Der Prozess der Entscheidungsfindung zum FVET
Für einen FVET muss die Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit der Person vollumfänglich gewährleistet sein. Die Entscheidungsfindung zum FVET findet dann vereinfacht in zwei voneinander abgrenzbaren Situationen statt.
a)
Am Ende einer lebensbedrohenden Erkrankung
Eine typische Entscheidungssituation von Patienten zum FVET ist das Spätstadium einer unheilbaren Krankheit – insbesondere onkologischer oder degenerativer Natur. Die Patienten sehen sich an einem Punkt, wo keine reale Hoffnung auf Heilung mehr besteht und die Lebensqualität von der Erkrankung zunehmend eingeschränkt wird: „Und wo wir dann einen Arzt gefunden hatten, wo dann eine Methode angeschlagen hatte, war sie schon so schwach, war der Körper schon so kaputt, dass sie irgendwann mal zu mir gesagt hat: ‚[Name des Ehemanns], ich will nicht mehr. Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll und das macht in diesem Leben einfach keinen Sinn mehr in diesem Körper‘. Und da hat sie einfach gesagt: ‚Das Sinnvollste ist einfach nichts mehr zu essen und zu trinken.‘“ (OJ) Die Fülle von Symptomen – gerade bei onkologischen Patienten – wird als körperlich und psychisch schwer belastend erlebt und motiviert oft die Entscheidung. Bei neuro-degenerativen Erkrankungen betonen Angehörige zudem das nahende Lebensende und das Erleben des Fortschreitens der Erkrankung. In solchen als ausweglos erlebten Lagen ziehen Angehörige, aber auch Ärzte, nicht selten eine Parallele zu Situationen, für die der Gesetzgeber in der Schweiz den medizinisch assistierten Suizid zulässt (vgl. Art. 115 Schweizerisches Strafgesetzbuch StGB, Art. 27d Loi de la Santé Publique, Vaud): „Und dann war es klar, er muss operiert werden, um diese Schmerzen da, diese Metastasen in der Wirbelsäule wegzukriegen. [Aber dann war] die Querschnittslähmung da. Und das war für ihn der Punkt, dass er mich aus dem Krankenhaus angerufen hat und gesagt hat: ‚Fahr mich nach Zürich!‘ […] Und dann kam die Frau Dr. [Palliativmedizinerin] von der Palliativstation und hat ihm die Hoffnung gemacht: ‚Eh, Sie müssen nicht nach Zürich fahren, es gibt auch hier in Deutschland die Möglichkeit [erg. des FVET].‘ Und dann ist er echt wieder aufgeblüht, weil er die Chance gesehen hat – wunderbar – hat sich das genau beschreiben lassen. Sterbefasten kannte er vorher nicht, ich auch nicht.“ (XM).
Bei schwer erkrankten Patienten verliert Essen häufig an Bedeutung, so dass ein fließender Übergang zwischen dem FVET und dem Verlauf der Krankheit möglich ist: „Also er hat auch aufgehört mit dem Essen, weil es ihm auch kaum mehr geschmeckt hat. […] Und hat gesagt: ‚Na dann lassen wir das doch.‘ Gut. Und dann hat er getrunken, das hat er noch, aber viel zu wenig.“ (FZ) Der Entschluss zum FVET fällt oft in diesem unscharfen Übergang: „Es hat ihr nichts mehr geschmeckt zum einen – sie hat es auch nicht mehr gut vertragen – aber ihre Grundmeinung war einfach: Ich höre das einfach auf, dann kann ich in Ruhe sterben und dann geht es auch schneller.“ (SR).
Der FVET wird von diesen Patienten und Angehörigen zum Ende des Krankheitsweges – also nach Abwägung und meist nach Ausschöpfung aller kurativen Versuche – dann als eine letzte Option gesehen. „Aber wir haben bis zum letzten Moment auch die Therapiemöglichkeiten in Erwägung gezogen und uns das sehr genau angeguckt. Aber da war einfach nichts mehr dabei, was ihm hätte helfen können.“ (FZ) Die Entscheidung zum FVET wird bei dieser Gruppe letztlich wenig oder gar nicht von einem akuten Sterbewunsch motiviert, sondern vom Wunsch, ihr absehbares Sterben durch FVET beeinflussen zu können – und besonders zu Hause zu sterben. „Ja […], weil wir überlegt hatten, wie es für ihn am ‚schönsten‘ am normalsten sein könnte. Und zu Hause ist normal. […] In [der Uniklinik] war er gut betreut, das ist es nicht, aber es ist ein Krankenhaus und er wollte immer nach Hause.“ (FZ).
Zusammenfassend wählt diese erste Gruppe von Personen den FVET also als eine „letzte Option“ am Ende eines langen, medizinisch begleiteten Wegs. Der Übergang von den Symptomen der Erkrankung zum FVET kann dabei fließend sein. Die Patienten sehen den FVET vor allem als Chance, weiteres Leid zu vermeiden oder zu verkürzen, das Sterben zu beschleunigen sowie auf den Sterbeort und die Umstände Einfluss nehmen zu können.
b)
Höherer Sterbe- als Behandlungswunsch: FVET als Freitod
Die zweite Gruppe von Personen entscheidet sich zum FVET nicht auf Grund palliativer Überlegungen und in Absehbarkeit des Lebensendes, sondern aus dem primären Wunsch heraus, nicht mehr weiterleben zu wollen. Dieser Sterbewunsch wird oftmals mit schwindender Lebensqualität durch eine chronische Erkrankung oder hohes Alter begründet und besteht meist schon für mindestens einige Monate. Den Auslöser für die Entscheidung zum FVET kann dann eine Verschlechterung im Rahmen einer chronischen Erkrankung oder ein Klinikaufenthalt darstellen: „Mobilität und überhaupt Aktivität [war] für ihn lebensnotwendig. […] Und dann aber hatte er [..] einen Ermüdungsbruch in der Wirbelsäule. […] Aber da hat ihm die Dr. [Palliativmedizinerin] dann auch gesagt: ‚Ich kann Sie schmerzfrei kriegen – würden sie dann weiterleben wollen?‘ Und er hat gesagt: ‚Nein, also wenn ich dann nur hier an dieser Morphiumpumpe im Bett liegen muss, dann ist das für mich nicht lebenswert.‘“ (DZ) Für ihre Entscheidung ist hier ein Vorrang anderer Motive vor rein medizinischen grundlegend: Obwohl eine Erkrankung nicht lebensbedrohlich ist, wünschen sich diese Personen eher ein rasches Lebensende, da sie eine (weitere) Minderung ihrer Lebensqualität nicht tolerieren möchten.
Dieser Kreis umschließt ebenso Personen, die mit kaum einer oder ohne eine Grunderkrankung leben, wie die hochbetagte Frau H., die zur erfolgreichen Therapie (!) eines verschleppten Harnweginfekts kurzzeitig stationär aufgenommen worden war:
„PS: ‚Hat Sie Ihnen einen Hauptgrund genannt, weswegen sie mit dem Essen und Trinken aufhören wollte?‘ Herr H.: ‚Sie wollte nicht mehr – wollte ganz klar nicht mehr leben. Das war es, was sie gesagt hat und ich glaube, dass ihr auch klar war, dass wieder nach Hause zu kommen schwierig sein würde, dass das zumindest einen Verlust an Selbstständigkeit bedeuten würde. Und für meine Mutter […] war das etwas Unmögliches: Verlust an Selbstständigkeit, das war für sie nicht vorstellbar.“ (UH) Die Entscheidungsgründe zum FVET können so auch unabhängig von Erkrankungen sein und entziehen sich damit einer direkten Behandlungsmöglichkeit. Gelegentlich entschieden sich Angehörige aber auch vollkommen außerhalb eines medizinischen Kontextes für den FVET, wie die ebenfalls hochbetagte Frau O in der Schweiz:
„Meine Großmutter war eine Dame von 92 Jahren. Über Jahre hatte sie mir gesagt, dass sie gern sterben würde. […] Sie war seit achtzehn Jahren verwitwet und war eine sehr selbstständige Frau, ging Tanzen, war voller Leben […]. Sie hatte ihren Mann verloren, war aber zugleich immer von Familie umgeben. […] Ich würde also sagen, sie war gut umsorgt, aber sie wollte sterben. Sie hatte einfach genug. Und weil sie wusste, dass ich Sterbebegleiterin bei [einer Suizidhilfe-Organisation in der Schweiz]
bin, hat sie mir immer wieder gesagt: Aber Du könntest mir doch helfen! Und ich habe gesagt: Nein, dazu habe ich nicht das Recht. – Und das Paradoxe ist, ich habe sie ja gefragt: ‚Aber warum willst Du denn sterben? Dir geht’s doch gut!‘ Ich würde sagen – sie hatte ja keine Schmerzen – es war einfach eine Lebensmüdigkeit. Sie hatte einfach keine Lust mehr zu leben.“ (RO) Die Situationen und Motive, die zum FVET führen, müssen damit als weiter gefasst verstanden werden, als allein „aufgrund unerträglichen anhaltenden Leidens“ (Radbruch et al.
2019) – der Entschluss zum FVET wird in seltenen Fällen allein auf ein hohes Alter und eine „Lebenssattheit“ zurückgeführt.
Zusammenfassend verbindet diese Gruppe der Wunsch, nicht mehr leben zu wollen: Die einzelnen Situationen variieren dabei und können, müssen aber nicht, von einer Erkrankung bestimmt sein. Eine terminale Erkrankung liegt hier nicht vor. Die Motive reichen hier somit durchaus in ein Spektrum, das der Begriff
Freitod bezeichnet, also einen im Vollbesitz geistiger Kräfte überlegt gefassten Entschluss der Selbsttötung.
5
Verzichtphase
Häufig sind Patienten, besonders terminal Erkrankte, bereits in eine palliativmedizinische Versorgung eingebunden, die unabhängig vom FVET selbstverständlich erhalten bleiben sollte. In beiden Varianten des FVET haben jedoch zwei Aspekte einer ärztlichen Begleitung während der Verzichtsphase ethische Relevanz: die Symptomkontrolle und ihre Auswirkungen sowie die Begleitung von Angehörigen.
Alle Angehörigen berichten von einer spezifischen Symptomatik des FVET: ein sehr starkes Durstgefühl und starke Mundtrockenheit, gleichzeitig aber kaum ein Erleben von Hunger. Dazu treten besonders Schwäche und Müdigkeit, seltener Schlafstörungen und Verwirrtheitszustände auf. Für diese Symptome stehen Therapieansätze zur Verfügung, wobei der professionellen Mundpflege zur Linderung des Durstgefühls und dem Schmerzmanagement eine besondere Rolle zukommt – oftmals für Schmerzen, die eine Erkrankung, nicht der Verzicht selbst verursacht.
Wichtig für die ethische Bewertung der Begleitung beim FVET ist, dass die Zusicherung jener für Personen eine Grundvoraussetzung zum FVET sein kann. Ohne professionelle Hilfe kommt ein FVET für manche nicht in Frage: „PS: ‚Hat das einen Unterschied gemacht, ob er medizinische Hilfe da bekommen hat, also diese Zusicherung von der Frau Dr. [Palliativmedizinerin] sich da auch zu kümmern?‘ XM: ‚Nur. Das war’s, absolut. Er war tief verzweifelt, was mache ich jetzt? […] Was macht auch der Krebs mit mir? Und dann hat sie eben diese Möglichkeit [FVET] genannt und gesagt: Wir können das auch hier machen.‘“ (XM) Für die Entscheidung mancher Patienten ist die Verfügbarkeit palliativmedizinischer Begleitung und adäquater Symptomkontrolle des FVET somit sehr relevant. Damit steht ein Behandlungsteam hier in einer besonderen Verantwortung.
Das Lindern von Symptomen hat zudem Einfluss auf die psychische Konstitution von Patienten. „Das wichtigste ist da eigentlich, dass man mit dem Palliativteam, dass die einem eben Sicherheit geben und dass man sich dann – also für uns war das so – dass man sich auf was anderes konzentrieren kann […], die Zeit, die man hat, noch so gestalten kann – also so wie man das, wie es einem möglich ist, und wie man das gerne hätte. […] Das war halt für uns eine Hilfe.“ (RE) Gelingen oder Versagen einer palliativmedizinischen Begleitung beim FVET trifft somit nicht nur den Patienten körperlich. Es bestimmt auch, ob und wie er sein Lebensende mit seinen Angehörigen verbringen kann.
Eine ganzheitliche Palliativmedizin hat die Betreuung der Angehörigen auch mit im Blick. Dies ist beim FVET nicht anders und alle Angehörigen schätzen die Begleitung als auch für sie selbst sehr hilfreich ein. „PS: ‚Hatten Sie da auch Zeit, mit den Palliativmedizinern, mit der Frau Dr. [Palliativmedizinerin] zu sprechen? Also haben die sich auch ein bisschen um Sie als Angehörige gekümmert?‘ VQ: ‚Ja. Also vor allem als sie das letzte Mal da war. […] Ja, das war sehr gut. Das hat es leichter gemacht.‘“ (VQ).
Für eine ethische Beurteilung ist festzuhalten, dass ärztliche Begleitung beim FVET Leiden für den Patienten und seine Angehörigen erheblich verringern, ja eine enorme Hilfe sein kann. Da für manche Patienten ein FVET nur mit dieser Begleitung denkbar ist, sollten sich Entscheidungsträger ihrer Verantwortung bei Zu- bzw. Absage von Unterstützung bewusst sein: Ihre Entscheidung schränkt den Handlungs- und Entscheidungsraum von Patienten möglicherweise stark ein. Die ethische Bewertung der ärztlichen Begleitung von der des FVET selbst sollte daher auch nicht vollständig getrennt werden (Birnbacher
2019; Jox et al.
2017).
Trauerphase
Die Trauer der Angehörigen nach einem FVET variiert deutlich. Den Verlust der verstorbenen Person, meist nach einer langen Beziehung, schildern Angehörige als für die Trauer wichtiger als den FVET selbst. Bei manchen Angehörigen prägte der FVET den Trauerverlauf mit, dies ebenfalls entlang der Unterscheidung, ob eine terminale Erkrankung vorlag: Gefragt auf einer Skala von null bis zehn nach dem Grad ihrer Zustimmung zur Aussage, der FVET des Angehörigen habe ihr Trauern erschwert, wiesen alle Angehörigen von Patienten mit terminaler Erkrankung dieser Aussage den Wert null zu („0 = stimme gar nicht zu“).
Wenn keine terminale Krankheit vorlag, konnte ein FVET die Trauer beeinflussen: „PS: ‚Haben Sie das Gefühl, dass dieses Sterbefasten als Sterbefasten die Trauer um Ihre Schwester noch einmal anders beeinflusst hat?‘ RY: ‚Es ist halt so, dass man sagt: man hat zu wenig getan. Das ist ein Vorwurf, der immer wieder kommt. Was wäre gewesen, wenn ich mich mehr um sie gekümmert hätte am Schluss? Und warum ich es nicht getan habe. Das … Das ist sicher da. […] Und dass sie diesen langen Leidensweg gehen musste, […] das fand ich für sie fürchterlich, das fand ich für uns fürchterlich. Und ich glaube, wenn sie schneller gestorben wäre: Klar würde man sich dann genauso Vorwürfe machen, weil man sagt: hätte nicht sterben müssen. […] Und wenn sie einen normalen Tod gestorben wäre, dann wäre es sicher anders gewesen, dann hätte ich mir keine Vorwürfe gemacht.‘“ (RY) Ein erschwertes Trauern kann somit sowohl durch den eigentlichen Verzicht ausgelöst werden, als auch durch die Gründe und Situationen, die zum FVET geführt haben. Besonders trat dies bei Teilnehmern auf, wenn sie den Sterbewunsch ihres Angehörigen nicht nachvollziehen konnten und an der Richtigkeit des Entschlusses zweifelten. Als weitere Ursache wurden die eigenen Werteinstellungen der Angehörigen identifiziert – lehnten diese den FVET als Freitod ihres Angehörigen ab, berichteten sie auch von einer erhöhten Belastung während und einer schwierigeren Trauerphase nach dem FVET. In der Erfahrung einiger Angehöriger war daher ein gemeinsames Gespräch im Vorfeld hilfreich.
Zwei Teilnehmer hatten die Erfahrung eines Suizids bei anderen Angehörigen machen müssen: Die Trauer nach einem FVET erlebten sie als dazu grundsätzlich unterschiedlich, was sie beim FVET mit der professionellen Begleitung und der Kommunikation mit dem Angehörigen verknüpften. „Mein Vater hat sich das Leben genommen. Und damals gab es das andere noch nicht [erg. FVET mit Begleitung]. Und der musste ganz einsam in den Keller gehen, am Strick sich aufhängen. Und ich finde das einfach so traurig und ich finde so ein Palliativteam, so eine Betreuung, das ist ein Weg, den man gehen kann, und man hat […] Hilfe von seinen Lieben. Und das ist ganz was anderes, als wie wenn ich jetzt sage: ‚Du, ich gehe jetzt mal …‘ Mein Vater hat gesagt: ‚Du ich gehe jetzt Zeitung holen.‘ – und kam nicht mehr. Also ich finde das einfach so traurig und das andere [erg. den assistierten Suizid in der Schweiz] finde ich auch keinen Weg, weil Wegfahren und dann alleine Zurückkommen – und irgendwann kommt der Sarg nach. Das ist alles keine Alternative.“ (RE).
Zusammenfassend erschwert ein FVET nur in Ausnahmefällen den Trauerverlauf. Häufig liegt die Ursache dafür jedoch eher im Sterbewunsch als im Erleben des Verzichts selbst, insbesondere bei einem FVET als für die Angehörigen unverständlichem Freitod. Eine professionelle Begleitung wird in allen Phasen des FVET als Hilfe erlebt.