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Erschienen in: Ethik in der Medizin 4/2014

01.12.2014 | Originalarbeit

Ethische Aspekte der aktuellen Rechtsprechung in der Substitutionsbehandlung

verfasst von: PD Dr. med. Annemarie Heberlein, M.A. „Medizinethik“

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 4/2014

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Zusammenfassung

Obwohl die Substitutionsbehandlung nachweislich den Gesundheitszustand opiatabhängiger Patienten verbessern und die Beschaffungskriminalität reduzieren kann, bestehen enge gesetzliche Regelungen, die die Therapiefreiheit der behandelnden Ärzte stark begrenzen: So werden durch das Betäubungsmittelgesetz und die zugehörigen Verordnungen nicht nur das Behandlungsziel (Abstinenz) sondern auch notwendige Therapiebausteine definiert, die darauf ausgerichtet sind, die Therapietreue des Patienten zu kontrollieren. Deutsche Ärzte, die die strengen Auflagen nicht strikt befolgten, wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Wie der Artikel zeigt, fördern die bestehenden Gesetze eine „kontrollierende“ statt einer motivierenden ärztlichen Behandlung, ohne wichtige Ziele, wie den Schutz der Allgemeinheit vor einer illegalen Verbreitung illegaler Opioide, vollständig zu erreichen. Zusammenfassend zeigt der Artikel, dass eine stärker am Wohl der Patienten ausgerichtete Substitutionsbehandlung (einschließlich notwendiger Kontrolluntersuchungen) mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Öffentlichkeit wirksamer vor den potenziellen Gefahren einer illegalen Verbreitung von gefährlichen Opioiden schützt als die Befolgung abstrakter, restriktiver gesetzlichen Normen.
Fußnoten
1
Das Wort „junkie“ leitet sich etymologisch von „junkmen“ ab, womit diejenigen Abhängigen in den USA charakterisiert wurden, die Anfang des letzten Jahrhunderts ihr Überleben durch Suche nach industriellen Kupfer-, Zink- und Bleiabfällen („junk“) sicherten ([3], S. 121).Hintergrund dieser typischen sozialen Verelendung opiatabhängiger Personen ist damals wie heute nicht zuletzt der hohe Schwarzmarktpreis für die illegal erworbenen Opiate.
 
2
Die geschichtlichen Hintergründe der gesetzlichen Regulation des Opiatverkehrs sind detailliert dargestellt bei [3].
 
3
Man kann insbesondere in Hinblick auf die weit weniger strenge gesetzliche Regulierung anderer gefährlicher psychotroper Substanzen wie z. B. Alkohol, der durch seine direkten toxischen Wirkungen zumindest vergleichbare wenn nicht höhere Risiken direkter und indirekter Schädigung für den Konsumenten und sein Umfeld birgt, mutmaßen, dass die restriktive Regulation des Opiatverkehrs primär der Verfolgung von politischen Zielen jenseits von staatlichen Schutzverpflichtungen dient(e) [3].
 
4
Briesen [3] stellt dar, dass neben rassistischen Motiven – Opiatkonsum wurde insbesondere den „unerwünschten“ chinesischen Einwanderern zugeschrieben, die Opiate in bestimmten Lokalitäten („Opiumhöhlen“) in Gruppen rauchten – auch progressive Motive – die Realisierung einer „weltanschaulich, politisch und religiös motivierten Reformbewegung […] zur grundlegenden Besserung der sozialen und gesundheitlichen Situation der Amerikaner“ ([3], S. 31) – zur Umsetzung der Prohibition von Opiaten beitrugen. Auch in Deutschland wurden opiatabhängige Patienten mit stereotypen Merkmalen belegt, die darauf abzielten, dass Opiatkonsum ausschließlich bei „abnorm veranlagten Menschen“ ([3], S. 73) zu Komplikationen führe.
 
5
„Das BtMG, das zunächst im Wesentlichen repressiven Charakter hatte, verfolgt inzwischen auch eine Vielzahl therapeutischer Anliegen“ ([9], S. 154).
 
6
S. § 1 der ärztlichen Berufsordnung.
 
7
Das Erreichen der Opiatabstinenz kann natürlich als auf das Patientenwohl ausgerichtetes Therapieziel verstanden werden: In Hinblick auf die hohen Rückfallquoten von opiatabhängigen Patienten nach zunächst erfolgreicher Opiatentzugsbehandlung ist die rechtliche Definition des therapeutischen Fernziels als Aufnahmebedingung in eine substitutionsgestützte Behandlung nicht durch das Patientenwohl zu begründen: Eine an dem Wohl des Patienten orientierte Behandlung müsste dementsprechend auch den phasenhaften Behandlungsverlauf der Substitutionsbehandlung berücksichtigen, der unter anderem in einer (individuell langen) Phase der Stabilisierung bestehen muss und erst im Anschluss das Ziel der Abstinenz verfolgen kann.
 
8
2 BvR 882/09 (23.03.2011).
 
9
BGH Urteil vom 4. Juni 2008, 2 StR 577/07 (PM 106/08).
 
10
Die Angabe der Urteilsbegründung dient allein der Illustration einer mitunter eintretenden Reduktion der Wahrnehmung der Gefahren einer Opiatintoxikation durch substituierende Ärzte. Das hier durch den BGH bestätigte Urteil, das die Fehleinschätzung des Arztes mit einer Gefängnisstrafe von 4 Jahren belegte, scheint nichtsdestotrotz aus der Sicht der Autorin unverhältnismäßig.
 
11
Entsprechende Forschungsergebnisse, die die hier vorgenommene Argumentation untermauern könnten, liegen nicht vor. Insofern illustriert die hier vorgenommene Argumentation hauptsächlich die fehlende wissenschaftliche Fundierung der aktuellen Rechtsnormen sowie die Notwendigkeit weiterführender Forschung zu den Möglichkeiten einer Substitutionsbehandlung, die nicht nur den betroffenen Patienten gerecht wird, sondern auch verhindert, dass nicht betroffene Personen gefährdet werden.
 
12
So sind beispielsweise bestimmte Mindestzeiten definiert, über die die Opiatabhängigkeit bereits bestehen muss, bevor eine Substitutionsbehandlung gesetzlich erlaubt ist: In der Regel sind dies 1–2 Jahre im Falle einer oralen Substitution, 5 Jahre im Falle einer Behandlung mit dem intravenös applizierten Diamorphin.
 
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Metadaten
Titel
Ethische Aspekte der aktuellen Rechtsprechung in der Substitutionsbehandlung
verfasst von
PD Dr. med. Annemarie Heberlein, M.A. „Medizinethik“
Publikationsdatum
01.12.2014
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 4/2014
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-013-0274-4

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