Die Muskeldystrophie Duchenne (DMD) ist die häufigste genetische neuromuskuläre Krankheit im Kindesalter. Sie ist durch eine zunehmende Verschlechterung motorischer Funktionen mit Verlust der Gehfähigkeit im Alter von 9 bis 11 Jahren gekennzeichnet. Der Verlust der Gehfähigkeit bedeutet für die Patienten und ihre Familien eine einschneidende Veränderung ihrer Lebenssituation. Insbesondere kommt es zu erheblichen Veränderungen des Spektrums der klinischen Problemfelder und neuen therapeutischen Herausforderungen.
Hintergrund
Die DMD ist eine X‑chromosomal rezessive Erkrankung, die überwiegend Jungen betrifft. Die Inzidenz beträgt schätzungsweise 1:3600 bis 1:6000 der männlichen Neugeborenen [
5]. Die Erkrankung wird durch Mutationen im Dystrophingen verursacht, die zu einem Mangel an funktionsfähigem Muskelstrukturprotein Dystrophin führen. Bei etwa 10–15 % der Patienten liegt der Erkrankung eine Nonsense-Mutation (nmDMD) zugrunde [
30]. Der Dystrophinmangel geht mit einem vorzeitigen Untergang von Muskelzellen, einer zunehmenden Muskelschwäche und der Ausbildung von Kontrakturen einher.
Zu einem Verlust der Gehfähigkeit mit Rollstuhlabhängigkeit kommt es im Durchschnitt im Alter von 9,5 Jahren [
15]. Gehverlust wird dabei in Studien sehr unterschiedlich definiert. Die Definitionen reichen von einer zeitweise oder dauerhaften Rollstuhlpflicht [
27,
31,
33,
36] bis zur Unfähigkeit der Patienten, selbstständig ohne Stützen oder Hilfsmittel zu gehen [
11]. Strengere Definitionen verwenden die maximal mögliche Gehstrecke als Kriterium für Nichtgehfähigkeit, beispielsweise weniger als 10 m oder 0 m innerhalb von 6 min [
28,
32]. Einer aktuellen, allerdings weniger akzeptierten Definition zufolge besteht Nichtgehfähigkeit, wenn Patienten mehr als 30 s benötigen, um ohne Hilfe eine Distanz von 10 m zu überwinden oder innerhalb von 6 min eine Gehstrecke von weniger als 300 m erreichen [
19].
Meilensteine der Krankheitsprogression bei nichtgehfähigen Patienten betreffen hauptsächlich die Funktion der oberen Extremitäten sowie die Lungen- und Herzfunktion [
2,
3,
14]. Instrumente für die Beurteilung der motorischen Funktionen der oberen Extremitäten sind u. a. der Performance of Upper Limb (PUL), der MyoGrip und MyoPinch [
32]. Daten bei Erwachsenen mit DMD liegen derzeit nicht vor. Für die Einschätzung der Lungenfunktion werden insbesondere die forcierte Vitalkapazität (FVC), aber auch der exspiratorische Spitzenfluss (PEF) herangezogen. Bei einer vorhergesagten FVC (FVC%p) <60 % ist die Indikation zur Atemtherapie gegeben, und bei einer FVC%p <50 % bzw. bei reduziertem Hustenstoß besteht in den meisten Fällen eine Indikation für atem- und hustenunterstützende Therapieformen sowie im Verlauf für eine nichtinvasive Beatmung [
3]. Respiratorische Komplikationen treten in späteren Krankheitsstadien umso später auf, je länger zuvor die Gehfähigkeit aufrechterhalten werden konnte [
18]. Wichtigste Parameter für die Beurteilung der Herzfunktion sind die echokardiographisch bestimmte linksventrikuläre Ejektionsfraktion (LVEF) und die Verkürzungsfraktion (SF). Eine überwachungspflichtige Kardiomyopathie im Rahmen einer DMD besteht bei einer LVEF <55 % oder einer SF <28 % sowie bei rascher Dynamik [
35]. In Ergänzung der Echokardiographie hilft die Kardio-MRT vor kreislaufbelastenden operativen Eingriffen, z. B. wirbelsäulenaufrichtenden Operationen, das Ausmaß der Myokardfibrose besser einzuschätzen.
Die Therapie sowohl gehfähiger als auch nichtgehfähiger Patienten mit DMD ist interdisziplinär ausgerichtet. Überwiegend wird dies in interdisziplinären Muskelzentren oder sozialpädiatrischen Zentren realisiert. Die Lotsenfunktion nimmt dabei die Neuropädiatrie, nach der Transitionsphase die Neurologie, bevorzugt im Rahmen neuromuskulärer Zentren ein (
https://www.dgm.org/medizin-forschung/neuromuskulaere-zentren-dgm). Ziele der interdisziplinären Therapie sind die Kontrolle oder Vermeidung sekundärer Komplikationen unter Einbeziehung der psychosozialen Situation. Weitere Therapieziele stellen die Verzögerung der Krankheitsprogression sowie eine Verbesserung der Lebenserwartung und Lebensqualität dar [
3]. Mit der Etablierung eines interdisziplinären Therapiekonzepts und Einführung von Therapieoptionen wie chirurgische Wirbelsäulenstabilisation, Beatmungsverfahren, Glukokortikoidtherapie und kardiologische Betreuung hat sich die Lebenserwartung von Patienten mit DMD von 20 bis 30 Jahren auf jetzt 40 bis 50 Jahre verbessert [
40].
Die vorliegenden Empfehlungen sind Teil eines von der Firma PTC Therapeutics GmbH (Frankfurt am Main, Deutschland), die die Substanz Ataluren vertreibt, unterstützten Meetings, ohne dass eine Einflussnahme der Firma auf die Diskussionen und Ergebnisse erfolgte. Teilnehmer waren Experten aus deutschsprachigen Ländern, die in größeren neuromuskulären Zentren tätig sind und über langjährige Erfahrung in der Betreuung einer größeren Zahl von Patienten mit DMD verfügen. Aufgrund der vielfältigen Forschungsansätze auf dem Gebiet der neuromuskulären Erkrankungen und der DMD im Besonderen erfolgte die Literaturrecherche als Scoping-Review. Die Empfehlungen wurden einstimmig verabschiedet. Bedingt durch die Tatsache, dass sich einige der diskutierten Therapieoptionen noch in der Phase der klinischen Prüfung befinden oder noch keine oder nur begrenzte Daten für ältere Patienten mit DMD vorliegen, handelt es sich um Expertenempfehlungen entsprechend der Evidenzklasse IV.
Supportive Therapiemaßnahmen
Supportive und symptomatische Maßnahmen stellen in jedem Krankheitsstadium die Grundlage der Behandlung von DMD-Patienten dar und umfassen nichtmedikamentöse, medikamentöse und chirurgische Verfahren. Detaillierte, an die jeweilige Krankheitsphase adaptierte Empfehlungen sprechen die 2018 veröffentlichten Leitlinien von Birnkrant et al. zur Diagnose und Therapie der DMD aus [
2,
3]. Diese werden nachfolgend im Hinblick auf nichtgehfähige Patienten zusammenfassend skizziert.
Nichtmedikamentöse und chirurgische Therapien
Physiotherapie, zunehmend bezogen auf die obere Extremität und die Wirbelsäule, sowie Hilfsmittel wie Lagerungsschienen und Orthesen dienen auch nach Verlust der Gehfähigkeit der Vorbeugung zusätzlicher Funktionseinschränkungen durch Kontrakturen und Gelenkfehlstellungen. Insbesondere sollte auf eine Kontrakturprophylaxe mit physiotherapeutischen Maßnahmen Wert gelegt werden. Positiv auf die Prävention einer Skoliose wirkt sich aus, wenn Patienten regelmäßig, unterstützt durch Orthesen, Stehständer oder Rollstühle mit Aufstehhilfe zum Stehen angehalten werden; dies ist auch im Rahmen eines ganzheitlichen Schmerzmanagements ein wichtiger Baustein der Therapie. Wichtig ist die Frakturprävention und ggf. medikamentöse Osteoporosetherapie mit Kalzium, Vitamin D und ggf. Bisphosphonaten sowie eine regelmäßige DEXA-Kontrolle zur Graduierung einer Osteoporose. Auch kommen Weichteil- bzw. knöcherne Operationen im Bereich der unteren Extremitäten oder der Wirbelsäule bzw. Verlängerungsoperationen wie z. B. „Release“-Operationen von sekundär verkürzten Muskelgruppen in Betracht. Bei nicht mehr gehfähigen Patienten treten im Krankheitsverlauf zunehmend respiratorische und kardiale Komplikationen in den Vordergrund. Impfungen zur Pneumonieprophylaxe und Atemtherapie werden als sinnvoll erachtet [
2]. Außerdem ist die Indikation zur Lungenvolumenrekrutierung sowie für atem- und hustenunterstützende Maßnahmen bis hin zur nichtinvasiven oder invasiven Beatmung frühzeitig zu prüfen. Bei ersten Hinweisen für eine Herzinsuffizienz ist eine pharmakologische Therapie, insbesondere die frühzeitige Gabe eines ACE-Hemmers indiziert.
Bei Übergewicht als Folge von Bewegungsmangel oder Steroidtherapie ist eine frühzeitige Ernährungsberatung angezeigt. Bei Untergewicht in Folge einer respiratorischen Verschlechterung oder aufgrund erschwerter Nahrungsaufnahme durch Dysphagie mit der Gefahr von Malnutrition sollte die Anlage einer PEG-Sonde in Erwägung gezogen werden, bei Osteoporose ggf. die Gabe von Kalzium und Substitution mit Vitamin D. Bei durch die Langzeitsteroidtherapie verursachtem Kleinwuchs kann in Einzelfällen eine Wachstumshormontherapie in Erwägung gezogen werden [
5]. Bei Hypogonadismus sollte die Behandlung mit männlichem Sexualhormon gemeinsam mit den pädiatrischen Endokrinologen diskutiert werden, eine Substitution mit Testosteron kann hier hilfreich sein.
Zur Unterstützung psychischer und psychosozialer Belastungen und Beeinträchtigungen kommen psychotherapeutische Verfahren, ggf. auch eine medikamentöse Therapie infrage. Mit interdisziplinären Strukturen sollten soziale Interventionen einschließlich Bildungsmaßnahmen und Förderung des Schulbesuchs im Bedarfsfall angeregt werden. Die psychosoziale Unterstützung sollte die Familie des Patienten ebenfalls mit einbeziehen.
Konsensus
Supportive und symptomatische Maßnahmen stellen die Grundlage der Therapie von Patienten mit DMD in jedem Krankheitsstadium dar. Therapiemaßnahmen wie z. B. Physiotherapie sollten nach Verlust der Gehfähigkeit weitergeführt werden. Bei nichtgehfähigen Patienten tritt zunehmend die Therapie respiratorischer und kardialer Komplikationen in den Vordergrund [
15].
Ein besonderes Augenmerk sollte der psychischen und psychosozialen Situation der Patienten und ihrer Familien gelten.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
G. Bernert, A. Hahn, C. Köhler, S. Meyer, U. Schara, K. Schlachter, R. Trollmann und M. C. Walter: Teilnahme an einem AdBoard Meeting der Fa. PTC Therapeutics. G. Bernert: Beratertätigkeit, Honorare für Vorträge und Teilnahme an AdBoard Meetings PTC, Santhera, Biogen und Roche. T. Hagenacker: Beratertätigkeit und Teilnahme an ad hoc AdBoards für die Firmen Biogen, Sanofi-Aventis, PTC, Roche, Pharnext, Alexion. A. Hahn: Honorare für Vorträge und Teilnahme an AdBoard Meetings der Firmen PTC, Sarepta und Santhera. C. Köhler: Beratertätigkeit, Vorträge und Teilnahme an ad hoc AdBoards für die Firmen Avexis, Biogen, PTC, Sarepta. S. Meyer: Honorare für Vorträge und Teilnahme an AdBoard Meetings der Firmen PTC, Biogen, Shire und Novartis. U. Schara: Beratertätigkeit, Vorträge und Teilnahme an ad hoc AdBoards für die Firmen Avexis, Biogen, PTC, Roche, Santhera, Sarepta. K. Schlachter: Beratertätigkeit und Teilnahme an ad hoc AdBoards für Allergan, Avexis, Biogen, Eisai, IPSEN, PTC, Sanofi, Shire, UCB. Regina Trollmann: Teilnahme an ad hoc AdBoards für die Firmen Biogen, PTC, Roche. M. C. Walter: Beratertätigkeit, Vorträge und Teilnahme an ad hoc AdBoards für die Firmen Avexis, Biogen, Novartis, Pharnext, Pfizer, PTC, Roche, Santhera, Sarepta.
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