Erschienen in:
01.02.2020 | Multiple Sklerose | Leitthema
Georg Schaltenbrand (1897–1979) und seine „entgrenzte Forschung“ zur Multiplen Sklerose
verfasst von:
Michael Martin, Heiner Fangerau, Prof. Dr. Axel Karenberg
Erschienen in:
Der Nervenarzt
|
Sonderheft 1/2020
Einloggen, um Zugang zu erhalten
Zusammenfassung
Georg(es) Schaltenbrand zählte nach 1945 zu den auch international bekanntesten deutschen Neurologen. In den Jahren 1953 bis 1954 wirkte er als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), 1967 wurde er zum Ehrenpräsidenten ernannt. Weniger bekannt ist, dass er von 1933 bis 1936 dem „Stahlhelm“ bzw. der SA angehörte und 1937 der NSDAP sowie weiteren NS-Gliederungen beitrat. Seit fast drei Jahrzehnten wird sein Name vor allem mit Humanexperimenten aus dem Jahr 1940 verbunden. Um die damals gängige Virusätiologie der Multiplen Sklerose (MS) zu beweisen, injizierte er nach mehrjährigen Vorstudien an Tieren hochgradig beeinträchtigten Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Werneck bei Schweinfurt sowie teils Schwerstkranken der Universitätsklinik Würzburg ohne deren Einwilligung Liquor cerebrospinalis von vermeintlich infizierten Affen bzw. MS-Patienten. Wochen später entnahm er z. T. mehrfach erneut Liquor zwecks Kontrolle der Entzündungsparameter. Obwohl nicht alle Details seiner Versuchsserie lückenlos aufzuklären sind, verstieß er damit gegen damals gültiges Recht und ethische Standards. Nach gegenwärtigem Forschungsstand führte er als einziger deutscher Professor für Neurologie während der NS-Zeit derartige Versuche am Menschen im Sinne einer „entgrenzten Forschung“ durch. Später rechtfertigte er sein Handeln damit, er habe die psychischen Störungen der Betroffenen günstig beeinflussen wollen. Gerichtliche Ermittlungen endeten 1948 ohne Anklage. Lange nach seinem Tod wurden die „Schaltenbrand-Experimente“ 1994 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, drei Jahre später distanzierte sich die Medizinische Fakultät Würzburg von ihrem ehemaligen Mitglied. Schaltenbrands Studie wird heute als eine Form inakzeptabler fremdnütziger Forschung an besonders vulnerablen Patienten angesehen, in deren Folge bereits in den 1930er-Jahren formulierte ethische Normen in internationalen Richtlinien, z. B. in der späteren Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes, bekräftigt wurden.