28.01.2021 | themenschwerpunkt | Ausgabe 1/2021
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Fünfzig Jahre Schielbehandlung – Ein Erfahrungsbericht aus Klinik und Praxis
- Zeitschrift:
-
Spektrum der Augenheilkunde
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Ausgabe 1/2021
- Autor:
- Prof. Dr. Elfriede Stangler-Zuschrott
Problemstellung
Von Kollegen wird die Autorin manchmal gefragt: Wie hat man um 1960 den Strabismus behandelt, und welche Fortschritte hat die Strabologie im Laufe der Jahre erzielt? Diese Fragestellung ist sehr komplex und nur subjektiv zu beantworten, da manche Themen trotz jahrelanger Kontroversen immer noch umstritten sind. Dieser Bericht bezieht sich daher nur auf die Behandlungsmethoden der historischen I. Univ.-Augenklinik in Wien, „Sehschule“, deren Leitung die Autorin von 1967 bis 1997 innehatte. Danach folgten weitere 17 Jahre Erfahrung in der Ordination und mehr Zeit für eigene Publikationen. Der Sinn dieses Berichts liegt in einer Weitergabe bewährter Methoden der Schielbehandlung v. a. an praktizierende Kollegen, wobei die Forschungsergebnisse der I. Augenklinik Wien eingeflossen sind. Auf die umfangreiche Literatur dieses Zeitraums kann nur in Einzelfällen hingewiesen werden.
Rückblick. Der Beginn 1960–1967
Unter der Klinikleitung von Prof. Arnold Pillat hatte der 1. Oberarzt Udo Nemetz alle orthoptisch-pleoptischen Geräte beschafft, die international üblich waren, jedoch heute kaum noch jemand kennt: Pleoptophor, Euthyskop, Lokalisator, Separator, Cheiroskop, Tiefentrainer, Lesepult und mehrere Synoptophore. Es fand sich auch eines der ersten Polatest-Geräte, damals von der Fa. Busch erzeugt.
In der Sehschule arbeiteten 2 Ärzte in Rotation und 2 instruierte Hilfsschwestern, ausgebildete Orthoptistinnen gab es nicht. Erste Lehrer der Strabologie waren F.A. Hamburger und Hans Rotter.
Der
Ablauf der Schielbehandlung entsprach im Wesentlichen der heute noch üblichen:
1.
Brillenbestimmung nach Zylinderskiaskopie in Atropin- oder Homatropin-Mydriase, wobei die gefundenen hyperopen Werte um eine halbe Dioptrie reduziert verordnet wurden. Die Brillenverordnung erfolgte allerdings erst im 3. Lebensjahr.
2.
Die
Diagnostik des Strabismus beruhte auf: Abdecktest, Fixationsprüfung, Synoptophorbefund (3 Grade des Binokularsehens nach Worth) und dem Worth-four-dot-Test.
3.
Die
Amblyopiebehandlung erfolgte im 3. bis 4. Lebensjahr zunächst mit Atropinkur des führenden Auges, ab 4 Jahren mit inverser Okklusion über 6 bis 10 Wochen bei exzentrischer Fixation, danach mit Okklusionsverbänden oder Schielklappen des führenden Auges ganztägig ohne Unterbrechung und nach Altersschema: 2 Jahre – 1 Woche lang, 3 Jahre – 2 Wochen lang etc., wissend, dass zu langes Abdecken iatrogen eine Schädigung des führenden Auges bewirken kann, welche in späteren Jahren als Deprivationsamblyopie bezeichnet werden sollte. Sobald ein Visus von 6/18 erreicht war, wurde mit einer Binokularschulung am Synoptophor begonnen, wodurch sich die Schielstellung oft reduzierte. Seit 1955, wohl unter dem Einfluss von St. Gallen, wurde bei exzentrischer Fixation die direkte Okklusion als kontraindiziert angesehen und Pleoptik nach Bangerter oder Cüppers durchgeführt. Die Erfolge waren gut bei anfänglichem Vorliegen von zentraler Fixation.
4.
Die
Binokularschulung erfolgte ausschließlich am Synoptophor. Vorbereitend wurde über mehrere Wochen alternierende Okklusion am Brillenglas durchgeführt, um die Entwicklung einer anomalen Netzhautkorrespondenz (abgekürzt als ANK im deutschen, ARC im angloamerikanischen Sprachraum) zu verhindern bzw. zu unterbrechen. Laut Bericht von Nemetz [
1] gelang es in vielen Fällen, NRC („normal retinal correspondence“) wieder zu aktivieren, als Voraussetzung für die Heilung des Strabismus. Dies steht im Gegensatz zur Meinung von Lang [
2], ARC könne nicht geheilt werden. Anders und positiv zu bewerten bis in die heutige Zeit sind Fusionsübungen, nicht nur für Schielende, sondern v. a. bei asthenopischen Beschwerden.
5.
An
Schieloperationen wurden durchgeführt: Tenotomien v. a. am Rectus internus, Resektionen des Externus und Myektomien des Obliquus inferior. Nach der Operation gab es Blickverbände, um das Ergebnis zu verbessern. Leider hatten wir Jahre später große Schwierigkeiten, konsekutive Divergenzen zu revidieren, da ein tenotomierter Muskel atrophiert.
6.
Kontrollbehandlungen wurden bis zum 15. Lebensjahr durchgeführt.
Der Aufenthalt in St. Gallen (Schweiz)
In den Jahren 1965 bis 1967 waren insgesamt 10 Monate verteilter Gastarzttätigkeit an der Augenklinik St. Gallen möglich sowie an der angeschlossenen OPOS (Ostschweizerische Pleoptik-Orthoptik-Station) unter der Gesamtleitung von Prof. Bangerter, der ein hervorragender Operateur war. Die Leitung der OPOS hatte er an Prof. Joachim Otto übergeben. Die ärztliche Belegschaft bestand aus Schweizern (u. a. Balder Gloor vor seinem Wechsel in die USA), Deutschen und Österreichern in bestem Einvernehmen. Als Wienerin fiel der Autorin die Aufgabe zu, die Zylinderskiaskopie nach Lindner mit den Kollegen zu üben. Es gab Gesprächsrunden und kleine Symposien, an denen Prof. Roland Brückner und seltener auch Josef Lang teilnahmen.
Ein Kollege von St. Gallen, Dr. Graemiger, besprach mit uns die Operationsindikation der operativen Fälle. Eine persönliche Assistentin von Prof. Otto war die Dipl.-Orthoptistin Sr. Gisela Rabetge, deren feine Beobachtungsgabe vorbildlich war und deren Künste am Synoptophor in einem Buch festgehalten sind [
3].
Gespräche mit Prof Otto ergaben grundlegende neue Einsichten zum Verständnis des Schielens, die weitgehend mit den Auffassungen von F.A. Hamburger übereinstimmten:
Dominanz und Wettstreit sind prinzipielle Verhaltensweisen Schielender, gleichgültig, ob amblyop oder nicht. Dominanztypen zeigen oft geringe Anisometropien, tendieren zu Suppression, sind aber fusionswillig. Wettstreittypen sind fusionsunwillig, tendieren zum Alternieren und reagieren auf bifoveales Bildangebot mit Ausweichbewegungen. Diese Tatsache erschwert die Anpassung von Prismen und macht die Ergebnisse von Operationen oft unberechenbar.
Methoden und Resultate der klinischen orthoptisch-pleoptischen Abteilung nach 1967
Der Beginn an der Klinik
Das Interesse der Kliniker an Orthoptik war nicht groß. Zwei erfahrene Hilfsschwestern unterstützten die Autorin als neue Leiterin der Sehschule, die alle Untersuchungen und Behandlungen selbst durchführte, jedoch nur selten operieren durfte (anfangs noch Tenotomien). Dienstposten für diplomierte Orthoptistinnen mussten erst geschaffen werden. In Salzburg gab es bereits eine Schule für den orthoptischen Dienst, eine Absolventin des ersten Jahrgangs kam 1969 nach Wien und blieb bis zu ihrer Pensionierung. Schließlich teilte die Klinikleitung der Sehschule einen Ausbildungsassistenten auf jeweils ein halbes Jahr zu, um wichtige Kenntnisse wie Schielbehandlung, Skiaskopie und Brillenverordnung zu erlernen. Damit gab es einen Assistenten für Schieloperationen, deren Zuständigkeit nun ganz auf die Sehschule überging.
Eine weitere Erschwernis waren fehlende Lehrbücher. Nach dem veralteten Buch von Lyle-Jackson [
4] und dem vergriffenen Beiheft von Hollwich [
5] war die einzige „Bibel“ für Strabologie das Buch von Krüger [
6]. Erst 1971 erschien die erste Auflage von J. Lang „Strabismus, Diagnostik, Schielformen, Therapie“ und 1974 jene des Meisterwerkes von Burian und v. Noorden „Binocular Vision and Ocular Motility“.
Langs Buch ist bis heute für den Unterricht unerreicht, weil es mit nötiger Präzision in Kürze Schielformen beschreibt, die es Arzt bzw. Orthoptist(in) erlaubt, die Symptomatik eines Patienten in die richtige Schublade einzuordnen mit entsprechenden therapeutischen Konsequenzen.
Befruchtend für alle Strabologen von Wien und Umgebung waren die monatlichen Gesprächsrunden um F.A. Hamburger, die seit ca. 1960 in der Bibliothek der I. Augenklinik stattfanden. Hamburger war Mitglied des international besetzten Consilium Europaeum Strabismi Studio deditum, sinngemäß nannte sich unsere Interessensgemeinschaft bei unserem ersten Symposium 1967 dann Consilium Strabologicum Austriacum.
Die Arbeitsweise der neuen Sehschule
Die Resultate aus der Ordination
Sie zeigen die langfristigen Ergebnisse der von der Klinik entlassenen Patienten auf.
Hier finden sich unter 1012 binokular gestörten Patienten 120 Fälle
konsekutiven Schielens, Alter 23 bis 70 Jahre, die in der Kindheit mehrfach operiert worden waren. Davon haben 53 Patienten Diplopie (43 %), von ihnen 8 einen Horror fusionis, 70 sind amblyop (58 %), und nur 30 % haben eine kosmetisch unauffällige Augenstellung. Keine gute Bilanz.
Schlussfolgerungen
Während der letzten 50 Jahre hat sich die Behandlung schielender Kleinkinder nicht wesentlich verändert: Brille – Okklusion gegen Amblyopie – Operation. Die
Brille hat ihren fixen Platz als erste wichtige Maßnahme.
Zur Frage der
Okklusion. Die früher geübte Wechselokklusion zur Prophylaxe der ARC ist längst verlassen, seit man weiß, dass die kortikalen binokularen Neurone einen Input brauchen. Auch zur
Amblyopiebehandlung sollte man nicht länger als nötig mit Pflastern abdecken, besser Sichtfolien verwenden. Die visuelle Deprivation Erwachsener führt zum Verlust der Fusion und damit zu nicht korrigierbaren Doppelbildern; Kinder reagieren vielleicht rascher als Erwachsene mit Verlust der Fusionsfähigkeit auf das Fehlen binokularer Reize, wie es eine überlang angewandte Okklusion darstellt. Unsere Vorgänger in der Sehschule taten wohl das Richtige, zum Amblyopietraining zusätzlich auch Fusionsübungen zu machen. Möglicherweise wären auf diese Art Doppelbilder bei pleoptisch behandelten Mikrostrabismen zu vermeiden. Untersuchungen diesbezüglich sind uns nicht bekannt.
Vor einer
Schieloperation an Kindern sollten folgende Fakten beachtet werden:
a.
Kinder mit kongenitalem Schielsyndrom vermindern ihren Schielwinkel spontan zwischen 2. und 5. Lebensjahr um durchschnittlich 10° (A. Salomon); 20 klinische Fälle zeigten noch vor Schuleintritt Alignment ohne Operation, wenn einer der folgenden Faktoren vorlag: Hohe Hypermetropie, Myopie, mentale Retardation.
b.
Kriterien, die eine konsekutive Divergenz erwarten lassen, sind konform mit der Literatur: schwere Amblyopie (Visus 0,2 und geringer), hohe Anisometropie (3 dpt), hohe Hypermetropie (6 dpt).
c.
Übermäßige operative Schwächung der Interni führt zu A‑Inkomitanzen und mit zunehmendem Alter zu Leseschwierigkeiten. Mit der Zahl der Operationen steigt die Häufigkeit von Spätkomplikationen. Ärztliches Ziel ist es, mit
einer Operation das Therapieziel zu erreichen. An unserer Klinik gelang dies zu 70 %, wohl durch die Vorbereitung mit Prismen.
Die
Prismen sind die derzeit wichtigste Möglichkeit der konservativen Schielbehandlung. Wegen der anfänglichen Schielwinkelzunahme sind sie umstritten und führen bei Erwachsenen oft zur Operation. Anders ist die Sachlage bei
Kindern. Donders war der Erste, der 1847 bis 1848 ein allmähliches Nachlassen des Schielwinkels durch Prismen unter Einfluss der peripheren Fusion beschrieben hat [
22]. Erst die Erfindung der Wafer-Prismen machte ihre Anwendung praktikabel. Behandlungsziele sind Orthophorie, Heterophorie oder Mikrotropie. Diese sind ohne Operation erreichbar, wenn der Schielwinkel bei Konvergenz +15° und bei Divergenz −10° nicht übersteigt. Unabhängig von der Schielform war die Behandlungsdauer bei Konvergenz 2 bis 6,5 (d 3,4) Jahre, die Erfolgsrate um 80 %; bei Divergenz war die Behandlungsdauer 0,5 bis 8,0 (d 4,3) Jahre, die Erfolgsrate 90 %.
Das Einsparen von Operationen entspricht gewiss dem hippokratischen Gedanken des „Primum nil nocere“.
Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um einen historischen Rückblick auf die Schielbehandlung an einer der beiden Sehschulen des Wiener AKH aus Sicht der Autorin.
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