Ernährungsscreening und -beratung für jeden Patienten

Mangelernährung ist in der Onkologie ein überaus häufiges Problem, das potenziell schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht, u.a. eine erhöhte Toxizität der Tumortherapie, eine schlechtere Lebensqualität (QOL) und eine erhöhte Wahrscheinlichkeit zu versterben. Trotz der eindeutigen Datenlage werden die Folgen von Mangelernährung im klinischen Alltag immer noch weit unterschätzt. Experten empfehlen, Tumorpatienten bezüglich ihres Ernährungszustands zu screenen und eine Beratung sowie bei Ernährungsdefizit eine angemessene Therapie anzubieten. Prävalenz und Ausprägung der Mangelernährung bei Krebspatienten werden wesentlich vom Stadium und der Lokalisation des Tumors bestimmt. Wie Prof. Dr. Enrico Cortesi, Dipartimento di Scienze Radiologiche, Oncologiche ed Anatomo Patologiche – Sapienza Università, Rom, Italien, berichtete, würden viele Patienten bereits bei Erstdiagnose einen deutlichen Gewichtsverlust aufweisen. Mangelernährung oft bereits bei Erstdiagnose In der PreMiO (Prevention of Malnutrition in Oncology)-Studie hatten 51% (bzw. 62% der Patienten mit metastasierter Tumorerkrankung) bei der Erstvorstellung eine Mangelernährung oder ein erhöhtes Risiko, eine solche zu entwickeln [1]. Mit der Progression der Erkrankung nimmt die Inzidenz der Mangelernährung zu, sodass letztlich 80% der Patienten davon betroffen sind [2]. Das Pankreas war in einer Prävalenzstudie, an der 154 Zentren teilnahmen, die am häufigsten mit Mangelernährung assoziierte Tumorlokalisation (67%), gefolgt von Ösophagus/Magen (60%), Kopf-Hals-Region (49%), Lunge (45%), Ovar/Uterus (45%), Kolon/Rektum (39%), Blut/lymphatisches System (Leukämie/Lymphome: 34%), Brust (21%) und Prostata (14%) [3]. Zu den wichtigsten Ursachen der Mangelernährung gehört neben der Grunderkrankung die Antitumortherapie [2]. Umgekehrt beeinträchtigt Mangelernährung die Verträglichkeit und damit die Erfolgsaussichten der Therapie. Eine wichtige Rolle spielt laut Prof. Dr. Julien Taieb, Gastroenterology and Gastrointestinal Oncology Department, Georges Pompidou European Hospital, Paris, Frankreich, der Verlust an fettfreiem Gewebe, insbesondere der Skelettmuskulatur, der in Studien mit einer erhöhten Toxizität der Chemotherapie assoziiert war [4, 5]. So wurde beispielsweise bei Patienten, die einen Verlust an fettfreiem Gewebe aufwiesen, unter der Behandlung mit 5-Fluorouracil bzw. Capecitabin doppelt so häufig eine dosislimitierende Toxizität beobachtet [4]. Ursache erhöhter Mortalität Mangelernährung verursacht eine Zunahme von Infektionen und stationären Behandlungen, die Verschlechterung der QOL sowie eine erhöhte Mortalität [6]. Etwa ein Viertel aller Krebspatienten in Europa stirbt nicht an den Folgen der Tumorprogression, sondern der Mangelernährung [1]. Cortesi zitierte eine Studie, in der ein Gewichtsverlust ≥10% bei Patienten mit Kolorektalkarzinom (CRC) mit einer 3,3-fach höheren Gesamtmortalität assoziiert war (Hazard Ratio [HR] 3,27; p<0,0001) [7]. Eine gepoolte Analyse von 25 klinischen Studien ergab bei Patienten mit metastasiertem CRC in der Erstlinie eine signifikante Assoziation zwischen dem Body Mass Index (BMI) und dem progressionsfreien Überleben bzw. Gesamtüberleben (OS; p<0,001) [8]. Patienten mit einem BMI von 18,5 kg/m² hatten im Vergleich zu adipösen Patienten ein um 27% höheres Progressionsrisiko und ein um 50% erhöhtes Mortalitätsrisiko. Die Folgen von Mangelernährung würden in der onkologischen Praxis jedoch ignoriert [8], beklagte Cortesi. „Das Wissen und das Bewusstsein bezüglich ernährungsassoziierter Probleme sind nach wie vor auf einem niedrigen Niveau.“ Es überwiege bei Onkologen die (falsche) Wahrnehmung, die meisten Patienten seien nicht mangelernährt [9]. Obligates Screening Experten verschiedener Fachrichtungen fordern, dass Onkologen über die aktuellen Leitlinien zur Ernährung von Tumorpatienten und mögliche therapeutische Interventionen informiert sein sollten, alle onkologischen Patienten über den wissenschaftlich erwiesenen Nutzen von Ernährungsscreening und -interventionen aufklären sollten und bei jedem neu diagnostizierten Patienten bzw. jeder Nachuntersuchung ein Ernährungsscreening durchführen sollten, um den Zustand einer Mangelernährung möglichst früh zu erkennen [10]. In europäischen und deutschen Leitlinien werden für möglichst alle Tumorpatienten Ernährungsberatung, -screening und eine enterale bzw. parenterale Zufuhr von Nährlösungen empfohlen, wenn eine ausreichende orale Aufnahme nicht gewährleistet ist [11, 12]. Für das Ernährungsscreening stehen einfache und verlässliche Instrumente, wie z.B. das Malnutrition Screening Tool (MST), zur Verfügung [2, 10]. Experten befürworten einen multidisziplinären Ansatz, der die Einbindung von Pflege- bzw. anderen Heilberufen in das Screening vorsieht [10]. Zeichnet sich im Screening eine Mangelernährung bzw. ein erhöhtes Risiko ab, ist ein Ernährungsassessment erforderlich [2]. Als ein sehr gutes Tool bewertete Taieb das Patient Generated-Subjective Global Assessment (PG-SGA), während einfachere Scores wie der Nutritional Risk Index (NRI), Gewichtsverlust oder BMI Taieb zufolge wahrscheinlich unzureichend sind. Algorithmus zur Behandlung Laut einem von Dr. Juan Antonio Virizuela, Hospital Universitario Virgen Macarena, Sevilla, Spanien, vorgestellten Konsensus-Report spanischer Experten sollten Tumorpatienten eine Ernährungsberatung erhalten, wenn ihre Ernährung mehr als 75% des berechneten Energiebedarfs deckt [2]. Dagegen sollten Patienten, die trotz Ernährungsberatung nur 60–75% des berechneten Bedarfs zu sich nehmen, zusätzlich orale Nahrungsergänzungsmittel angeboten werden. Besteht über einen Zeitraum von 1–2 Wochen ein Ernährungsdefizit <60% des berechneten Bedarfs, empfehlen die Experten eine ergänzende enterale Ernährung (EN). Reiche die EN nicht aus, so Virizuela, oder lasse sich eine EN nicht durchführen, sollten die Patienten eine parenterale Ernährung (PN) bekommen. Der Energiebedarf von Krebspatienten sollte sich am Bedarf gesunder Personen orientieren (täglich 25–30 kcal/kg Körpergewicht [KG]) [2]. Der tägliche Proteinbedarf beträgt mindestens 1–1,5 g/kg KG, bei Protein-Katabolismus 2,0 g/kg KG. Parenterale Ernährung zu Hause: effektive Therapieoption Tumorpatienten können von einer Ernährungstherapie erheblich profitieren. So kann die PN den funktionellen Status, die QOL und das OS verbessern [13]. Die PN lässt sich mit gutem Erfolg auch zu Hause durchführen: In einer prospektiven Studie erhielten 65 chemotherapeutisch behandelte Tumorpatienten mit Mangelernährung eine häusliche parenterale Ernährung (Home Parenteral Nutrition, HPN) [13]. Nach 90 Tagen waren der Anteil gut ernährter Patienten (laut PG-SGA) und der Karnofsky-Performance-Status signifikant erhöht (p<0,01). Patienten, die nach 90 Tagen HPN einen guten Ernährungszustand aufwiesen, hatten im Vergleich zu Patienten mit moderater/vermuteter Mangelernährung bzw. schwerer Mangelernährung ein um 61% (HR 0,39) bzw. 85% geringeres Sterberisiko (HR 0,15; Abb. 1). Abb. 1: Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten mit gutem Ernährungszustand durch häusliche parenterale Ernährung und von Patienten mit moderater/vermuteter bzw. schwerer Mangelernährung (modifiziert nach [13]) Springer Medizin Verlag GmbH × Die Effektivität einer alleinigen Ernährungsberatung belegte eine prospektive, randomisierte Studie mit 173 mCRC-Patienten mit normalem Ernährungsstatus [14]. Patienten, denen vor Beginn der Erstlinien-Chemotherapie sowie danach alle zwei Wochen eine Ernährungsberatung zuteil wurde, erlitten nach Angabe Cortesis signifikant seltener eine Toxizität ≥Grad 3 als Patienten ohne Ernährungsberatung (49,4% versus 67,0%; p=0,0037) [14]. Zudem manifestierte sich eine Toxizität ≥Grad 3 in dieser Gruppe mit deutlicher Verzögerung (nach median 359 Tagen versus 169 Tagen). Parenterale Ernährung von Tumorpatienten: Worauf kommt es an? Interview mit Dr. Daniel Plecity, Leitender Oberarzt, Medizinische Klinik I, Kreisklinik Ebersberg Alexander Zettl × Wann ist eine PE bei Tumorpatienten indiziert und wie sieht die Dosierung aus? Plecity: Kann ein onkologisch Erkrankter seinen Energie- und Nährstoffbedarf nicht mehr oder nicht mehr ausreichend auf oralem/enteralem Weg decken, ist eine (supplementierende) parenterale Ernährung (PE) indiziert. Die unnötige Verzögerung einer indizierten PE verschlechtert den Ernährungszustand des Patienten und sollte unbedingt vermieden werden. Die PE sollte so dosiert werden, dass sie die nutritive Versorgungslücke schließt. Cave: Bei länger bestehender Nahrungskarenz oder Mangelernährung sollte einschleichend mit max. 10 kcal/kg Körpergewicht (KG)/d begonnen werden, um ein Refeeding-Syndrom zu vermeiden. Die PE wird dann innerhalb einer Woche langsam gesteigert. Die PE kann täglich oder mehrmals die Woche supportiv gegeben werden. Welche Nährstoffe sollte die PE enthalten? Plecity: Sie sollte die drei Makronährstoffe (Glukose, Lipide und Aminosäuren) enthalten und immer mit Mikronährstoffen (Vitamine und Spurenelemente) ergänzt werden. Mikronährstoffe sind im Gegenteil zur enteralen Ernährung kein Bestandteil des industriell hergestellten Mehrkammerbeutels zur Infusion und müssen dem Infusionsbeutel täglich zugesetzt werden. Bei der Auswahl des passenden Mehrkammerbeutels zur parenteralen Ernährung sollte man sich a) an der täglich parenteral benötigten Kalorienmenge orientieren und b) eine für Tumorpatienten günstige Zusammensetzung der Makronährstoffe wählen. Hier eignen sich Beutel mit reduziertem Glukosegehalt und hohem Aminosäureanteil. Welches kalorische Ziel ist anzusetzen? Plecity: Für onkologische Patienten können 25–30 kcal/kg KG/d als kalorisches Ziel angesetzt werden (25 kcal/kg KG/d für einen bettlägerigen, 30 kcal/kg KG/d für einen mobilen Patienten). Für einen 70 kg schweren Patienten bedeutet das 1.750 kcal/d bzw. 2.100 kcal/d. Literatur Muscaritoli M et al., Oncotarget 2017, 8:79884–79896 Virizuela JA et al., Clin Transl Oncol 2018, 20:619–629 Hébuterne X et al., J Parenter Enteral Nutr 2014, 38:196 Prado CM et al., Curr Opin Clin Nutr Metab Care 2011, 14:250–254 Barrett M et al., Nutr Cancer 2014, 66:583–589 de las Penas R et al., Clin Transl Oncol 2019, 21:87–93 Meyerhardt J et al., Cancer Epidemiol Biomarkers 2017, 26:30–37 Renfro LA et al., J Clin Oncol 2016, 34:144–150 Chermesh I et al., Gastroenterol Res Pract 2011, 2011:842085 Rauh S et al., ESMO open 2018, 3:e000345 Arends J et al., Clin Nutr 2017, 36:1187–1196 Arends J et al., Aktuel Ernährungsmed 2015, 40:e1–e74 Cotogni P et al., BMC Cancer 2018, 18:990 Hébuterne X et al., Clin Nutr 2018, 37 (Suppl 1):S14 Impressum „Early and effective nutritional therapy in GI cancer patients: an opportunity to improve outcome“,Satellitensymposium anlässlich des 44. Kongresses der European Society for Medical Oncology (ESMO), Barcelona, Spanien, 29. September 2019 Berichterstattung: Dr. Günter Springer, Darmstadt Artikel gedruckt in Der Onkologe 12-2019 Mit freundlicher Unterstützung der Baxter Deutschland GmbH, Unterschleißheim Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Anne Kathrin Steeb Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature. 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