlichen Auffassungen der behandelnden Ärzte wird die Patientin gemäß Dr. Rücks Empfehlung gegen ärztlichen Rat entlassen. Sie zeigt eine weitere Symptomverschlechterung mit mehrfachem Weglaufen, Orientierungsstörungen und intermittierendem Mutismus. Auf Betreiben des Ehemannes wird die Patientin zunächst nach PsychKG auf einer psychiatrischen Station untergebracht, kann sich aber im weiteren Verlauf für eine freiwillige Weiterbehandlung über insgesamt 3 Wochen entscheiden. Die medikamentöse Therapie umfasst Lorazepam, es erfolgt keine Immuntherapie.
Eine Eilbetreuung wird beantragt und der Ehemann vom Gericht als rechtlicher Betreuer in allen Angelegenheiten eingesetzt. Frau C. wird zunächst nach § 1906 Abs. 1 BGB untergebracht und verbleibt dann freiwillig für 4 Monate auf der Station. Weiterhin ist sie wesensverändert, ratlos, misstrauisch, desorientiert, das Denken ist stark verlangsamt und es bestehen mittelgradige kognitive Defizite. Um die Diagnose der AIE zu untermauern, erfolgt mit dem Einverständnis der Patientin eine Kontrolle der NMDAR-Antikörper, die einen Spiegel von 1:100 im Serum und 1:1 im Liquor ergibt. In einer Positronenemissionstomographie-Computertomographie (PET-CT) des Gehirns zeigt sich eine Stoffwechselminderung links mesiotemporal, parietotemporal und im Thalamus. Die Patientin lehnt eine Immuntherapie mittels therapeutischer Apherese ab. Hierbei ist sie nicht einwilligungsfähig.
Diskussion 4: Sollte eine Immuntherapie durchgeführt werden? Welche?
Die Patientin wird nach Hause entlassen. Der Ehemann wünscht als gesetzlicher Betreuer eine Erweiterung der Behandlung mittels therapeutischer Apherese und Rituximab, wenn nötig auch unter intensivmedizinischen Bedingungen. Er stellt – inzwischen 7 Monate nach Beginn der Krankheitsphase – beim Betreuungsgericht einen Antrag auf Unterbringung und Zwangsbehandlung. Der Richter holt eine gutachterliche Einschätzung ein. Darin wird die alleinige Rituximab-Gabe befürwortet, diese könne auch unter Fixierung erfolgen. Der Richter genehmigt die Unterbringung sowie die Rituximab-Behandlung, die Plasmapherese lehnt er hingegen ab.
Diskussion 5: Welche Entscheidung trifft der Richter?
Kommentar ⑥: ethisch-juristische Einschätzung – Argumentation gegenüber dem Richter.
Der Betreuer kann eine Unterbringung mit dem Zweck der Behandlung beim Betreuungsgericht beantragen. Wenn die begründete Gefahr besteht, dass die Betreute aufgrund der geplanten ärztlichen Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet, muss eine Genehmigung für die Behandlungsentscheidung beim Betreuungsgericht beantragt werden. Eine Genehmigung ist allerdings nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Einwilligung in die ärztliche Maßnahme dem vorausverfügten oder mutmaßlichen Willen der einwilligungsunfähigen Betreuten entspricht (BGB § 1904). Des Weiteren ist eine Genehmigung des Gerichts erforderlich, wenn die Behandlung nur gegen den natürlichen Willen der Patientin durchgeführt werden kann (BGB § 1906a).
Für Betreuungsrichter ist eine fachliche Beurteilung der notwendigen Diagnostik- und Therapiemaßnahmen bei vermuteter, wahrscheinlicher und gesicherter AIE selbstverständlich nicht zu leisten. Sie sind auf Gutachten von Experten für AIE angewiesen. Da diese nicht so leicht zu finden sind, wäre es sinnvoll, den Richtern einige Adressen von AIE-Experten zur Verfügung zu stellen. Des Weiteren sollten Ärzte den Richtern die wichtigsten Leitlinien, Konsenspapiere und Übersichtsarbeiten zur Verfügung stellen [
7,
8,
16,
17,
21,
25].
Damit Richter eine angemessene Entscheidung treffen können, sollte erläutert werden, dass eine Autoimmunenzephalitis eine rasch progrediente Erkrankung mit potenziell letalem Ausgang ist und bei fehlender Behandlung zu schweren irreversiblen Schäden führen kann. Dadurch ist sie vergleichbar mit einer durch Viren oder Bakterien verursachten Enzephalitis, bei der ebenfalls ein sehr enges Zeitfenster für eine Behandlung besteht. Der Vergleich mit viraler oder bakterieller Enzephalitis ist wichtig, um deutlich zu machen, dass die AIE sich in der Manifestation, im Verlauf und auch in der Behandlung deutlich von anderen psychiatrischen Erkrankungen unterscheidet, da sie eine schwere, potenziell tödliche Gehirnerkrankung darstellt, die in keiner Weise durch nichtpharmakologische Therapiestrategien geheilt werden kann (z. B. durch Psychotherapie). Sie hat auch nichts mit den Lebenserfahrungen und -entscheidungen des Patienten zu tun, sondern ist genauso persönlichkeitsfremd und ungewollt wie eine virale oder bakterielle Enzephalitis. Von „Freiheit zur Krankheit“ zu sprechen, wirkt in solchen Fällen zynisch [
15]. Von Zwangsbehandlungen ausgenommen sind natürlich die (eher theoretischen) Fälle, bei denen trotz einer schweren Enzephalitis Einwilligungsfähigkeit besteht.
Bei der Beantragung einer Zwangsbehandlung sollte dargelegt werden, wie ein typischer Verlauf von AIE mit und ohne angemessene Therapie aussieht. Insbesondere sollten die Mortalität und Morbidität mit und ohne angemessene Therapie zahlenmäßig dargelegt werden. Es sollte erklärt werden, dass die zu späte oder nicht erfolgte kausale Behandlung zum irreversiblen Verlust von Gehirngewebe mit allen Konsequenzen führt, insbesondere zu Demenz, ggf. sogar zum Tod. Diese Informationen benötigt der Richter, um zu beurteilen, ob ein schwerwiegender gesundheitlicher Schaden durch die Krankheit zu erwarten ist. Dies ist eine der Voraussetzungen für eine betreuungsrechtliche Unterbringung und Zwangsbehandlung (akute Selbst- oder Fremdgefährdung ist dafür nicht erforderlich).
Außerdem benötigt der Richter Informationen darüber, was mit der Therapie erreicht werden kann (Heilung, Symptomkontrolle, Verhinderung von Folgeschäden, Leidenslinderung, Wiederherstellung der Selbstbestimmungsfähigkeit), da er beurteilen muss, ob der Nutzen der Zwangsmaßnahme die dadurch zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.
Des Weiteren ist darzulegen, inwiefern die AIE die Selbstbestimmungsfähigkeit einschränkt oder aufhebt und ob und inwieweit die beantragte Therapie diese wiederherstellen kann. Diese Information ist wichtig, da Zwangsbehandlungen nach dem Betreuungsrecht sowie nach vielen PsychKGs auch genehmigt werden können, wenn diese geeignet sind, um die Selbstbestimmungsfähigkeit wiederherzustellen.
Richter werden Zwangsbehandlungen eher genehmigen, wenn diese erstens eine kausale statt nur eine symptomatische Therapie bieten, zweitens das Nutzen-Risiko-Profil der Behandlung vorteilhaft ist und drittens die Behandlung keine nachteiligen Persönlichkeits- oder Wesensveränderungen verursacht [
18]. Diese Kriterien sind anders als bei den vom Bundesverfassungsgericht sehr kritisch beurteilten Antipsychotika bei den Therapien gegen Autoimmunenzephalitis erfüllt. (Abb.
1)
Frau C. erhält im Abstand von einem Monat jeweils 1000 mg Rituximab, dazwischen ist sie zu Hause. Die Beschwerden nehmen weiter zu. Eine Kontrolle der NMDAR-Antikörper zeigt einen angestiegenen Serumtiter von 1:10.000. Es kommt zu einer weiteren Sprachverarmung, Zwangsverhalten und stark reduzierter Nahrungsaufnahme. Sie ist weitgehend mutistisch, wirkt ratlos und zunehmend ungepflegt. Aufgrund dieser Zuspitzung stellt der Ehemann die Patientin in der psychiatrischen Rettungsstelle vor. Es wird „kein akut-psychiatrischer Handlungsbedarf sowie fehlende Eigen- oder Fremdgefährdung“ festgestellt und die Patientin entlassen.
Im 12. Monat nach Beginn der Erkrankung wird die Patientin aufgrund einer schmerzhaften Sinusitis stationär HNO-ärztlich vorgestellt, lehnt aber die antibiotische Therapie ab. Sowohl der konsiliarisch tätige Psychiater als auch der Neurologe empfehlen eine Unterbringung nach BGB und Zwangsbehandlung bei organischer Wesensänderung, um die zugrunde liegende NMDAR-Enzephalitis zu behandeln. Das Argument, dass therapeutische Schritte erforderlich sind, um einen bleibenden und wachsenden Hirnschaden abzuwenden, wird jetzt vom Richter als schlüssig bewertet und eine Blutwäschebehandlung gegen den Willen der Patientin genehmigt, die Rituximab-Therapie wird ebenfalls fortgesetzt. Bei einer klinischen Verlaufskontrolle weitere 6 Monate später zeigt sich eine deutliche klinische Besserung der Patientin, insbesondere des Antriebs, der Spontansprache, des formalen und inhaltlichen Denkens, der Orientierung und des Gedächtnisses.