Skip to main content
Erschienen in: Der Nervenarzt 10/2023

Open Access 17.02.2023 | Funikuläre Spinalerkrankung | Kurzbeiträge

Funikuläre Myelose und Polyneuropathie durch Lachgasinhalation – eine Differenzialdiagnose des Guillain-Barré-Syndroms

verfasst von: Julius N. Meißner, Katharina Hill, Asadeh Lakghomi, Louisa Nitsch

Erschienen in: Der Nervenarzt | Ausgabe 10/2023

download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
Hinweise
QR-Code scannen & Beitrag online lesen

Hintergrund

Der inhalative Konsum von Lachgas ist mit einer Lebenszeitprävalenz von etwa 11 % in Deutschland weit verbreitet [2]. Der Gebrauch führt dosisabhängig zu einem metabolischen Vitamin‑B12-Mangel, welcher sich klinisch in einer Polyneuropathie und einer funikulären Myelose äußern kann [7]. Wir berichten hier über einen Fall von lachgasinduzierter Polyneuropathie und funikulärer Myelose, welcher klinisch einem Guillain-Barré-Syndrom ähnelte.

Fallbeispiel

Ein 45-jähriger Mann wurde uns mit vier Wochen zuvor erstmals aufgetretenen, progredienten Akroparästhesien und symmetrisch aufsteigenden Paresen vorgestellt. Er berichtete auf Nachfrage über die Inhalation von vier mit Lachgas gefüllten Luftballons sieben Wochen zuvor. Es bestand eine ausgewogene Ernährung, eine spezielle Diät wurde nicht eingehalten. In der neurologischen Untersuchung fielen eine sensible Ataxie mit distal symmetrischer Hypästhesie und eine Pallhypästhesie bei erhaltenem Temperaturempfinden auf. Die Achillessehenenreflexe waren ausgefallen und es zeigten sich Paresen der distalen Extremitätenmuskeln. Es fand sich keine autonome Dysfunktion und keine Hirnnervenausfälle. Die Liquordiagnostik erbrachte unauffällige Befunde mit normwertigem Eiweißgehalt, normwertiger Zellzahl sowie unauffälliger Lactat- und Glukosekonzentration, sodass kein Anhalt für eine Infektion bestand. Eine Borrelienserologie war unauffällig. Gangliosidantikörper (GM1, GQ1b, und GD1b, jeweils IgG und IgM) waren im Serum nicht nachweisbar. Labordiagnostisch fiel eine leicht reduzierte Erythrozytenzahl von 4,2 T/l (Normbereich 4,3–5,75 T/l) bei leichter hyperchromer (MCH 34 pg; Normbereich 27–33,5 pg) Makrozytose (MCV 102 fl; Normbereich 80–99 fl) bei normwertiger Hämoglobinkonzentration auf. Die Vitamin‑B12- und Holotranscobalamin-Serumspiegel lagen im Normbereich. Allerdings fiel eine schwere Hyperhomocysteinämie von 108,12 µmol/l (Normbereich 3,2–10,7 µmol/l) auf. Die Elektroneurographie erbrachte den Befund einer axonal-demyelinisierenden Polyneuropathie mit verlängerten F‑Wellen-Latenzen, verlängerten distal motorischen Latenzen, herabgesetzten Nervenleitgeschwindigkeiten und reduzierten Muskelsummenaktionspotenzialen (Tab. 1). Eine zervikale spinale Magnetresonanztomographie zeigte T2-Hyperintensitäten der Hinterstränge in den Höhen C2 bis C7, welche in der sagittalen Bildgebung V‑förmig zur Darstellung kamen (Abb. 1a, b).
Tab. 1
Neurographiebefund. Altersentsprechende Normwerte in Klammern. Auffällige Werte fett gedruckt
Nerv
Stimulationsort
Latenz
(ms)
F‑Wellen-Latenz
(ms)
Amplitude
(mV)
Nervenleitgeschwindigkeit
(m/s)
Motorisch
N. medianus rechts
Handgelenk
3,44 (≤ 4,5)
31,4 (≤ 32)
7,3 s (≥ 3)
Ellenbeuge
9,43
6,4 (≥ 3)
43 (≥ 47)
N. peroneus rechts
Knöchel
5,42 (≤ 5)
3,3 (≥ 3)
Fibulakopf
14,9
2,8 (≥ 3)
34 (≥ 40)
Kniekehle
16,7
2,7 (≥ 3)
49 (≥ 40)
N. tibialis links
Knöchel
5,47 (≤ 5,8)
64,0 (≤ 60)
1,1 (≥ 3)
Kniekehle
18,13
0,9 (≥ 3)
37 (≥ 40)
N. tibialis rechts
Knöchel
64,5 (≤ 60)
Sensibel
N. medianus rechts
Zeigefinger
1,9 (≥ 3)
42 (≥ 43)
N. ulnaris rechts
Kleinfinger
3,2 (≥ 3)
41 (≥ 41)
N. suralis rechts
Knöchel
0,5 (≥ 3)
38 (≥ 43)
In der motorischen Neurographie des N. medianus rechts herabgesetzte mNLG (motorische Nervenleitgeschwindigkeit). N. peroneus rechts mit herabgesetzter mNLG bei Stimulation unterhalb des Fibulakopfes, reduzierten MSAP (motorische Summenaktionspotenziale) ober- und unterhalb des Fibulakopfes und verlängerter DML (distal motorische Latenz). N. tibialis links mit herabgesetzter mNLG, reduzierten MSAP und verlängerte F‑Wellen-Latenz. N. tibialis rechts mit verlängerter F‑Wellen-Latenz. In der sensiblen Neurographie des N. medianus rechts und N. suralis rechts herabgesetzte sNLG (sensible Nervenleitgeschwindigkeit) und reduzierte SNAP (sensible Nervenaktionspotenziale). Regelrechte sensible Neurographie des N. ulnaris rechts
Die neurographischen Auffälligkeiten sprechen für eine sensomotorische axonal-demyelinisierende Polyneuropathie
Auf Basis der erhobenen Befunde wurde die Diagnose einer durch Lachgasinhalation induzierten funikulären Myelose und Polyneuropathie gestellt. Eine hochdosierte Substitution mit Vitamin‑B12 wurde eingeleitet. Bereits in den ersten Tagen nach Therapiebeginn kam es zu einer Besserung der Beschwerden.

Diskussion

Die Inhalation von Lachgas führt zu einem metabolischen Vitamin‑B12-Mangel, welcher neben Blutbildveränderungen zu einem neurologischen Syndrom mit Polyneuropathie und Hinterstrangaffektion führen kann [7]. Die symmetrischen Veränderungen der Hinterstränge werden als „inverted V-sign“ beschrieben [3]. Neurographisch können sowohl Zeichen eines axonalen Schadens als auch einer Demyelinisierung nachweisbar sein. Die routinemäßig bestimmten Vitamin‑B12- und Holotranscobalamin-Serumspiegel sind weniger sensitiv als die Bestimmung des Homocysteinspiegels und der Methylmalonsäure, weshalb der metabolische Vitamin‑B12-Mangel leicht übersehen werden kann [4]. Ein normaler Vitamin‑B12-Spiegel wird bei 20–40 % der Patienten beschrieben. Auf die Bestimmung von Methylmalonsäure wurde verzichtet, weil die Bestimmung von Holotranscobalamin und Methylmalonsäure in etwa den gleichen Stellenwert bei Patienten mit Lachgasinhalation einnehmen (Methylmalonsäure 93,8 % vs. Homocystein 90,3 % auffällige Werte; [4]). Ein vorbestehender Vitamn‑B12-Mangel stellt dabei ein Risikofaktor für die Entwicklung neurologischer Symptome nach Lachgasinhalation dar [6]. Der zugrunde liegende Pathomechanismus ist eine durch Lachgas induzierte Oxidation des Cobalt-Zentralions des biologisch aktiven Methylcobalamins und Inaktivierung von Adenosylcobalamin, welche zu einer Inhibition der Enzyme Methylmalonyl-CoA-Mutase und Methioninsynthase führt, deren Substrate (Methylmalonsäure bzw. Homocystein) dann akkumulieren. Die Neurotoxizität ist unter anderem Folge eines hierdurch verursachten Methioninmangels, der eine Myelinisierungsstörung verursacht [1]. Zu beachten ist, dass die klinische Präsentation und die neurographischen Veränderungen einem Guillain-Barré-Syndrom ähneln können [5]. Der vorgestellte Fall unterstreicht daher die Bedeutung einer sorgfältigen Suchtmittelanamnese bei Patienten mit subakut aufgetretener Polyneuropathie.

Fazit für die Praxis

  • Die Inhalation von Lachgas kann zu einem metabolischen Vitamin‑B12-Mangel führen, welcher sich in einer Polyneuropathie und funikulären Myelose äußern kann.
  • Neben Vitamin‑B12 und Holotranscobalamin sollten auch weitere Parameter wie der Spiegel von Homocystein oder Methylmalonsäure bestimmt werden.
  • Eine konsequente Substitution von Vitamin‑B12 und der Verzicht auf weitere Lachgasinhalation sind entscheidend für die Therapie.
  • Eine Suchtmittelanamnese sollte bei allen Patienten mit subakuter Polyneuropathie erfolgen.

Interessenkonflikt

J.N. Meißner, K. Hill, A. Lakghomi und L. Nitsch geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Unsere Produktempfehlungen

Der Nervenarzt

Print-Titel

Aktuelles Fachwissen aus Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und PsychosomatikThemenschwerpunkt mit praxisnahen BeiträgenCME-Fortbildung in jedem Heft 12 Hefte pro Jahr Normalpreis 344,70 € We ...

e.Med Interdisziplinär

Kombi-Abonnement

Für Ihren Erfolg in Klinik und Praxis - Die beste Hilfe in Ihrem Arbeitsalltag

Mit e.Med Interdisziplinär erhalten Sie Zugang zu allen CME-Fortbildungen und Fachzeitschriften auf SpringerMedizin.de.

e.Dent – Das Online-Abo der Zahnmedizin

Online-Abonnement

Mit e.Dent erhalten Sie Zugang zu allen zahnmedizinischen Fortbildungen und unseren zahnmedizinischen und ausgesuchten medizinischen Zeitschriften.

Weitere Produktempfehlungen anzeigen
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Hathout L, El-Saden S (2011) Nitrous oxide-induced B12 deficiency myelopathy: perspectives on the clinical biochemistry of vitamin B12. J Neurol Sci 301(1–2):1–8CrossRefPubMed Hathout L, El-Saden S (2011) Nitrous oxide-induced B12 deficiency myelopathy: perspectives on the clinical biochemistry of vitamin B12. J Neurol Sci 301(1–2):1–8CrossRefPubMed
2.
Zurück zum Zitat Kaar SJ, Ferris J, Waldron J et al (2016) Up: the rise of nitrous oxide abuse. An international survey of contemporary nitrous oxide use. J Psychopharmacol 30(4):395–401CrossRefPubMed Kaar SJ, Ferris J, Waldron J et al (2016) Up: the rise of nitrous oxide abuse. An international survey of contemporary nitrous oxide use. J Psychopharmacol 30(4):395–401CrossRefPubMed
3.
Zurück zum Zitat Kumar A, Singh AK (2009) Teaching NeuroImage: Inverted V sign in subacute combined degeneration of spinal cord. Neurology 72(1):e4CrossRefPubMed Kumar A, Singh AK (2009) Teaching NeuroImage: Inverted V sign in subacute combined degeneration of spinal cord. Neurology 72(1):e4CrossRefPubMed
4.
Zurück zum Zitat Oussalah A, Julien M, Levy J et al (2019) Global burden related to nitrous oxide exposure in medical and recreational settings: a systematic review and individual patient data meta-analysis. J Clin Med 8(4):551CrossRefPubMedPubMedCentral Oussalah A, Julien M, Levy J et al (2019) Global burden related to nitrous oxide exposure in medical and recreational settings: a systematic review and individual patient data meta-analysis. J Clin Med 8(4):551CrossRefPubMedPubMedCentral
5.
Zurück zum Zitat Qin X, Kang L, Liu X et al (2022) Acute nitrous oxide-induced neuropathy mimicking Guillain-Barré syndrome. J Peripher Nerv Syst 27(3):189–196CrossRefPubMed Qin X, Kang L, Liu X et al (2022) Acute nitrous oxide-induced neuropathy mimicking Guillain-Barré syndrome. J Peripher Nerv Syst 27(3):189–196CrossRefPubMed
6.
Zurück zum Zitat Singer MA, Lazaridis C, Nations SP et al (2008) Reversible nitrous oxide-induced myeloneuropathy with pernicious anemia: case report and literature review. Muscle Nerve 37(1):125–129CrossRefPubMed Singer MA, Lazaridis C, Nations SP et al (2008) Reversible nitrous oxide-induced myeloneuropathy with pernicious anemia: case report and literature review. Muscle Nerve 37(1):125–129CrossRefPubMed
7.
Zurück zum Zitat Xiang Y, Li L, Ma X et al (2021) Recreational nitrous oxide abuse: prevalence, neurotoxicity, and treatment. Neurotox Res 39(3):975–985CrossRefPubMed Xiang Y, Li L, Ma X et al (2021) Recreational nitrous oxide abuse: prevalence, neurotoxicity, and treatment. Neurotox Res 39(3):975–985CrossRefPubMed
Metadaten
Titel
Funikuläre Myelose und Polyneuropathie durch Lachgasinhalation – eine Differenzialdiagnose des Guillain-Barré-Syndroms
verfasst von
Julius N. Meißner
Katharina Hill
Asadeh Lakghomi
Louisa Nitsch
Publikationsdatum
17.02.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Der Nervenarzt / Ausgabe 10/2023
Print ISSN: 0028-2804
Elektronische ISSN: 1433-0407
DOI
https://doi.org/10.1007/s00115-023-01443-1

Weitere Artikel der Ausgabe 10/2023

Der Nervenarzt 10/2023 Zur Ausgabe

Mitteilungen der DGPPN

Mitteilungen der DGPPN 10/2023

Passend zum Thema

ANZEIGE
OnSite Advertorial Thema
Nervengesundheit

Regeneration peripherer Nerven ist möglich

Während sich Nervenzellen des zentralen Nervensystems nach Schädigungen kaum wieder erholen, können sich periphere Nerven nach Verletzungen oder Kompressionen regenerieren. Neurotrope Nährstoffe wie Uridinmonophosphat und B-Vitamine können den Regenerationsprozess geschädigter Nervenfasern unterstützen.