Erschienen in:
01.06.2004 | Mentalisierung
Frühe Störungen aus der Sicht zunehmender Mentalisierung
verfasst von:
Dr. med. Lotte Köhler
Erschienen in:
Forum der Psychoanalyse
|
Ausgabe 2/2004
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Zusammenfassung
Der vornehmlich von Fonagy und Target in die psychoanalytische Literatur eingeführte Begriff der „Mentalisierung“ beschreibt die Fähigkeit, in die Beurteilung der Mitmenschen deren mentale Aktivitäten, wie Wünsche, Hoffnungen, Vermutungen oder Absichten, einzubeziehen und über das eigene Denken nachzudenken. Mentalisierung und reflexive Funktion gehen miteinander einher und dienen u. a. der Selbstorganisation sowie der Impulskontrolle und Affektregulation. Die Entstehung der Mentalisierung erfolgt, aufbauend auf einer Bindung sensu Bowlby, bis zum ca. 5. Lebensjahr. Ab dem 9. Lebensmonat (LM) beginnt das Kind die Mutter als intentionalen Agenten zu begreifen, z. B. wenn es die Absicht der Mutter, mit ihrem Blick oder deutenden Finger die Aufmerksamkeit des Kindes auf einen Gegenstand zu lenken, damit befolgt, ihr mit seinem Blick nachzufolgen Durch Spiegelung des Kindes seitens der Mutter in einer Weise, die seine Verfassung wiedergibt, aber in einer veränderten „markierten“ Form, wird dem Kind ermöglicht, neben der primären, unreflektierten Repräsentanz seiner Befindlichkeit eine sekundäre „objektivierte“ Selbstrepräsentanz aufbauen. Die Folgen fehlender, unmarkierter oder verzerrter Spiegelung für spätere narzisstische- oder Borderlinepersönlichkeitsstörungen werden beschrieben. Das Kind beginnt nun zu denken, d. h. mit Repräsentanzen zu spielen, aber seine Gehirnentwicklung gestattet ihm lediglich eine Realität in Betracht zu ziehen. Innenwelt und äußere Realität sind ununterscheidbar identisch („Äquivalenzmodus“ psychischen Funktionierens.) In einem weiteren Schritt eröffnet sich während der „Als-Ob-Spiele“ die Möglichkeit, eine zweite, nämlich die prätendierte Realität einzubeziehen. Erst im Alter von 4–5 Jahren hat das Kind, die Fähigkeit erlangt, mehere Realitäten in Betracht zu ziehen, die Perspektive eines anderen zu repräsentieren und zu dezentrieren. Es hat nun eine „theory of mind“. Frühgestörte Patienten haben diese Stufe nur teilweise erreicht. Auch kann es sein, dass sie als Folge von Stress oder Traumatisierung von der erreichten Stufe wieder auf einen früheren Modus psychischen Funktionierens zurückfallen, deren Kenntnis daher für die klinische Praxis hilfreich ist.