Einleitung
Ähnlich wie etwa bei der Parkinson-Krankheit ist auch das führende therapeutische Prinzip bei Epilepsien eine chronische Arzneimitteltherapie, obwohl ja im Gegensatz zur Parkinson-Krankheit die eigentliche Symptomatik selbst bei Patientinnen und Patienten mit häufigen Anfällen nur einen Bruchteil der Lebenszeit ausmacht. Umso bedeutsamer ist daher bei diesem Prinzip der anfallsprotektiven Strategie nicht nur die nachhaltige Wirksamkeit, sondern zwingend auch eine exzellente Langzeitverträglichkeit. Wenn keine Anfallsfreiheit erreicht wird, ist die Verträglichkeit der anfallssuppressiven Medikamente (ASM) für Patientinnen und Patienten wichtiger als die Anfallsfrequenz [
18,
40]. Alle Faktoren, die diesen Anspruch in Frage stellen, sollten a priori möglichst vermieden werden.
Mit der gängigen anfallssuppressiven Pharmakotherapie wird im Grunde nur dem Auftreten von Anfällen vorgebeugt, ohne dass ein kuratives Prinzip besteht. Bislang gibt es wenige Ausnahmen hiervon, wenn nämlich tatsächlich durch ein Medikament oder eine andere therapeutische Maßnahme die Erkrankung oder Schädigung ursächlich angegangen werden kann, als deren Folge u. a. epileptische Anfälle als Symptome resultieren, etwa medikamentös durch die Therapie von Patientinnen und Patienten mit tuberöser Sklerose und Epilepsie mit Everolimus [
15] und außerhalb der Arzneimittelbehandlung bei Vitamin‑B
6-abhängigen Epilepsien durch die Vitaminsubstitution [
41] oder bei Gukose-1-Transporterdefekt mittels ketogener Ernährung [
13], schließlich auch epilepsiechirurgisch [
51]. Eine ganze Reihe präzisionsmedizinischer Ansätze sind in Entwicklung [
27] und lassen hoffen, dass sich dieses ursachenorientierte therapeutische Spektrum in den nächsten Jahren deutlich erweitern wird.
Die Standardbehandlung von Epilepsien ist also die chronische Pharmakotherapie mit dem Ziel anhaltender Anfallsfreiheit ohne Inkaufnahme medikationsbedingter Störwirkungen [
22,
47,
48,
56].
Ziel der hier vorgelegten Arbeit ist es, unter Berücksichtigung der im vergangenen Jahr publizierten neuen Leitlinien „Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter“ [
22,
23] aus Sicht des Erwachsenenepileptologen den aktuellen realen „state of the art“ zu referieren und zu diskutieren.
Indikationsstellung
Bevor eine medikamentöse Epilepsietherapie im Erwachsenenalter initiiert wird, sollten sich die hierfür Verantwortlichen der großen Verantwortung bewusst sein, die mit dieser Entscheidung übernommen wird. Den Großteil der erwachsenen Patientinnen und Patienten, bei denen eine medikamentöse anfallssuppressive Therapie begonnen wird, erwartet de facto eine lebenslange Therapie [
47]. Dies gilt auch in Fällen, in denen rasch und ohne Störwirkungen der Medikation Anfallsfreiheit erreicht wird. Die sozialen, psychologischen und juristischen Konsequenzen von Rezidivanfällen sind so enorm, dass viele Patientinnen und Patienten aus Sorge vor solchen Folgen von sich aus Absetzversuche ablehnen [
22,
34,
47]. Selbst wiederholte Anfälle, die also die Diagnose einer Epilepsie u. a. rechtfertigen [
22], bedeuten nicht in jedem Fall die zwingende Medikationseinleitung. Bei Kindern kann es ohne weiteres statthaft sein, noch ohne Behandlung den Spontanverlauf abzuwarten, insbesondere natürlich bei Syndromen mit guter Spontanprognose [
56]. Aber auch bei älteren Menschen, die neu erkranken und schon einer hohen medikamentösen Belastung aufgrund anderer Erkrankungen ausgesetzt sind und bei denen aufgrund ihrer Lebenssituation von der Anfallsfreiheit abhängige Themen wie die Kraftfahrtüchtigkeit und ähnliches nicht mehr relevant sind, kann durchaus im Einzelfall neu aufgetretener milder und seltener Anfälle diskutiert werden, ob eine medikamentöse Langzeitbehandlung überhaupt notwendig ist [
47].
Umgekehrt kann es zwingend erforderlich sein, schon nach dem ersten gesicherten Anfall eine anfallssuppressive Therapie einzuleiten, wenn die Diagnostik ein Anfallsrezidivrisiko von > 60 % innerhalb der kommenden 10 Jahre befürchten lässt, also nach den neueren Kriterien die Diagnose einer Epilepsie bereits zulässig ist [
14,
22]. Selbstverständlich besteht in den meisten Fällen auch dann die Indikation zu einer Therapieinitiation, wenn die anderen beiden Kriterien für die Diagnosestellung einer Epilepsie erfüllt sind: also mindestens zwei gesicherte unprovozierte epileptische Anfälle innerhalb eines Zeitraums > 24 h oder das Vorliegen eines Epilepsiesyndroms [
14].
Medikamentöse Erstbehandlung nach Diagnose- und Indikationsstellung
Grundsätzlich sind die Therapieaussichten zum Zeitpunkt des Therapiebeginns günstig. Neuere Daten bestätigen, dass unverändert zu einer Publikation derselben Arbeitsgruppe aus dem Jahr 2000 [
30] bei richtiger Diagnose und Indikationsstellung etwa 50 % aller Patientinnen und Patienten die Chance auf weitgehende Anfallsfreiheit unter der ersten anfallssuppressiven Medikation haben. Bei weiteren 10–15 % gelingt dies noch mit dem zweiten Medikament, wenn das erste trotz adäquater Dosierung nicht erfolgreich war [
7,
22]. Die Chancen einer nachfolgenden Medikation nach Scheitern der ersten sind dann naturgemäß noch besser, wenn das erste Medikament wegen einer Unverträglichkeitsreaktion zügig verworfen werden musste.
Wesentliche Wirksamkeitsunterschiede zwischen den verfügbaren ASM bestehen den vorliegenden kontrollierten Studien zufolge in der Monotherapie nicht. Welches ASM auch immer gewählt wird, die Wahrscheinlichkeit einer zufriedenstellenden Wirksamkeit beträgt etwa zwei Drittel und zwar mit alten (also vor den 1990er-Jahren eingeführten) und mit neueren ASM [
7,
22,
23,
47,
48]. Vergleichsstudien zwischen ASM werden hinsichtlich der Zulassung üblicherweise erst geführt, wenn die Effizienz in Monotherapie gezeigt werden soll. Ein wesentliches Problem dieser bislang üblichen Studien bestand und besteht darin, dass relevante Unterschiede hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit zwischen den einzelnen ASM im Gruppenvergleich kaum feststellbar sind, sie also – je nach Sichtweise – im Gruppenvergleich gleich wirksam oder auch gleich unwirksam sind.
Wenn beim Vergleich von ASM statistisch signifikante Unterschiede gezeigt wurden, gelang dies in aller Regel nur, wenn bestimmte Patientengruppen herausgegriffen wurden, bei denen in der Langzeittherapie eher deutliche Unterschiede zu Tage treten (z. B. ältere Patienten). Dann aber beruhten signifikante Unterschiede wie z. B. zwischen Lamotrigin, Gabapentin und unretardiertem Carbamazepin [
44] oder Levetiracetam und Lamotrigin gegen retardiertes Carbamazepin [
58] nicht auf einem Wirksamkeitsunterschied, sondern auf der besseren Verträglichkeit. Es existieren nur wenige verlässliche Langzeitstudien, die (wenn auch unverblindet durchgeführt) eine gewisse Rangfolge der ASM mit Einschränkungen erkennen lassen und auf die unten noch detaillierter eingegangen wird [
36‐
39].
Wenn Patientinnen und Patienten erst einmal anfallsfrei sind, aber Störwirkungen im Verlauf auftreten, ist es oft kaum möglich, sie von einer medikamentösen Umstellung zu überzeugen. Im eigenen Patientengut wurden vor Jahren konsekutive Patientinnen und Patienten, die unter Therapie mit potenten Enzyminduktoren der frühen ASM-Generationen der vor den 1990er-Jahren eingeführten Medikamente (v. a. Phenytoin, Barbiturate, Carbamazepin) für lange Zeit anfallsfrei waren, proaktiv in dem Sinne aufgeklärt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Langzeitstörwirkungen auftreten würden und eine medikamentöse Umstellung daher zu empfehlen wäre. Nur 15 % dieser Patienten waren bereit, sich einem solchen Umstellungsversuch zu unterziehen. Die restlichen 85 % erklärten, dass sie sogar anhaltende Störwirkungen in Kauf nehmen würden, weil die früheren Anfälle so belastend und traumatisierend gewesen seien, dass sie auf gar keinen Fall das Risiko eines Rezidivs eingehen würden [
48].
Wir verfügen heute über > 20 zugelassene ASM. Einige dieser zur Verfügung stehenden ASM erlauben wesentlich zufriedenstellender als noch vor Jahren, eine Langzeittoxizität zu vermeiden, Interaktionsproblemen bei Kombination mit anderen ASM und anderen Medikamenten bei Auftreten behandlungsbedürftiger anderer Erkrankungen akut und im Langzeitverlauf vorzubeugen und somit dazu beizutragen, eine zufriedenstellende Lebensqualität der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Es ist zwingend und leitlinienkonform [
21,
22], solche ASM initial zu bevorzugen.
Die Auswahlkriterien für die Erstbehandlung beruhen aufgrund der geschilderten methodischen Probleme seit deren Publikation wesentlich auf den sog. SANAD-Studien („standard and new antiepileptic drugs“; [
36‐
39]). Unter Miteinbeziehung neuerer ASM wurde hier in einem randomisierten, offenen Studiendesign ein Vergleich zwischen der Effizienz der Erstbehandlung mit verschiedenen ASM durchgeführt. Diese Vorgehensweise hat gewisse Schwächen. Dennoch sind diese Studien die einzigen industrieunabhängigen und einigermaßen reliablen Vergleichsuntersuchungen.
Diese vom Design her identischen und pragmatischen randomisierten, kontrollierten und offenen Studien verglichen nach Diagnose von fokalen Epilepsien in der 2007 publizierten SANAD-I-Studie Carbamazepin mit Lamotrigin, Gabapentin, Topiramat und Oxcarbazepin und in der rezenten SANAD-II-Studie Lamotrigin, Zonisamid und Levetiracetam. Hinsichtlich generalisierter und unklassifizierter Epilepsien verglich SANAD I Valproat mit Lamotrigin und Topiramat und SANAD II Valproat und Levetiracetam. Die wesentlichen Zielvariablen dieser multizentrischen Studien waren die Zeit bis zur 12-Monate-Remission und die Zeit bis zum Scheitern der Therapie. Die bezüglich beider Studien erfolgreichsten ASM waren Lamotrigin für fokale und Valproat für generalisierte und unklassifizierte Epilepsien. Entsprechend positionieren sich auch die Leitlinien. Dabei ist der Einsatz von Valproat bei jungen Frauen aufgrund der teratogenen Effekte so fragwürdig, dass inzwischen auch seitens der Europäischen Arzneimittelbehörde geraten wird, jährlich einmal Patientinnen, die mit Valproat behandelt werden, hierüber aufzuklären und zu dokumentieren, dass bei Mädchen und jungen Frauen mit generalisierten Epilepsien vor dem Einsatz von Valproat eine Behandlung mit anderen, weniger bedenklichen ASM versucht wurde.
Entsprechend und folgerichtig sind die Empfehlungen der Leitlinien, die ja auch kürzlich in
Clinical Epileptology kurz zusammengefasst wurden, hinsichtlich generalisierter Epilepsien notgedrungen sehr differenziert und abhängig davon, welche Patientengruppe zu therapieren ist [
22,
23]. Dort wird Valproat aufgrund der erdrückenden Datenlage zu Recht als Ersttherapie trotz der Überlegenheit nur empfohlen, wenn bei Frauen die Konzeption mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist [
22,
23]. Dies schließt aber bei Fehlversuchen mit alternativen ASM wie Lamotrigin oder Levetiracetam nicht aus, auch Frauen mit Konzeptionswunsch mit Valproat zu behandeln, sofern diese über die Risken und die Dosisabhängigkeit dieser Risiken umfangreich aufgeklärt wurden. Dies haben auch die Autoren der SANAD-Studien betont [
39]. Die Verweigerung der wirksamsten Therapie selbst aus guten Gründen kann ebenso justitiabel sein wie die unkritische Erstbehandlung mit Valproat. In dieser Ausgabe der
Clinical Epileptology widmet sich ein gesonderter Artikel ausschließlich der Fragestellung der Pharmakotherapie bei Kinderwunsch. Im weiteren Sinne schließt dies auch die Empfehlungen zur Folsäureprophylaxe ein, die nach Publikation von Anhaltspunkten für ein erhöhtes Malignomrisiko der Nachkommenschaft unter höheren Dosen [
3,
55] in den Leitlinien entsprechend modifiziert wurden [
22,
23].
Die Tab.
1 fasst die wesentlichen Auswahlkriterien für die geeignete ASM-Therapie zusammen.
Tab. 1
Auswahlkriterien für das geeignete Anfallssuppressivum
Pharmakokinetik | Zeit bis zum Erreichen des Plasmafließgleichgewichts |
Eliminationshalbwertszeit |
Interaktionsprofil | Enzyminduktion |
Enzyminhibition |
Wechselwirkung mit hormoneller Kontrazeption |
Wechselwirkung mit zusätzlichen Medikamenten bei Komorbiditäten |
Zulassungsstatus | Monotherapie |
Fokale und generalisierte Epilepsien |
Orphan drug |
Off-label-Indikation |
Darreichungsform | Nur oral als Tablette oder auch als Saft oder parenteral |
Akute Verträglichkeit | Allergierisiko |
Risiko schwerwiegender idiosynkratischer Reaktionen |
Neurotoxische Störwirkungen (Schwindel, Müdigkeit, Verschwommensehen, Diplopie, Ataxie) |
Elektrolytentgleisungen (Natrium) |
Kardiale Störwirkungen |
Psychiatrische Störwirkungen |
Langzeitverträglichkeit | Metabolische Störwirkungen (Gewichtszunahme, Gewichtsabnahme, polyzystische Ovarien, Syndrom der polyzystischen Ovarien, diabetogene Stoffwechsellage, kardiale Störwirkungen, Begünstigung von Vitaminmangelzuständen, Einfluss auf Hormonhaushalt) |
Psychiatrische Störwirkungen |
Teratogenität und zusätzliche Risikofaktoren für die Nachkommen |
Die initiale medikamentöse Epilepsietherapie ist eine Monotherapie. Hauptgrund hierfür ist, dass die Beurteilbarkeit von Wirksamkeit und Verträglichkeit wesentlich einfacher sind. Zwar gibt es wenige Publikationen, die initiale Kombinationstherapien mit Monotherapien verglichen und dabei übrigens nicht unbedingt schlechtere Ergebnisse zeigten [
11,
33]; dennoch sind die besagten Vorteile der Beurteilbarkeit der Effizienz und die Vermeidung zu vieler verschiedener Wirkstoffe gerade zu Beginn einer Therapie offensichtlich, was auch die Leitlinien zu Recht betonen [
22,
23].
Die Liste der zur Monotherapie fokaler bzw. generalisierter Epilepsien zugelassenen ASM ist limitiert. Beispielsweise besteht in Europa für alle neueren ASM seit Perampanel (Einführung in Deutschland 2012) keine Monotherapiezulassung, weil deren Wirksamkeit und Verträglichkeit in placebokontrollierten Doppelblindstudien lediglich in der Zusatztherapie gezeigt wurde und die europäische Zulassungsbehörde im Gegensatz zu ihrem amerikanischen Pendant daraus bedauerlicherweise keine Monotherapiezulassung ableitet. Auch ist die Liste der für die Monotherapie zugelassenen ASM bei generalisierten Epilepsien deutlich kürzer als bei fokaler Epileptogenese. Hier wird auf die Literatur und die Leitlinien verwiesen [
22,
23,
48].
Dass die Auslegung klinischer Studien durch die Europäische Zulassungsbehörde zumindest diskutabel ist, sollte an dieser Stelle betont werden. Hochwirksame neue ASM wie Brivaracetam, Perampanel oder Cenobamat, die alle in der Wirkung durch Enzyminduktoren eher abgeschwächt werden, nicht in Monotherapie wie seitens der US-amerikanischen Zulassungsbehörde vorexerziert zuzulassen, beraubt Verschreibern einer naheliegenden und einfachen Therapiemöglichkeit mit allen oben bekannten Vorteilen der Monotherapie und setzt Patientinnen und Patienten im Grunde überflüssigen Zusatztherapien aus, die letztlich nur ein höheres Störwirkungsrisiko mit sich führen. Die Problematik der Off-label-Therapien wird in dieser Ausgabe der Clinical Epileptology in einer gesonderten Übersicht abgehandelt.
Die Therapieplanung setzt die Kenntnis des pharmakologischen Profils jeder Substanz voraus, um nach Möglichkeit, bezogen auf die individuellen Bedürfnisse, das bestmögliche Medikament zu identifizieren und im Verlauf beurteilen zu können, welche Begleitmaßnahmen erforderlich sind, um Wirksamkeit und Verträglichkeit zu optimieren. Dabei ist eine anhaltende Wirkung essentiell. Bestimmte Wirkstoffe sind daher grundsätzlich weniger geeignet: Benzodiazepine sind in der akuten Anwendung zwar zumeist außerordentlich wirksam. Leider sind sie in der Dauertherapie aber dadurch limitiert, dass häufig ein Wirksamkeitsverlust eintritt, der dann auch ihre Einsetzbarkeit im Notfall in Frage stellt. Deshalb spielt in der Dauertherapie lediglich Clobazam eine wichtigere Rolle (v. a. in den USA; [
16,
26]).
Es wird eine möglichst stabile kontinuierliche Serumkonzentration angestrebt. Die Bedeutung des therapeutischen Drugmonitorings wird dabei v. a. bei der Beurteilung der initialen Monotherapie überschätzt. Sie dient dann nur der Sicherstellung der Adhärenz und kann bei einem günstigen Verlauf dazu dienen, den individuellen therapeutischen Bereich festzuhalten, unter dem Patientinnen und Patienten anfallsfrei bei einwandfreier klinischer Verträglichkeit sind. Da angestrebt wird, eine möglichst niedrig dosierte und damit besser verträgliche Monotherapie zu etablieren, sollte nicht vergessen werden, zu besprechen, wie zu verfahren ist, wenn sich Betroffene nicht sicher sind, ob sie die Medikation eingenommen haben oder nicht, was gerade bei Patientinnen und Patienten vorkommt, die nach Initiation der Therapie oft erstmals gezwungen sind, Medikamente einzunehmen. Gerade unter Levetiracetam mit seiner kurzen Eliminationshalbwertszeit [
52] und damit höherer Rezidivgefahr empfehlen wir daher, in einem solchen Fall die Medikation nochmals einzunehmen, auch auf die Gefahr einer versehentlichen Doppelteinnahme hin, die bei diesem Wirkstoff nicht zu Intoxikationssymptomen führt.
Grundsätzlich ist es zulässig, im Erwachsenenalter mit einem ASM der individuellen Wahl die Therapie zu beginnen, sofern dies der Zulassungsstatus zulässt. Dennoch gibt es trotz fehlender verblindeter, komparativer Monotherapiestudien Empfehlungen, die sich in erster Linie auf die sog. SANAD-Studien gründen [
36‐
39].
Der Einsatz aller zur Monotherapie zugelassenen ASM ist je nach individueller Bedürfnislage natürlich trotz der Leitlinien möglich, wird aber nicht empfohlen. Leitlinien sind Empfehlungen, keine verbindlichen Vorgaben. Gerade wenn zusätzliche Komorbiditäten adressiert werden sollen (etwa Migräne), ist es selbstverständlich denkbar und ohne weiteres auch trotz der Leitlinien zulässig, ein entsprechend bei zwei oder mehreren Indikationen wirksames ASM zu erwägen und anzuwenden.
Fokale Epilepsien
In aller Regel beginnen Therapien zumindest im Erwachsenenalter bei fokalen Epilepsien leitlinienkonform [
22,
23] bevorzugt mit Lamotrigin entsprechend der Ergebnisse der SANAD-II-Studie [
38]. Die am häufigsten primär eingesetzte Alternative ist Levetiracetam. Sie ist sicherlich weiterhin gerechtfertigt, wenn Lamotrigin aufgrund der Notwendigkeit der langsamen Eindosierung nicht primär in Frage kommt. Bei Lamotrigin können trotz der notwendigen und empfohlenen langsamen Eindosierung allergische Symptome, bei Levetiracetam Müdigkeit oder psychiatrische Störwirkungen wesentliche Gründe für ein Scheitern der Therapie sein [
48,
52,
56]. Unklar und nicht untersucht ist, ob bei Patientinnen und Patienten in der Ersttherapie nicht schon geringere Dosen als die üblichen Erhaltungsdosen für Lamotrigin für einen befriedigenden Therapieeffekt ausreichen und dies die Ergebnisse der SANAD-Studie begünstigte (Marson, A., persönliche Mitteilung).
Ein Nachteil der SANAD-Studien liegt darin begründet, dass sie weder zu Oxcarbazepin, dessen Wertigkeit in der SANAD-I-Studie wegen einer geringeren Fallzahl nicht angemessen hatte beurteilt werden können und in der SANAD-II-Studie dann nicht mehr berücksichtigt wurde, noch zu Lacosamid, das später zur Monotherapie zugelassen wurde, Aussagen zulässt, was die Bedeutung der Studien für das praktische Vorgehen relativiert. Lacosamid, ein wirksamer Natriumkanalblocker ohne enzyminduzierende Eigenschaften und ohne die mögliche Begleiterscheinung einer Hyponatriämie wie bei Carbamazepin, Oxcarbazepin und Eslicarbazepinacetat, hat sich zu Recht als frühzeitig einsetzbare Alternative etabliert [
21]. Dies haben auch die Leitlinien entsprechend gewürdigt und Lacosamid neben Levetiracetam gesetzt, obwohl die wissenschaftlich belegte Evidenz dafür mäßig ist und sich auch nicht überzeugend in den Leitlinien finden lässt [
22,
23]. Gleichwohl kann der Autor dieses Artikels die Konsequenz nachvollziehen und gutheißen. Ob die weitere Klassifizierung anderer für die Monotherapie zugelassener ASM hieb- und stichfest ist, darf bezweifelt werden. Dies ist ein wesentlicher Nachteil einer auf Konsens und nicht auf Evidenz gründenden S2k-Leitlinie. Die Vergleichsstudie z. B., die belegt, dass bei fokalen Epilepsien Zonisamid oder Topiramat zu überlegen wäre, entzieht sich zumindest meiner Kenntnis. Dies nur als pars pro toto.
Generalisierte Epilepsien
Das wesentliche Problem bei generalisierter Epileptogenese (unabhängig davon, ob der leidige Streit um idiopathische vs. genetische Epilepsien hier erneut entzündet werden soll) ist die Tatsache, dass unstreitig und bestätigt durch die epileptologische Expertise sowie die SANAD-Studien [
37,
39] Valproinsäure das wirksamste Medikament ist. Wie schon oben erwähnt resultiert daraus die in den Leitlinien exzellent bearbeitete Schwierigkeit, dass Frauen im gebärfähigen Alter bei nicht ausgeschlossener Schwangerschaft das bestwirksame ASM zunächst nicht gegeben werden sollte und bei nicht einfach therapierbaren generalisierten Epilepsien nach Jahren eben doch die Entscheidung ansteht, ob ein Valproat-Versuch nicht nur bedenkenswert, sondern unausweichlich ist. Dass Valproinsäure ebenso wie Topiramat in dieser Patientinnengruppe hinsichtlich großer Fehlbildungen (Valproat) als auch hinsichtlich des Risikos für Autismusspektrumstörungen und kognitive Beeinträchtigungen des Nachwuchses Risikosubstanzen sind, wurde inzwischen mit überwältigender Evidenz gezeigt und wird durch neue Studien immer wieder bestätigt. [
1,
4,
9,
10,
24]. Zur Aufklärung gehört aber auch, dass Frauen mit generalisierten Epilepsien, die aus diesen Gründen von Valproat auf die bei Schwangerschaftswunsch weniger risikobehafteten ASM Lamotrigin oder Levetiracetam umgestellt werden, ein erhebliches Risiko für wieder oder erstmals auftretende generalisierte tonisch-klonische Anfälle haben [
6]. Diese Daten sprechen dafür, dann Levetiracetam zu bevorzugen, unter dem generalisierte tonisch-klonische Anfälle signifikant seltener auftraten (zumal die Umstellung in der Praxis ja wesentlich einfacher und rascher zu handhaben ist). Dass die Leilinien hinsichtlich Levetiracetam, das ja keine Monotherapiezulassung hat, dieses dennoch empfehlen [
22,
23], ist aus Sicht des Autors ausdrücklich empfehlenswert und definitiv nachvollziehbar. Im Übrigen wird an dieser Stelle auf die Übersicht verwiesen, die sich in dieser Ausgabe der
Clinical Epileptology ausschließlich dieser Thematik widmet.
Zusätzliche Verunsicherung nun auch bei Männern unter Valproat-Therapie entstand durch die Warnung der European Medicine Agency (EMA), dass auch deren Nachkommen ein erhöhtes Risiko für Entwicklungsstörungen ausweisen könnten. Erfreulicherweise wurde dies sehr sorgfältig durch eine dänische Registerstudie kürzlich widerlegt, die kein erhöhtes Risiko für große Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen einschließlich Autismusspektrumstörungen erkennen ließ [
8].
Scheitern der initialen Therapie und weitere Therapieplanung
Die Gründe für ein Scheitern der ersten Monotherapie sind vielfältig. Ein wichtiger Grund gerade zu Beginn einer ersten chronischen Arzneimittelbehandlung können Verträglichkeitsprobleme sein. Die erstrangige Therapie mit Lamotrigin bei fokalen Epilepsien kann trotz der notwendigen und empfohlenen langsamen Eindosierung mit allergischen Symptomen einhergehen, die Alternative Levetiracetam mit Müdigkeit oder psychiatrischen Störwirkungen [
48,
52,
56].
Die erste Monotherapie kann auch scheitern, weil die Wirksamkeit unbefriedigend ist und trotz einer angemessenen Erhaltungsdosis weitere Anfälle auftreten. Dann sollte unbedingt geklärt werden, ob die initiale Epilepsieklassifikation zutreffend und somit die Medikationswahl korrekt war. Paradoxe Effekte von ASM (z. B. von Lamotrigin bei generalisierten Epilepsien auch über Fälle mit einer
SCN1A-Mutation hinaus) sind ja hinlänglich bekannt [
17]. Weiteres Auftreten von Anfällen kann auch dadurch begründet sein, dass die Epilepsiediagnose an sich verkehrt war und stattdessen nicht-epileptische Anfälle (v. a. psychogene Anfälle oder Synkopen) vorliegen. Schließlich ist gerade bei Erstdiagnose einer Epilepsie zu überprüfen, ob die Adhärenz tatsächlich gewährleistet ist.
Nach Scheitern der ersten Monotherapie erfolgt eine zusätzliche Gabe eines ASM. Ziel ist dabei die Verwirklichung einer alternativen Monotherapie, also das Eindosieren eines zweiten Medikaments mit dem Ziel, das ursprünglich gegebene Medikament dann auszuschleichen. Grund hierfür ist der bereits erläuterte grundsätzliche prinzipielle Vorteil einer Monotherapie, deren Beurteilung hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit wesentlich einfacher ist als bei Kombinationen. Wird das Anstreben einer alternativem Monotherapie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit geplant, sollte darauf geachtet werden, dass nicht alle neuen ASM auch tatsächlich für die Monotherapie zugelassen sind, deren Verwirklichung also letztlich zu einer Off-label-Therapie führen würde. Die hierfür verantwortliche unverantwortliche Strategie der EMA wurde in dieser Arbeit bereits kritisch kommentiert.
Allerdings lassen sich heutzutage dennoch sehr gut kompatible Kombinationen etablieren. Erfreulicherweise verfügen wir inzwischen (ganz im Gegenteil zu den Zeiten, als das Monotherapiedogma postuliert wurde [
45]) über eine Reihe interaktionsarmer ASM, sodass auch leitlinienkonform durchaus denkbar ist, bei Erreichen von Anfallsfreiheit eine Zweifachtherapie zu belassen, wenn Patientinnen und Patienten klinisch wie laborchemisch keine erkennbaren Störwirkungen erfahren und das potenzielle Risiko scheuen, u. U. beim Absetzen des zuerst eingesetzten ASM Rezidivanfälle zu erleiden [
48].
Wie beim Erstmedikament sollte die Auswahl der nachfolgenden Substanz v. a. den Aspekt der guten Langzeitverträglichkeit und der Kompatibilität mit anderen Medikamenten (auch über die Epilepsieindikation hinaus) berücksichtigen (vgl. Tab.
1). Die Wirksamkeit ist in der Zusatzgabe für alle ASM in placebokontrollierten Studien vor der Zulassung als Voraussetzung für eben jene gezeigt worden. Hinsichtlich der Wirksamkeit gibt es leider keine prospektiven, verblindeten Vergleichsstudien.
In letzter Zeit mehren sich aber Hinweise darauf, dass durchaus durch sinnvolle Kombinationen noch wesentliche Verbesserungen dann erzielt werden können, wenn ausdosierte Monotherapien nicht zur stets prinzipiell anzustrebenden nachhaltigen Anfallsfreiheit geführt haben [
5,
35,
53], gelegentlich sogar mit Dreifachkombinationen (sofern diese gut verträglich sind), prinzipiell aber besonderen Behandlungssituationen vorbehalten bleiben sollten [
22].
Eine besondere und in den letzten Jahrzehnten nicht realistische Perspektive könnte sich mit dem zuletzt eingeführten Cenobamat ergeben. Auch hierfür gibt es keine echten komparativen Studien. Dennoch spricht bei allen methodischen Schwierigkeiten indirekter Vergleiche sowohl die Metaanalyse der Zulassungsstudien mit fixen Dosierungen als auch eine monozentrische sog. Real-world-Beobachtungsstudie dafür, dass Cenobamat im Vergleich zu anderen neuen ASM Wirksamkeitsvorteile haben könnte [
32,
49,
57].
Pharmakokinetik
Wir verfügen inzwischen über ASM, deren Pharmakokinetik eine rasche Eindosierung und damit ein rasches Erreichen einer Erhaltungsdosis mit konstantem Wirkspiegel zulässt, sodass zumindest die Verträglichkeit rasch beurteilt werden kann und der zu erhoffende anfallssuppressive zusätzliche Schutz rasch erreicht wird. Hierzu zählen in erster Linie unter den neueren ASM Levetiracetam und Brivaracetam [
52] und in zweiter Linie Lacosamid [
21]. Für alle drei genannten ASM besteht ein weiterer Vorteil darin, dass parenteral applizierbare Formulierungen zur Verfügung stehen.
Bei ASM mit langer Eliminationshalbwertszeit, die den Vorteil aufweisen, u. U. in einer Einmaldosis gegeben werden zu können (z. B. Phenobarbital, Topiramat, Zonisamid, Perampanel, Cenobamat), kann der Zeitraum bis zum Erreichen der zunächst angestrebten Erhaltungsdosis und des Plasmafließgleichgewichts mehrere Wochen ausmachen. Erst dann können Wirksamkeit und Verträglichkeit angemessen beurteilt werden. Vorschnelle nächste Schritte im Umgang mit derartigen Medikamenten gehören zu den häufigsten Behandlungsfehlern in der Epileptologie. Diese Medikamente kommen primär eher nicht in Betracht, wenn rasche Effekte erzielt werden müssen.
Von praktisch besonders großer Bedeutung ist die Frage von Wechselwirkungen von ASM untereinander, aber auch mit anderen Medikamenten oder dem Hormon- oder Vitaminhaushalt. Viele ASM haben eine enzyminduzierende Wirkung. Unter Enzyminduktion versteht man die medikations- oder substanzabhängige verstärkte hepatische Metabolisierungsrate, die man häufig an der grundsätzlich dann nicht pathologischen Erhöhung der Gamma-Glutamyltranspeptidase (G-GT) ablesen kann [
46].
Die Enzyminduktion setzt nach ca. 14 Tagen ein. Die Serumkonzentration und damit die Wirkung von zahlreichen Medikamenten kann hierdurch reduziert werden. Besonders praxisrelevant ist dabei die Auswirkung auf die hormonelle Kontrazeption unter enzyminduzierenden Medikamenten, die vor Beginn einer Therapie mit potenteren Enzyminduktoren unbedingt thematisiert werden muss. Hinsichtlich eines Überblicks über das wechselwirkungsrelevante Profil der derzeit verfügbaren ASM wird auf die Literatur verwiesen [
22,
23,
48,
56].
Wenn also wechselwirkungsarme ASM verwendet werden, ist dies auch im Hinblick darauf von Vorteil, dass bei erwachsenen Patientinnen und Patienten im weiteren Verlauf medikamentös behandlungsrelevante Komorbiditäten auftreten können, die den Einsatz lebenswichtiger anderer Medikamente erfordern, deren potenzielle Wirkabschwächung durch die ASM-Therapie fatal wäre. Ob Wechselwirkungen mit Hormonen und Vitaminen, denen in der Literatur gerade unter Enzyminduktoren immer wieder erhebliche Bedeutung zugesprochen wurde [
19,
48,
56], tatsächlich hohe klinische Relevanz aufweisen, ist nach wie vor umstritten, zumal beispielsweise Knochendichteminderungen auch unter ASM wie Levetiracetam unlängst [
25] beschrieben wurden, wobei ein hierfür verantwortlicher Mechanismus derzeit nicht überzeugend zu identifizieren ist.
Es stellt sich durchaus die Frage, ob nicht gewisse Vitaminmangelzustände auch unabhängig von der Medikation bestehen könnten [
20]. Dennoch ist alleine die Evidenz für eine erhöhte Frakturgefahr bei verminderter Knochendichte bei Epilepsien so überwältigend, dass entsprechende Laborkontrollen und Substitutionen auch unabhängig von der Frage der Verursachung durch spezifische ASM in Übereinstimmung mit den Leitlinien [
22] empfohlen werden.
Bei Arzneimitteln, deren Verträglichkeit und ausgeglichene Wirkstoffkonzentration primär nicht gewährleistet ist, sind retardierte Formulierungen wesentliche Verbesserungen. Dies ist der Fall, wenn u. U. mehrere Tagesdosen wie bei unretardiertem Carbamazepin erforderlich werden oder aber wie bei Oxcarbazepin das rasche Anfluten temporäre Störwirkungen induziert. Retardierte Formulierungen haben sich bei den entsprechenden Substanzen dann auch grundsätzlich rasch durchgesetzt [
47].
In den aktuellen Leitlinien [
22] wird darauf hingewiesen, dass perioperativ das Ausweichen auf die parenterale Gabe von ASM möglich ist. Ferner findet Erwähnung, fass bei Patientinnen und Patienten, die an einer aktiven Epilepsie erkrankt sind und bei denen eine medikamentöse Überbrückung zum Schutz erforderlich ist, zusätzlich kurzfristig Clobazam ergänzt werden kann.
Allerdings gibt es in der klinischen Praxis sehr wohl darüber hinaus Situationen, die eine längerfristige Alternative für die orale ASM-Gabe bedingen, beispielsweise bei psychiatrischen Ausnahmezuständen über mehrere Tage, in Fällen massiver kognitiver Beeinträchtigung mit Verhaltensauffälligkeiten oder in palliativen Behandlungssituationen. Auf diese praktisch wichtigen therapeutischen Herausforderungen gehen die Leitlinien nicht ein.
Bei Patientinnen und Patienten, bei denen solche schwierigen Behandlungsszenarien denkbar sind (so schwierig die Vorhersage auch sein mag), sind sicherlich solche ASM von Vorteil, die den Zugriff auf die parenterale (z. T. auch intramuskuläre oder subkutane) Gabe ermöglichen (also Benzodiazepine, Brivaracetam, Lacosamid, Levetiracetam, Phenobarbital, Phenytoin und Valproat). Eine Alternative kann die rektale Ersatztherapie in bestimmten Fällen für kurze Zeit sein, etwa mit Carbamazepin-Saft, Diazepam, Lamotrigin, Levetiracetam, Topiramat, Valproat und Vigabatrin. Darüber hinaus ist bei den meisten ASM die Gabe über eine PEG-Sonde (perkutane endoskopische Gastrostomie) möglich. Dann aber sollten häufigere Bestimmungen der Serumkonzentrationen erfolgen, um den veränderten Resorptionsbedingungen Rechnung zu tragen.
Zum Austausch von ASM haben sich die aktuellen Leitlinien klar positioniert und empfehlen keinen Austausch bioäquivalenter Medikamente bei anfallsfreien Patienten. Dies wird v. a. mit Compliancefragen begründet. Diese Position ist zweifelhaft, mehren sich doch die Hinweise darauf, dass für ASM wie Lamotrigin kaum Evidenz hierfür besteht [
2,
42]. Dazu kommt, dass in der täglichen Praxis immer häufiger die Verfügbarkeit gewohnter Arzneimittel nicht gewährleistet ist. Angesichts hoher Regresse durch Krankenkassen sollte die apodiktische Aussage der Leitlinien relativiert werden, wie dies in den Leitlinien auch im nachfolgenden Text bereits angedeutet wird, wenn es heißt: „Ist ein Herstellerwechsel unvermeidlich (z. B. Präparat nicht erhältlich oder relevanter Preisunterschied zum bisher verabreichten Präparat) sollen adhärenzstützende Maßnahmen (Aufklärung über Bioäquivalenz) begleitend eingesetzt werden“ [
22,
23].
Pharmakoresistenz
Bei etwa einem Drittel der Epilepsien muss von mindestens partieller Pharmakoresistenz ausgegangen werden. Es ist wichtig, dass dies frühzeitig festgestellt werden kann. Die Definition der Pharmakoresistenz der Epilepsie wurde in einem Konsensuspapier formuliert, wonach Pharmakoresistenz bereits anzunehmen ist, wenn nach Behandlungen mit zwei ASM in adäquater Art und Weise und in Mono- oder Kombinationstherapie keine anhaltende Anfallskontrolle erreicht wird [
29]. In diesem Fall sollte zumindest im Erwachsenenalter und unter der Prämisse einer fokalen Epileptogenese frühzeitig daran gedacht werden, Möglichkeiten einer chirurgischen Epilepsietherapie zu prüfen. Aktuell dauert die Periode zwischen ersten Anfällen und später erfolgreicher und damit ursachenorientierter kurativer Therapie in vielen Fällen immer noch Jahrzehnte, obwohl längst gezeigt wurde, dass etwa bei unilateraler Temporallappenepilepsie auch bei Patientinnen und Patienten, bei denen entsprechend der neuen Definition [
29] in kürzerer Zeit Pharmakoresistenz bewiesen wird, das epilepsiechirurgische Vorgehen keine Alternative sondern die Therapie der Wahl ist [
12].
Wenn aber Epilepsiechirurgie oder andere Therapiemöglichkeiten entweder nicht infrage kommen oder bereits erfolglos versucht wurden, gilt, dass zur Verbesserung der Lebensqualität versucht werden sollte, die Pharmakotherapie so effektiv wie möglich, aber eben auch so einfach und störwirkungsarm wie möglich zu gestalten. Es sollte kein medikamentöser Aktionismus unternommen werden. Sachlage und Prognose sind den Betroffenen so objektiv wie möglich zu erläutern [
47].
In den letzten Jahren haben sog. „orphan drugs“ Einzug in die Epilepsietherapie gehalten, die in den Leitlinien auch ausdrücklich gewürdigt und gewertet werden [
22]. Hierzu sei hier lediglich angemerkt, dass die Thematik in erster Linie neuropädiatrische Patientinnen und Patienten betreffen, bei denen die entsprechenden „orphan diseases“ bereits diagnostiziert wurden. Dennoch sollten auch Erwachsenenepileptologen bei schwer therapieresistenten Epilepsien in bestimmten Fällen mit Hilfe molekulargenetischer Diagnostik die zugrunde liegende Pathophysiologie nochmals klären, weil es ja definitiv Beispiele aus der Praxis gibt, die in einzelnen Fällen auch im Erwachsenenalter noch eine hohe Wirksamkeit dann zielgerichtet eingesetzter „orphan drugs“ belegen [
28,
54].
Absetzen der Medikation
Erfolgreiche Absetzversuche bei Anfallsfreiheit können die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten verbessern, da medikationsbedingte Störwirkungen und psychologische Stigmatisierungen aufgrund der Notwendigkeit einer chronischen Arzneimitteleinnahme entfallen [
34]. Grundsätzlich gilt andererseits, dass Anfallsrezidive im Erwachsenenalter aufgrund der Tragweite im Hinblick auf fast alle Lebensbereiche außerordentlich schwerwiegend sind. In jedem Gespräch zum Thema Absetzen der Medikation muss das mit größtmöglicher Sorgfalt besprochen werden. Die Leitlinien betonen erfreulicherweise ebenfalls, dass „der Patient/die Patientin darüber aufgeklärt werden soll, dass bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung die wahrscheinlichen Konsequenzen eines möglichen Rezidivs bzgl. Fahreignung und beruflicher Tätigkeit dem möglichen Nutzen der Beendigung der anfallssuppressiven Therapie gegenüberzustellen sind“ [
22].
Die sozialen Implikationen von Rezidivanfällen im Erwachsenenalter, die vom Verlust der Fahrtauglichkeit über die Gefährdung der Arbeitsfähigkeit bis hin zur neuerlichen Traumatisierung nach langjähriger Anfallsfreiheit reichen, spielen eine große Rolle bei der Entscheidung für oder gegen das Absetzen einer Therapie. Dies ist sicherlich der Grund dafür, dass bei Erwachsenen generell wesentlich weniger Absetzversuche als bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt werden.
Das Ende einer anfallssuppressiven Therapie sollte nicht ausschließlich nach der Zahl der anfallsfreien Jahre bestimmt werden [
47]. Daher ist sicherlich auch diskutabel, dass ein solcher Zeitraum immer wieder angegeben wird, im Falle der Leitlinien ist von 2 Jahren die Rede [
22]. Ein solcher Zeitraum ist letztlich rein willkürlich, vielmehr sollte das Thema des Absetzens natürlich bei Anfallsfreiheit immer besprochen werden, mit allen Konsequenzen eines Rezidivs. Für die Prognose ist beispielsweise entscheidend, ob die epileptogene Ursache wirklich weggefallen ist. Ein Beispiel hierfür wäre ein erfolgreicher epilepsiechirurgischer Eingriff oder eine ins Erwachsenenalter tradierte Medikation bei einem kindlichen Epilepsiesyndrom mit günstiger Spontanprognose. Nur Patienten, die dieses Kriterium erfüllen, haben nach Ende der Therapie ein geringes Rückfallrisiko [
47].
Die auch in den Leitlinien zitierte größte Metaanalyse, die allerdings zur Hälfte Studien an Kindern und Jugendlichen erfasste und insgesamt über 1700 Patienten berücksichtigte, berichtete nach einer medianen Beobachtungszeit von 5 Jahren eine Rezidivquote von 46 % [
31]. In dieser Arbeit wurde auch ein Nomogramm vorgestellt, anhand dessen sich das individuelle Rezidivrisiko von Patientinnen und Patienten berechnen lässt. Risikofaktoren für Rückfälle sind dieser Arbeit zufolge eine lange Epilepsiedauer vor Remission, ein kurzes anfallsfreies Intervall vor dem Absetzen, ein höheres Lebensalter (> 25 Jahre) bei Epilepsiebeginn, Fieberkrämpfe, > 10 Anfälle vor Remission, das Nichtvorliegen eines üblicherweise selbstlimitierten kindlichen Epilepsiesyndroms, eine kognitive Entwicklungsverzögerung sowie der Nachweis epilepsietypischer Potenziale im EEG zum Zeitpunkt der Absetzdiskussion.
Es ist in der Praxis des Autors dieser Arbeit auch selten vorgekommen, dass Patientinnen und Patienten mit pharmakoresistenten Epilepsien nach Jahren frustraner Therapiebemühungen die Medikation absetzen wollten. Diese Situation erfordert erst recht eine sehr sorgfältige gemeinsame Abwägung von Nutzen und Risiko einschließlich der intensiven Diskussion eines erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisikos. Belastbare Studien zu diesem sicher seltenen, aber schwierig lösbarem Problem gibt es nach Kenntnis des Verfassers nicht.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.