Belastende Symptome bei Krebspatienten zeitnah erfassen

Klinikärzte neigen offenbar dazu, die Symptome, unter denen Krebspatienten leiden, zu unterschätzen. Auf der ESMO-Tagung in München wurden neue elektronische Systeme vorgestellt, mit denen die Patienten ihre subjektiv belastenden Beschwerden selbst erfassen können. Das übergeordnete Ziel der Versorgung von Patienten mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung ist die bestmögliche Lebensqualität. Darüber, was Lebensqualität in dieser Situation ausmacht, gehen jedoch die Ansichten von Behandlern und Patienten teilweise erheblich auseinander. Wie Christina Ruhlmann, Odense, auf dem ESMO-Kongress berichtete, neigen Kliniker beispielsweise dazu, physische Symptome wie Übelkeit, Schmerzen oder Mundtrockenheit zu stark in den Vordergrund zu stellen. Für die Betroffenen selbst, so Ruhlmann, seien psychosoziale Beschwerden oft sogar relevanter: In einer gepoolten Analyse von 21 Studien mit über 4000 Krebspatienten unter aktiver Therapie stand bei den aus Patientensicht am stärksten belastenden Symptomen die Fatigue an erster Stelle, gefolgt von Schlafstörungen und Appetitmangel (Reilly CM. Support Cancer Care 2013;21(6):1525–50). In einer Studie mit NSCLC-Patienten konnte zudem gezeigt werden, dass die Patienten den Toxizitätsgrad einer zielgerichteten Therapie im Mittel deutlich höher einstuften als der Arzt (Novello S. Transl Lung Cancer Res 2014(3):120–121). „Wir Kliniker unterschätzen die Schwere der von den Patienten erlebten Symptome“, betonte Florian Strasser, Onkologe und Palliativmediziner am Kantonsspital St. Gallen. Da man als Arzt nicht in der Lage sei, sich ausreichend in den Patienten hineinzuversetzen, müsse man ihn befragen und dazu anleiten, seine Bedürfnisse auszudrücken. Die herkömmlichen Systeme zur Erfassung von Symptomen und Nebenwirkungen würden jedoch dem Patienten und seinen Wertvorstellungen zu wenig gerecht, monierte der Experte. Nebenwirkungen zeitnah erfassen Zu einer patientenzentrierten Versorgung gehört nach Ruhlmann, herauszufinden, mit welchen subjektiven Beschwerden der Patient aufgrund seiner Erkrankung oder aufgrund der Therapie von Tag zu Tag kämpft: „Wir müssen zeitnah erfassen, wann Nebenwirkungen auftreten, wie lange sie dauern und in welchen Phasen sie für den Patienten am schlimmsten sind.“ Vom National Cancer Institute (NCI) in den USA wurde ein Instrument entwickelt, das diesem Anspruch möglicherweise besser gerecht wird als die herkömmlichen PROMS (Patient Related Outcome Measures). Das PRO-CTCAE-System* wurde ursprünglich für klinische Studien konzipiert, lässt sich aber auch im klinischen Alltag anwenden. Es beruht auf einer Liste von 78 Nebenwirkungen, ist einerseits systematisch, andererseits aber auch flexibel, da es dem Patienten erlaubt, seine individuellen Symptome zu beschreiben. ePRO-Systeme können Überleben verlängern! Überraschenderweise scheinen die neuen elektronischen PRO-Systeme (ePRO) gerade auch von wenig computeraffinen Patienten gut angenommen zu werden, wie Ruhlmann berichtete. Die Praxistauglichkeit wurde erst kürzlich bei Patienten mit lokal fortgeschrittenem Rektumkarzinom bestätigt (Basch E et al. J Clin Oncol 2018; online 11. September). In einer Multicenter-Studie (457 Krebspatienten mit verschiedenen Diagnosen) hatte sich nach sechsmonatigem Einsatz die Lebensqualität der Teilnehmer signifikant verbessert, und auch die Rate der Einweisungen auf die Intensivstation konnte gesenkt werden (Basch et al. J Clin Oncol 2016). Dass sich mit dem elektronischen System sogar ein Überlebensvorteil erzielen lässt, ist aktuell eine besonders ermutigende Botschaft: In einer auf dem diesjährigen ASCO präsentierten Studie zeigte sich, dass Patienten mit Lungenkrebs, die ihre Symptome selbst wöchentlich per ePRO erfassten, im Mittel signifikant länger lebten als eine Vergleichsgruppe mit routinemäßiger CT-Kontrolle (Denis F et al. J Clin Oncol 2018; 36:Suppl;Abstract 6500). „Nutzen Sie die Intelligenz des Schwarms!“ Auf dem ESMO wurde aktuell ein computergestütztes Prognosemodell vorgestellt, das neben „harten“ Parametern wie Diagnosen, Laborwerten und therapeutischen Maßnahmen auch Notizen erfasst, die von sämtlichen an der Patientenversorgung Beteiligten – Ärzten, aber auch Klinikschwestern, Ernährungsspezialisten, Physiotherapeuten und Sozialarbeitern – festgehalten werden (Gensheimer et al. J Natl Cancer Inst 2019;111(6)). Insgesamt kam man damit auf rund 4000 Variablen. Die prädiktive Performance war überraschend gut: Der C-Index für Gesamtüberleben lag bei 0,786. Bei der Vorhersage des Nutzens einer palliativen Bestrahlung schnitt das System deutlich besser ab als ein etabliertes Modell. Wie Strasser betonte, könne es nur von Vorteil sein, auf eine solche „Schwarmintelligenz“ zurückzugreifen: „Nutzen Sie Ihr Team, nutzen Sie Ihre Aufzeichnungen, alles was Sie kriegen können!“ Um zu einer echten patientenzentrierten Entscheidung zu gelangen, sei nicht zuletzt auch ein gewisses Maß an Selbstreflexion erforderlich: „Bin ich mit ausreichend Verantwortungsbewusstsein dabei, sind ausreichend Experten involviert, habe ich finanzielle Interessen?“ basierend auf: Ruhlmann C. und Strasser F. ESMO 2018; München, 19. bis 23. Oktober 2018

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