Einleitung
Feminismus wird im gesellschaftlichen Diskurs oft als eine einheitliche Bewegung zur „Emanzipation der Frau“ verstanden. Dieses Verständnis greift allerdings zu kurz, da es bereits früh verschiedene Ausdifferenzierungen gab. In wissenschaftlichen Publikationen lassen sich beispielsweise
Differenzfeminismus, dekonstruktivistischer Feminismus, Queer-Feminismus, Ökofeminismus, materialistischer Feminismus, intersektionaler Feminismus, Schwarzer Feminismus und
liberaler Feminismus differenzieren. Angesichts dieser multiplen feministischen Strömungen, die eine Bezeichnung als „Feminismen“ angemessener erscheinen lässt (Pöge et al.
2014), ist die Angabe einer übergeordneten Definition ein anspruchsvolles Unterfangen. In einer ersten Annäherung verstehen wir Feminismus als eine Bewegung, die die Überwindung ungleicher Verhältnisse anstrebt, die aufgrund von vergeschlechtlichenden patriarchalen, cis-heteronormativen und sexistischen Strukturen entstehen (Grabow
2021). Hierbei berücksichtigen wir, dass diese Strukturen ihre Wirkmacht nicht isoliert entfalten, sondern konstitutiv mit weiteren Unterdrückungsstrukturen, wie rassistischen oder klassistischen Strukturen, verwoben sind (Haslanger
2020).
Als Querschnittsforschung diverser geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen hat feministische Forschung gezeigt, dass vergeschlechtlichte soziale Normen Menschen benachteiligen. Darüber hinaus hat feministische Forschung entscheidend dazu beigetragen, die Rechtfertigungssysteme ungerechter gesellschaftlicher Praktiken grundlegend zu hinterfragen, indem sie Hintergrundannahmen dekonstruiert hat. So zeigte post-strukturalistisch orientierte und queer-feministische Forschung, dass viele der gegenderten sozialen Normen auf einem wissenschaftlich nicht haltbaren Geschlechter-Binarismus sowie einer homogenisierten Vorstellung der Kategorie „Frau“ beruhen, die Menschen marginalisieren, die sich nicht innerhalb der binären Kategorien „Mann“ und „Frau“ definieren (Butler
2011). Intersektionale Forschung zeigte, dass soziale Gendernormen zudem mit anderen sozialen Kategorien, wie
Race oder Klasse überschnitten (Intersektionen) sind, die ebenfalls mit Marginalisierungen einhergehen können (z. B. Crenshaw
1989). Feministische Forschung bietet somit Analyse-Instrumente, die einer Medizinethik, die soziale Normen und Praktiken kritisch hinterfragt, dienen können.
Die Medizinethik bezieht ihre Reflexionen vornehmlich auf die Medizin und Gesundheitssysteme, also auf Disziplinen bzw. Praxen, die immer noch stark von patriarchalen und cis-heteronormativen Strukturen geprägt sind. Frauen*
1 sowie non-binäre, trans* und inter* Personen erfahren in der Medizin und in Gesundheitssystemen Benachteiligungen. Ein Beispiel ist das Yentl-Syndrom, das Phänomen, dass Frauen* Fehldiagnosen und -behandlungen erhalten, wenn ihre Symptome oder Erkrankungen nicht denen der Männer entsprechen (Merz
2011). Ein weiteres Beispiel ist die generell schlechtere gesundheitliche Situation und Versorgung von Schwarzen
2 Frauen*, etwa mit Blick auf Herzerkrankungen (American Heart Association
2019), oder von non-binären, trans* und inter* Personen im Rahmen der Covid-19-Pandemie (Wang et al.
2020). Eine explizit feministische Perspektive scheint umso relevanter, da aktuelle technologische und digitale Entwicklungen in der Medizin, etwa auf selbstlernende Algorithmen gestützte Systeme, oft auf genderbasierten Datenlücken aufbauen. Diese bringen das Risiko mit sich, diese Lücken und somit Diskriminierungen zu perpetuieren (Cirillo et al.
2020). Es bleibt also weiterhin wichtig, auf diese ungerechten Strukturen aus der Perspektive von Frauen* hinzuweisen. Aus diesem Grund halten wir eine explizit feministische Perspektive auf medizinethische Themen für notwendig und angemessen.
Wie andere wissenschaftliche Disziplinen verfügt die Medizinethik über einen differenzierten Diskurs, der neben Fachtagungen und Konferenzen vorrangig in deutsch- und englischsprachigen Fachzeitschriften, wie Ethik in der Medizin oder Bioethics, geführt wird. Dieser Diskurs ist zentral für die Weiterentwicklung medizinethischen Wissens und medizinethischer Theorien, da hier wichtige innerdisziplinäre Fachdebatten geführt werden. Dabei geht es sowohl um aktuelle Fragestellungen rund um technologische oder politische Entwicklungen wie auch um theoretisch-begriffliche Ausdifferenzierungen und Klärungen, die für die Qualität medizinethischer Theoriebildung zentral sind. Welche Positionen innerhalb dieses medizinethischen Diskurses vertreten sind, hat damit einen großen Einfluss auf die inhaltliche, theoretische und methodologische Weiterentwicklung des Faches.
Aufgrund der disziplinären Sichtbarkeit von Positionen ist relevant, welche Debatten in welchen Kontexten geführt werden. Im deutschsprachigen Raum werden unterschiedliche feministische Debatten geführt, die auch für die Medizinethik von Relevanz sein können, z. B. im Bereich des Post- und Transhumanismus (Loh
2019), der feministischen Wissenschafts- und Technikforschung (Ernst
2013) oder der feministischen Pflegeethik (Kohlen und McCarthy
2020). Dabei ist auffallend, dass diese explizit feministischen Debatten vorranging in Fachzeitschriften für feministische Philosophie oder in Gender-wissenschaftlichen Zeitschriften geführt werden und in den medizinethischen Fachzeitschriften weniger präsent sind. Die Gründe für das scheinbare Ausweichen feministisch-medizinethischer Forschung auf Publikationsmedien außerhalb der Medizinethik mögen vielfältig sein und könnten sowohl in den Entscheidungen der Autor*innen als auch in denen der Editor*innen liegen. Gleichwohl scheint uns, dass durch eine mögliche Marginalisierung des feministischen Diskurses innerhalb der Medizinethik eine kritische Auseinandersetzung mit feministischen Perspektiven auf medizinethische Fragestellungen erschwert sein könnte. Daraus ergibt sich die Forschungsfrage, welche feministischen Perspektiven auf medizinethische Themen
innerhalb des deutschsprachigen medizinethischen Diskurses vertreten sind. Diese diskutieren wir im ersten Teil des Artikels durch die Vorstellung einer systematisierten Literaturrecherche, in der wir uns explizit auf medizinethische Fachpublikationen beschränken, um eine mögliche Marginalisierung feministischer Diskurse in diesen Medien zu untersuchen. Im zweiten Teil des Artikels lösen wir uns von der empirischen Analyse des aktuellen Forschungsstandes und wenden uns Perspektiven zu, mit denen eine feministische Medizinethik weiterentwickelt werden kann. Basierend auf eigenen Vorarbeiten, der Literaturrecherche sowie der Arbeit innerhalb der Arbeitsgruppe in der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) „Feministische Perspektiven in der Bio- und Medizinethik“ (FME) stellen wir drei Thesen vor, die einer Weiterentwicklung des medizinethischen Diskurses im deutschsprachigen Raum dienen können. Dabei erörtern wir die Relevanz der feministischen Themen der 1) epistemischen Gerechtigkeit, 2) Kontext-Sensitivität und 3) Intersektionalität für den medizinethischen Diskurs. Wir schließen mit Implikationen für den allgemeinen medizinethischen Diskurs sowie einem Ausblick auf die Arbeit der AG FME.
Fazit: Feministische Perspektiven als grundlegende Bausteine einer Medizinethik
Da feministische Blickwinkel zentrale Dimensionen wie epistemisch gerechtes, kritisches, kontext-sensibles, intersektionales und postkoloniales Denken zusammenbringen, können wir abschließend zusammenfassen, dass feministische Perspektiven in der Medizinethik grundständig sein sollten. Wenn das Nichtbeachten bestimmter Dimensionen zu unvollständigen oder verzerrten Analysen führen kann, wie wir z. B. in der dritten These aufgezeigt haben, folgt, dass feministische Perspektiven von grundlegender Bedeutung sind. Aufgrund dieses grundlegenden Charakters sind feministische Perspektiven nicht nur eine beliebige Erweiterung, sondern bilden einen zentralen Baustein im Fundament medizinethischer Überlegungen.
Eine feministische Medizinethik erlaubt, eine kritische Perspektive auf gesellschaftliche Zusammenhänge und strukturelle Faktoren einzunehmen. Der Blick wird nicht (nur) auf die individuelle Ebene oder auf spezifische Themen gerichtet, sondern auf zugrunde liegende Strukturen – somit ist eine feministische Perspektive für alle medizinethischen Themen relevant. Es ist daher nicht ausreichend, wenn sich allein eine kleine Gruppe damit beschäftigt oder feministische Perspektiven nur am Rande thematisiert werden, wie es derzeit in den deutschsprachigen Medizinethik-Debatten der Fall ist.
Eine feministische Medizinethik betrachtet bestehende Strukturen kritisch und hinterfragt somit die vorherrschenden medizinethischen Theorien und Modelle. Indem sie das theoretische Gerüst für medizinethische Analysen (z. B. prinzipienorientierte Medizinethik, Utilitarismus) sowie deren Kontext (z. B. die privilegierte Situation einer weißen akademischen Medizinethik; gender-spezifische Ungleichheiten in der Forschung) hinterfragt und die Aufmerksamkeit auf neue Themen lenkt (z. B. Bedürfnisse marginalisierter Gruppen), nutzt und entwickelt sie zeitgemäße theoretische und analytische Frameworks (z. B. Relationale Autonomie; Intersektionalität).
Gleichzeitig bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit feministischer Medizinethik, verbirgt sich doch hinter diesem Label ein sehr heterogenes Feld, welches in den deutschsprachigen Medizinethik-Debatten noch nicht sichtbar genug ist. Weitere Forschung, interdisziplinärer Austausch sowie eine Auseinandersetzung mit feministischen Positionen innerhalb des medizinethischen Diskurses und permanente Kritik sind auch künftig wichtig, um den Diskurs um eine feministische Medizinethik weiter voranzubringen und für die Medizinethik fruchtbar zu machen.
Die Arbeit der Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik“ in der AEM
Für diesen Austausch möchte die Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik“, die Anfang 2021 unter dem Dach der AEM von uns Autorinnen gegründet wurde, eine Plattform anbieten. Die Arbeitsgruppe soll die Möglichkeit bieten, gemeinsam feministische Perspektiven in der Medizinethik im deutschsprachigen Raum zu thematisieren, zu kritisieren, weiterzuentwickeln und systematisch zu verankern. Ging es beim Auftakttreffen der Arbeitsgruppe vor allem um die Fragen, was unter einer feministischen Medizinethik verstanden werden kann, welche Ziele und was mögliche Zusammenarbeiten einer solchen Arbeitsgruppe sein könnten (Hädicke
2021), wurden die Themen und Ziele der Gruppe bereits auf weiteren Treffen konkretisiert. Die Arbeitsgruppe plant, sich regelmäßig dreimal im Jahr zu treffen. Alle Interessierten sind herzlich willkommen!
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