Bei episodischen Abdominalattacken auch an das hereditäre Angioödem denken

Patienten mit rezidivierenden abdominalen Koliken unklarer Ursache stellen sich häufig dem Gastroenterologen vor. Als mögliche Ursache sollte immer auch ein hereditäres Angioödem (HAE) erwogen werden, vor allem, wenn die Symptome in Verbindung mit einem akuten Aszites auftreten. Obwohl 95% aller Aszites-Fälle bedingt sind durch Leberzirrhosen, Herzinsuffizienz, Tumorerkrankungen oder Perikarditis, sollte bei der Differenzialdiagnostik auch an seltene Erkrankungen wie das HAE gedacht werden [1]. Charakteristisch für das HAE sind episodische Haut- und Schleimhautschwellungen, die im Gesicht, an den Extremitäten und im Gastrointestinaltrakt auftreten können. Die kolikartigen Schmerzen im Bauchraum gehen oft einher mit Erbrechen, Diarrhö und ggf. Kreislaufbeschwerden. Seltener, aber potenziell lebensbedrohend, sind Schwellungen an den oberen Atemwegen (Abb. 1). Abb. 1: Typische Symptome und Merkmale des HAE CSL Behring GmbH × Aufgrund der Seltenheit des HAE fällt der Verdacht oftmals zunächst auf häufiger vorkommende Erkrankungen, wie Allergien, Urtikaria oder akutes Abdomen. In der Folge werden wirkungslose Therapiemaßnahmen eingeleitet, mitunter auch unnötige operative Eingriffe wie z.B. explorative Laparotomien [2]. Bei vielen Patienten wird das HAE erst nach Jahren korrekt diagnostiziert. Ursache: Mutation des C1-INH-Gens Das HAE zählt mit einer geschätzten Prävalenz von 1:50.000 zu den seltenen Erkrankungen [3] und beruht auf einem Mangel des C1-Esterase-Inhibitors (C1-INH) [4]. Ursache ist eine Mutation des C1-INH-Gens auf Chromosom 11, die überwiegend autosomal dominant vererbt wird; aber auch Neumutationen kommen vor und machen etwa 25% der Fälle aus [2]. Unterschieden werden zwei HAE-Krankheitstypen: Beim Typ I, der bei etwa 85% der HAE-Patienten vorkommt, ist die C1-INH-Konzentration und folglich auch die C1-INH-Aktivität im Plasma vermindert aufgrund der reduzierten oder fehlenden Expression des mutierten C1-INH-Gens. Beim selteneren Typ II (15%) wird ein abnormales C1-INH-Gen exprimiert, was wiederum zur Synthese eines dysfunktionalen C1-INH führt. Bei beiden Krankheitstypen wird in der Folge das Gewebshormon Bradykinin vermehrt ausgeschüttet, die Gefäßpermeabilität wird erhöht, und es kommt zur Ödembildung [2]. Die Ödeme können bis zu zweimal wöchentlich auftreten und halten unbehandelt etwa 3–5 Tage lang an. Häufige Trigger der Attacken sind psychischer Stress, Infektionen, übermäßige körperliche Anstrengung, Menstruation, Verletzungen, operative Eingriffe und Zahnextraktionen [5–7]. Gute Therapieoptionen Nachweisen lässt sich ein HAE mittels Laborbestimmung der C1-INH-Aktivität (<50% der Norm) und -Konzentration sowie der C4-Komplement-Konzentration [8]. Durch Substitution beispielsweise mit einem humanen C1-INH-Konzentrat (z.B. Berinert®) können akute Attacken schnell und effektiv behandelt werden [9]. Eine weitere Option ist ein Bradykinin-B2-Rezeptor-Antagonist. Vor operativen Eingriffen ist auch eine Kurzzeitprophylaxe in Betracht zu ziehen. Unter Umständen kommt für Patienten mit schweren und sehr häufigen Attacken auch eine Routineprophylaxe infrage. Zeit bis zur Diagnosestellung oft zu lang Bei kolikartigen Bauchschmerzen, die mit Aszites assoziiert sind, sollte immer auch ein HAE als Ursache in Betracht gezogen werden. Über mehrere Tage andauernde, rezidivierende Abdominalattacken – mit oder ohne einhergehende Hautschwellungen – sind typisch für ein HAE infolge eines C1-INH-Mangels [1]. Das Auftreten von Aszites als sekundäre Folge eines Darmwandödems wurde schon früher bei abdominaler Manifestation des HAE beschrieben, eine Flüssigkeitsmenge von 1–2 l ist keine Seltenheit [10, 11]. Den Autoren einer aktuellen Fallstudie zufolge ist die Zeitspanne zwischen erstmaligem Auftreten der HAE-Symptomatik und der Diagnose immer noch zu lang – gerade auch im Hinblick darauf, dass eine adäquate Therapie die Lebensqualität der HAE-Patienten wesentlich verbessern und Leben retten kann [1]. Denn Schwellungen im Bereich der oberen Atemwege könnten inadäquat behandelt zum Erstickungstod führen. Kasuistik: Rezidivierende abdominale Koliken als Indiz für HAE Bei einer 34-jährigen Patientin traten im Alter von 14 Jahren erstmals Ödeme an den Gliedmaßen auf, die sich innerhalb von 2–3 Tagen spontan zurückbildeten. In den folgenden Jahren litt sie unter Schwellungen im Genitalbereich und im Gesicht, die nach 3–4 Tagen abklangen. Ähnliche Symptome waren bei der Mutter der Patientin beobachtet worden. Ab einem Alter von 20 Jahren hatte die junge Frau rezidivierende, schmerzhafte abdominale Koliken mit Übelkeit, Erbrechen und gelegentlichem Durchfall. Periphere Ödeme oder respiratorische Symptome wurden nicht festgestellt. Eine Elektrokardiografie und ein Röntgenthorax zeigten keine Auffälligkeiten. Durch eine abdominale Sonografie wurde ein Aszites nachgewiesen. Die Diagnosen waren idiopathischer Aszites, funktionelle Diarrhö, Reizdarmsyndrom und Dyspepsie. Erst während einer Episode mit Gesichtsschwellung im Alter von 33 Jahren testete ein Allergologe auf C4 (0,056 g/l; Normalbereich: 0,15–0,57 g/l), die C1-INH-Funktion (17%; Normalbereich: 70–130%) und das C1-INH-Antigen (5 mg/l; Normalbereich: 210–390 mg/l). Aufgrund des nachgewiesenen C1-INH-Mangels wurde die Diagnose HAE gestellt und eine Therapie mit C1-INH-Konzentrat eingeleitet. Unter der Therapie blieb die nunmehr schwangere Patientin bis zum Ende der Schwangerschaft symptomfrei. Das Kind kam gesund und mit normalen C1-INH-Werten zur Welt. (nach [1]) Ultraschall hilfreich in der HAE-Differenzialdiagnostik Die Bedeutung der Sonografie als wichtiges Instrument in der Diagnostik des HAE konnte in einer früheren Untersuchung aufgezeigt werden [10]. Ein im Ultraschall nachgewiesener Aszites sollte den Verdacht immer auch auf HAE lenken. Dies gilt insbesondere, wenn der Patient oder ein Familienmitglied auch an rezidivierenden Hautschwellungen leidet, die sich nicht mit Antihistaminika oder Kortikosteroiden behandeln lassen. Erst mit der richtigen Diagnose können HAE-Patienten wirksam therapiert werden, was Leben retten kann. Interview Die Therapie des HAE ist keine Routinebehandlung Wann sollte der Gastroenterologe an HAE denken? Bork: Generell immer dann, wenn Patienten über kolikartige Schmerzen klagen, aber keine eindeutige Ursache ersichtlich ist. Besonders hellhörig werden sollten Ärzte, wenn diese Attacken wiederholt vorkommen, andere Familienmitglieder ebenfalls betroffen sind und die Patienten zusätzlich von öfter auftretenden Hautschwellungen berichten. Wie häufig sind die kolikartigen Bauchschmerzattacken bei HAE? Bork: Bei manchen Patienten treten die abdominalen Attacken wenige Male im Jahr, bei anderen mehrmals im Monat auf. Hier gibt es ein sehr breites Spektrum. Diese krampfartigen Attacken können eine sehr große Belastung für die Betroffenen sein, weil die damit verbundenen Schmerzen außerordentlich stark sind – ähnlich wie bei Nierenkoliken, den stärksten Schmerzen, die der Mensch kennt. Welche Altersstufen sind betroffen? Bork: Die klinischen HAE-Symptome beginnen im Durchschnitt im 11. Lebensjahr, sie können aber auch schon bei Kleinkindern vorkommen. Selten beginnt die Symptomatik nach dem 20. Lebensjahr. Sind die Symptome erst einmal aufgetreten, kehren sie in unregelmäßigen oder regelmäßigen Abständen immer wieder – häufig das ganze Leben hindurch bis ins höhere Alter. Bei den älteren Patienten nehmen die Beschwerden dann meist etwas ab. Was sollte der Gastroenterologe über das HAE noch wissen? Bork: Meistens sind die ersten Symptome Hautschwellungen und später kommen die Bauchschmerzattacken hinzu. Aber es kann auch vorkommen, dass die Abdominalattacken jahrelang alleine auftreten und später erst die Hautschwellungen. Dies ist nicht so einfach als HAE zu diagnostizieren, wenn nicht andere Familienmitglieder schon betroffen sind. Im Zweifelsfall sollte der Gastroenterologe einen Patienten mit Verdacht auf HAE an ein Angioödem-Zentrum überstellen, wo man mit HAE vertraut ist. Wir haben eine große Angioödem-Ambulanz in Mainz, in der wir mehrere Hundert HAE-Patienten betreuen. Was kann man therapeutisch machen? Bork: Es gibt unterschiedliche Behandlungsoptionen. Beispielsweise gibt es die Möglichkeit, den fehlenden C1-INH durch Zufuhr eines humanen C1-INH-Konzentrats zu ersetzen, sowohl in der akuten Behandlung als auch in der Kurzzeitprophylaxe und in der Langzeittherapie. Damit sind die Attacken gut behandelbar – vorausgesetzt, die Therapie wird frühzeitig eingeleitet. Zu betonen ist aber, dass dies keine Routinetherapie wie eine Grippebehandlung ist, sondern nur von erfahrenen Ärzten durchgeführt werden sollte, die sich mit dem Krankheitsbild HAE auskennen. Die Substitution von C1-INH kann sowohl vom Arzt als auch vom Patienten selbst nach entsprechender Schulung durchgeführt werden. Gerade Patienten in Selbstbehandlung sollten allerdings regelmäßig in einem HAE-Zentrum untersucht werden. Fachinformation Berinert® Literatur Gábos G et al., Lancet 2017, 390:2119–2120 Agostoni A et al., J Allergy Clin Immunol 2004, 114 (Suppl 3):S51–131 Maurer M et al., Allergy 2018, doi:10.1111/all.13384 Bork K et al., Am J Gastroenterol 2006, 101:619–627 Zotter Z et al., Orphanet J Rare Dis 2014, 9:44–49 Aygören-Pürsün E et al., Allergy 2013, 68:1034–1039 Bork K et al., Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 2011, 112:58–64 Späth PJ, Wüthrich B, Recenti Prog Med 1990, 81:513–531 Fachinformation Berinert®, Stand: April 2016 Dirks K et al., Ultraschall Med 2001, 22:186–190 Bork K et al., Dtsch Med Wschr 1997, 122:1347–1350 Impressum „Häufig nicht erkannt: Bei episodischen Abdominalattacken auch an das hereditäre Angioödem denken“ Literaturarbeit und Interview Bericht: Gudrun Girrbach, Hilden Artikel gedruckt in: Der Gastroenterologe, Band 13, Heft 46, Juli 2018 Mit freundlicher Unterstützung der CSL Behring GmbH, Marburg Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Romy Greiner Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature. Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. 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