Ein 41-jähriger Patient stellte sich in unserer Notfallambulanz vor. Er berichtete über eine beidseitige schmerzlose Visusminderung, welche 1 bis 2 Wochen zuvor zum ersten Mal schleichend aufgetreten sei. Kopfschmerzen oder anderweitige Beschwerden bestünden nicht. Neben einer Adipositas wurden Allgemeinerkrankungen verneint. Im Rahmen einer intensiven Gewichtsreduktion innerhalb der vergangenen 2 Monate habe der Patient seine Ernährung auf proteinreiche Kost umgestellt und unterschiedliche Kombinationspräparate an Nahrungsergänzungsmitteln eingenommen.
Befund
Bei Erstvorstellung zeigte sich ein bestkorrigierter Visus von rechts 0,32 und links 0,25. Die vorderen Augenabschnitte stellten sich regelrecht dar. Der Glaskörper war zellfrei. Funduskopisch zeigten sich dezent aufgelockerte Makulastrukturen beidseits. Darüber hinaus war der Fundusbefund unauffällig. In der optischen Kohärenztomographie (SD-OCT) zeigte sich beidseits ein zystoides Makulaödem, ohne Hinweise für ein Leckagephänomen in der Fluoreszeinangiographie (Abb. 1).
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Therapie und Verlauf
Sowohl eine laborchemische Abklärung als auch weiterführende interdisziplinäre Untersuchungen ergaben keine wegweisenden Befunde. Nach gezielterer Anamnese berichtete der Patient, seit 8 Wochen täglich 12 Tabletten 3 verschiedener Nahrungsergänzungspräparate, unter anderem mit dem Inhaltsstoff Niacin (6,6 mg/Tag), einzunehmen. Darüber hinaus enthielten die Präparate mehr als 50 weitere Vitamine, Spurenelemente und Pflanzenbestandteile. Nach Literaturrecherche ist keiner der weiteren Bestandteile – auch bei hoch dosierter Einnahme – als Auslöser eines Makulaödems beschrieben worden. In Gesamtschau der morphologischen Befunde und Ausschluss von Differenzialdiagnosen ist die Diagnose einer Niacin-assoziierten Makulopathie am wahrscheinlichsten anzusehen.
Nach entsprechender Karenz entwickelte sich innerhalb der folgenden 13 Monate eine Regression des Makulaödems (Abb. 2a–j) und ein Visusanstieg rechts auf 1,0 und links 0,5.
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Diskussion
Niacin ist ein Vitamin aus der Gruppe der B‑Vitamine und Bestandteil wichtiger Koenzyme für Reaktionen in allen Körperzellen. Die Stoffe Nicotinsäure und Nicotinamid werden unter der Bezeichnung Niacin zusammengefasst und können vom Organismus ineinander umgewandelt werden. Neben der Zufuhr aus der Nahrung findet auch eine körpereigene Biosynthese aus der essenziellen Aminosäure Tryptophan statt [1]. Die Zufuhrempfehlung aus der Nahrung für Erwachsene liegt bei 15 mg Äquivalenten/Tag für Männer und 12 mg Äquivalenten/Tag für Frauen. Nach Ergebnissen der Nationalen Verzehrsstudie II liegt die mittlere Zufuhr von Niacin-Äquivalenten in Deutschland bei allen Altersgruppen bereits deutlich über der empfohlenen Zufuhr (Männer: 34 mg/Tag; Frauen: 25 mg/Tag) [2]. Bei den hierzulande üblichen Verzehrgewohnheiten sind Fleisch, Kaffee und Brot Hauptlieferanten für Niacin. Zu den Nebenwirkungen zählt das Auftreten einer Gefäßerweiterung mit Flush-Symptomatik (lokale Hautrötungen, Hitzegefühl, Hautjucken). Höher dosiert (> 500 mg/Tag) kann Niacin gastrointestinale Störungen bis hin zum Leberversagen verursachen [1, 7]. Gass beschrieb erstmals die seltene Nebenwirkung einer Niacin-assoziierten Makulopathie bei Patienten, die im Rahmen einer Hyperlipidämietherapie Niacin-Mengen > 1,5 g/Tag einnahmen [10]. Dabei umfassen die bildgebenden Charakteristika zahlreiche zentrale zystoide Einschlüsse in der äußeren und inneren Körnerschicht [4]. Zusätzlich beschrieben Cai et al. [3] multifokale Disruptionen der ellipsoiden Bande, welche auch nach Regredienz des Makulaödems persistieren können. Teilweise entwickeln sich diese Veränderungen erst im zeitlichen Verlauf, was auf eine verlängerte Toxizität des Niacins auch nach Karenz hindeuten könnte. Die Fluoreszeinangiographie zeigt in der Regel keinen Hinweis für Leckage. Elektrophysiologische Phänomene wurden von Lee et al. mit einer Reduktion der b‑Welle charakterisiert und könnten Ausdruck einer Dysfunktion der Müller-Zellen sein, welche sich bei Befundbesserung erholt [11].
Als wahrscheinlichster Pathomechanismus wird eine direkte toxische Wirkung des Niacins auf die Müller-Zellen vermutet. Eine Veränderung im Zellstoffwechsel führt zu intra- und extrazellulärer Flüssigkeitsakkumulation in den Gliazwischenräumen. Nach Absetzen der Niacin-Therapie folgt eine Regeneration der Müller-Zellen mit Regression des Makulaödems [5].
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In den meisten Fällen war die Makulopathie assoziiert mit einer Dosierung von 1,5–3 g Niacin-Äquivalenten/Tag, jedoch wurde auch ein Fall mit niedrigerer Dosis (18 mg) beschrieben [5]. Freisberg et al. postulierten ein Schwellenwertmodell, wonach sich nach Überschreiten des Schwellenwertes das klinische Bild der Niacin-assoziierten Makulopathie manifestiere. Das Modell stützt sich auf Beobachtungen, dass neben einer langfristig hoch dosierten Niacin-Behandlung auch eine kurzzeitige Dosissteigerung Auslöser der Erkrankung sein kann. Umgekehrt kann neben einer vollständigen Karenz auch eine entsprechende Dosisreduktion mit einer Befundbesserung einhergehen. Ein absoluter Schwellenwert oder eine kumulativ toxische Dosis konnte bisher nicht ermittelt werden [9].
Nach Absetzen der Niacin-Einnahme kann eine Befundbesserung innerhalb von Tagen bis mehreren Monaten eintreten [6, 8, 10]. In unserem Fall zeigte sich erst im Verlauf von 13 Monaten eine Befundbesserung mit persistierenden fokalen Unterbrechungen in der ellipsoiden Bande (Abb. 2e).
Fazit für die Praxis
Eine Niacin-assoziierte Makulopathie ist eine seltene bilaterale Erkrankung mit Makulaödem und ohne Leckage in der Fluoreszeinangiographie.
Die Veränderungen sind nach Niacin-Karenz größtenteils reversibel.
Eine direkte toxische Wirkung des Niacins wird als Pathogenese vermutet, eine Dosis-Wirkungs-Beziehung mit Schwellenwert wird diskutiert.
Der Augenarzt sollte Kenntnis über diese Erkrankung haben und in Verdachtsfällen eine gezielte Substanzanamnese durchführen.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
F.E. Vietmeier, C. Weich, N. Eter und C.R. Clemens geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
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