Obwohl die Auswirkungen von SoMe-Informationen auf das Gesundheits- und Konsumverhalten von Verbraucher*innen inzwischen sehr gut untersucht sind, fehlen spezifische Daten zu NEM-bezogenen SoMe-Inhalten weitestgehend. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass aus den wenigen publizierten Studienergebnissen und den allgemeinen Effekten von SoMe auf die Gesundheit und die Ernährung der Nutzer*innen gewisse Schlussfolgerungen gezogen werden können.
Bezüglich der Informationslandschaft zu NEM in SoMe sind zunächst 3 Aspekte von besonderem Interesse: die Relevanz von SoMe als Informationsquelle, die Akteur*innen, die entsprechende Inhalte verbreiten, sowie die jeweiligen Kommunikationsformen.
Systematische Untersuchungen zur Relevanz von SoMe für NEM-bezogene Informationen fehlen bislang; allerdings liefern einzelne Studien gewisse Anhaltspunkte. So konnte in einer US-amerikanischen Untersuchung gezeigt werden, dass sich über 80 % der Befragten vor der Einnahme von NEM im Internet informierten; 41 % der Befragten nutzten das Internet sogar als ausschließliche Informationsquelle [
30]. Herkömmliche Ansprechpersonen wie Apotheker*innen, Ernährungsfachkräfte oder Ärzt*innen wurden hingegen deutlich seltener konsultiert. Ähnliche Ergebnisse lieferte eine Studie aus dem Libanon: Unter 455 befragten Athlet*innen wurden Trainer*innen (74 %) am häufigsten als Informationsquelle zu NEM genannt, gefolgt von Online-Plattformen, inklusive SoMe (64 %) [
31]. Gesundheitsfachkräfte spielten hier ebenfalls nur eine nachrangige Rolle. Offen ist allerdings, inwieweit diese Studienergebnisse auf die Allgemeinbevölkerung übertragbar sind. In Bezug auf Informationen zu Ernährungsthemen wurde in einer Studie gezeigt, dass 72 % der 18- bis 49-Jährigen in Deutschland SoMe als eine Informationsquelle nutzen; allerdings wurde hierbei nicht spezifisch nach NEM gefragt [
32]. Dabei wurde YouTube als wichtigste Plattform für Ernährungsinformationen genannt (40 %), gefolgt von Facebook (21 %) und Instagram (20 %); Pinterest (9 %) und TikTok (4 %) lagen deutlich dahinter.
Ein wichtiger Aspekt in der Gesundheits- und Ernährungskommunikation in SoMe ist die Absenderqualifikation. Forschung zu diesem Thema zeigt, dass die Inhalte häufig nicht von qualifizierten Fachpersonen stammen [
19,
33]. Gleichzeitig bewerten Nutzer*innen SoMe-Informationen maßgeblich danach, wie ansprechend und nahbar die Inhalte aufbereitet sind [
32,
34]. Dies führt zu einer Verzerrung der Informationslandschaft, in der emotionale und visuell attraktive Inhalte bevorzugt werden – unabhängig von ihrer inhaltlichen Qualität [
3,
19,
33]. Im Vergleich zu fachlich nicht qualifizierten Influencer*innen sind Expert*innen mit formaler Qualifikation sowie offizielle Organisationen aus dem Bereich Ernährung und Gesundheit in den SoMe deutlich weniger präsent. Zwar ist die Mehrheit der öffentlichen Gesundheitsinstitutionen inzwischen aktiv auf verschiedenen SoMe-Plattformen vertreten [
38]; dabei entsprechen die am häufigsten genutzten Plattformen jedoch nicht unbedingt den bevorzugten Plattformen der Zielgruppen: Insbesondere TikTok ist hierbei stark unterrepräsentiert, obwohl dies die Plattform mit der größten Relevanz für junge Menschen ist [
35].
Daneben spielt die Art der Kommunikation eine entscheidende Rolle. Gesundheitsorganisationen kommunizieren in SoMe überwiegend sachlich und unpersönlich [
34,
36,
37], obwohl ein plattformgerechter Kommunikationsstil durch Emotionalität, Subjektivität und Interaktivität charakterisiert ist [
23]. Ein weiterer zentraler Unterschied liegt im Ziel und Geschäftsmodell der jeweiligen Akteur*innen: Während Gesundheitsorganisationen ihre SoMe-Kommunikation auf Public-Health-Aspekte ausrichten, verfolgen Influencer*innen ganz überwiegend kommerzielle Interessen [
3,
34,
37]. Die Informationsvermittlung wird dabei als Teil einer Marketingstrategie für Produkte genutzt, indem nicht der Hersteller selbst Werbeaussagen tätigt, sondern Influencer*innen im Rahmen von Kooperationen, die häufig nicht transparent gemacht werden. Das erschwert die Unterscheidung zwischen der von der Meinungsfreiheit gedeckten Fehlinformation und der ökonomisch motivierten Desinformation bzw. macht sie sogar unmöglich [
2,
38]. Das Ausmaß des kommerziellen Contents wird beispielsweise in einer Analyse von 1000 Instagram-Beiträgen deutschsprachiger Influencer*innen zu den Themen „dieting“ und „exercise“ verdeutlicht: In 71 % der Posts war mindestens eine Marke präsent [
3]; NEM stellten dabei mit 75 % den am häufigsten beworbenen Produktbereich dar. Auch in plattformübergreifenden Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass NEM-bezogene Inhalte im Vergleich zu anderen gesundheitsbezogenen Themenfeldern besonders häufig mit werblicher Kommunikation verknüpft sind [
4]. Eine aktuelle Untersuchung unter Jugendlichen ergab, dass mehr als die Hälfte der Befragten in den letzten 6 Monaten ein Produkt gekauft hat, das von einem Influencer oder einer Influencerin beworben wurde.
1
Inwieweit sich die verschiedenen SoMe-Plattformen hinsichtlich der auf ihnen geteilten NEM-bezogenen Informationen unterscheiden, ist nicht systematisch untersucht. In einem aktuellen Review wurden Instagram (50 %) und YouTube (39 %) als die am häufigsten genutzten Plattformen zur Verbreitung von ernährungsbezogenen Fehlinformationen identifiziert [
39]. Ob dies in vergleichbarer Weise für NEM-bezogene Fehl- und Desinformationen gilt, ist unklar.
Irreführende und intransparente Inhalte
Eine häufige Form NEM-bezogener Fehl- bzw. Desinformation besteht darin, dass wesentliche Angaben zu Inhaltsstoffen, Mengenangaben sowie erforderliche Warnhinweise fehlen [
2,
40]. In einer Analyse der meistgesehenen YouTube-Videos zu Multinährstoffpräparaten wurden in 84 % der Beiträge die potenziellen Risiken im Zusammenhang mit der Einnahme des jeweiligen Produkts nicht erwähnt [
41].
Zusätzlich problematisch ist die häufig unzureichende Kennzeichnung von Werbung durch Influencer*innen. In einer Analyse deutschsprachiger SoMe-Accounts waren nur 6 % der Beiträge als Werbung gekennzeichnet, obwohl in 62 % der Beiträge ein Produkt oder eine Marke explizit genannt wurden [
42]. Eine Analyse von TikTok-Videos zu Gewichtsverlust‑, Muskelaufbau- und sog. Detox-Präparaten zeigte, dass in 95 % der Fälle nicht offengelegt wurde, ob es sich um bezahlte Produktplatzierungen handelte [
1]. Dass eine transparente Werbekennzeichnung die Wirkung werblicher Inhalte deutlich abschwächen kann, konnte vielfach gezeigt werden [
43]. Zudem erhielten Beiträge mit Markenpräsenz, die nicht als Werbung gekennzeichnet waren, mehr Likes und Kommentare als entsprechend gekennzeichnete Beiträge [
1,
44]. Insgesamt verstärkt fehlende Werbekennzeichnung also die Wirkung und Glaubwürdigkeit ökonomisch motivierter NEM-Beiträge. Das ist insofern relevant, als bezahlte Beiträge oft deutlich häufiger positive Effekte von NEM betonen als unbezahlte [
38]. Außerdem enthalten Beiträge mit finanziellen Interessen im medizinischen Kontext seltener Hinweise auf mögliche Risiken der beworbenen Produkte [
33].
Häufig werden NEM in SoMe wissenschaftlich nicht belegte gesundheitsbezogene Effekte zugeschrieben [
1,
40]; dies betrifft unter anderem NEM mit vermeintlich „entgiftenden“, gewichtsreduzierenden und sog. „Beauty“-Wirkungen [
1,
2]. In einer Analyse von 187 Pinterest-Beiträgen mit Aussagen zur Prävention und Therapie von Brustkrebs enthielten 51 % Fehlinformationen, wovon sich 19 % auf NEM bezogen [
45]. In einer Untersuchung des Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts Stuttgart (CVUA) wurden 90 % der Werbeaussagen von Influencer*innen auf Instagram als unzulässig gemäß der europäischen Health-Claims-Verordnung (HCVO) eingestuft.
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Risiken von Fehl- und Desinformationen
Der Zusammenhang zwischen individuellem Wissen und der Anfälligkeit für Fehl- und Desinformation im Gesundheitskontext ist gut belegt. Im Zuge einer Untersuchung des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) konnte gezeigt werden, dass sich 35 % der Befragten „gar nicht“/„nicht gut“ über das gesundheitliche Risiko von vitaminhaltigen NEM informiert fühlen [
46]. Dabei fällt es Personen mit geringem wissenschaftlichen Grundwissen deutlich schwerer, wahre von falschen Informationen zu unterscheiden [
14,
47]. Dies führt zu einer problematischen Situation: Obwohl das Fachwissen über NEM in der Allgemeinbevölkerung sehr gering ist, überschätzen viele ihre eigene Kompetenz erheblich [
31,
48]. Diese Diskrepanz zeigt sich ebenfalls im Zusammenhang zwischen Wissensstand und Werbewirkung: Personen ohne medizinische Vorbildung glauben NEM-bezogene Werbeaussagen signifikant häufiger als medizinisch geschulte Befragte [
48]. Es ist daher davon auszugehen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung anfällig für NEM-bezogene Fehl- und Desinformationen in SoMe ist.
Auf diese Weise können SoMe-Inhalte dazu beitragen, ärztliche Empfehlungen zu relativieren: In einer Studie zu Akne-Patientinnen beispielsweise suchte ein Großteil der Befragten in SoMe nach Informationen und folgte den dort gegebenen Empfehlungen – einschließlich der Einnahme von NEM [
49]. Dabei veränderten 20,9 % eigenständig ihre ärztlich verordnete Behandlung auf Grundlage dieser SoMe-Inhalte. Ein weiteres Gesundheitsrisiko besteht darin, dass NEM, wie beispielsweise Kollagen, mit unbelegten Heilsversprechen beworben werden – etwa in Bezug auf Schlaf, Verdauung oder Herz-Kreislauf-Gesundheit – und dies zur Vernachlässigung bzw. zum Abbruch wirksamer medizinischer Therapien zugunsten unwirksamer NEM führen könnte [
38].
Neben den gesundheitlichen Risiken NEM-bezogener Fehl- und Desinformationen ergeben sich häufig auch ökonomische Nachteile für Konsument*innen, da Informationen zu NEM auf SoMe häufig in einen werblichen Kontext eingebettet sind [
3,
4]. Preisangaben zu den beworbenen NEM fehlen in aller Regel und der weitverbreitete Einsatz von Rabattcodes animiert gezielt zum Kauf [
40]. Eine diesbezüglich besonders vulnerable Zielgruppe des NEM-Marketings sind Menschen mit Krebserkrankungen, da die Prävalenz der NEM-Einnahme in dieser Personengruppe höher ist als in der Gesamtbevölkerung: Beispielsweise wurde gezeigt, dass fast die Hälfte aller onkologischen Patient*innen NEM einnehmen [
50,
51]. Die onkologische Diagnose führt an dieser Stelle zu einem deutlichen Anstieg der NEM-Einnahme: In einer aktuellen Befragung von 320 Brustkrebs-Patient*innen gaben 20,2 % der Befragten an, vor der Diagnose NEM eingenommen zu haben; nach der Diagnose waren es 64,4 % der Befragten [
52].