Einstellungen von Medizinischen Fachangestellten und Hausärzt:innen zum geriatrischen Assessment in der Hausarztpraxis
Eine Fragebogenerhebung in Thüringen, Berlin und Brandenburg
verfasst von:
Liliana Rost, Jutta Bleidorn, Susanne Döpfmer, Paul Jung, Markus Krause, Lisa Kümpel, Doreen Kuschick, Kahina Toutaoui, Dr. med. Florian Wolf, MBA
Das hausärztlich-geriatrische Basisassessment (hGBA) wird bei hausärztlichen Patient:innen ab dem vollendeten 70. Lebensjahr und geriatrietypischer Morbidität durchgeführt, um Alltagsprobleme und Funktionseinschränkungen strukturiert zu erfassen. Zum Nutzen des hGBA sowie zur Wahrnehmung, Akzeptanz und Anwendung auf hausärztlicher Versorgungsebene ist wenig bekannt.
Ziel der Arbeit und Fragestellungen
Welche Inhalte eines geriatrischen Assessments werden von Hausärzt:innen (HÄ) und Medizinischen Fachangestellten (MFA) als sinnvoll erachtet, welche werden nach Angabe der Befragten erbracht und wer führt welche Maßnahmen durch?
Material und Methode
Die Erhebung erfolgte unter KV-gelisteten HÄ und deren MFA in Thüringen, Berlin und Brandenburg mittels selbst konzipiertem und pilotiertem Fragebogen. Inhaltliche Grundlage waren das Manageable Geriatric Assessment (MAGIC) sowie das geriatrische Screening nach LACHS. Zur Einschätzung wurden ein fiktives Fallbeispiel und dichotome Antwortmöglichkeiten vorgegeben.
Ergebnisse und Diskussion
Es nahmen 890 HÄ (Rücklauf 16,1 %) sowie 566 MFA an der Befragung teil. Bezogen auf das Fallbeispiel wird das hGBA in teilnehmenden Hausarztpraxen unterschiedlich durchgeführt und bewertet. Beurteilungen von psychosozialer Situation (50,8 %) und Medikationsstatus (62,6 %) wurden laut den Befragungsteilnehmer:innen überwiegend von HÄ, standardisierte Tests häufiger von MFA durchgeführt. Nicht alle empfohlenen Inhalte und erbrachten Leistungen des hGBA werden von HÄ und MFA als sinnvoll erachtet.
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Hintergrund und Fragestellung
Durch den demografischen Wandel nimmt die Versorgung geriatrischer Patient:innen in der Hausarztpraxis zu. Hausärzt:innen (HÄ) und deren Praxispersonal beurteilen als langjährige Ansprechpersonen regelmäßig bestehende oder drohende Gebrechlichkeit (Frailty) sowie andere funktionelle Einschränkungen geriatrischer Patient:innen [1, 2]. Um Erkrankungen, Alltagsprobleme, Defizite und eventuelle Unterstützungsbedarfe bei dieser Patient:innengruppe standardisiert zu identifizieren und weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen einzuleiten, wurde die S1-Leitlinie „Geriatrisches Assessment in der Hausarztpraxis“ entwickelt (abgelaufen 01.2020; aktuell in Überarbeitung; [3‐5]). Den hausärztlichen Leitlinienempfehlungen liegt das Manageable Geriatric Assessment „MAGIC“ als multidimensionales Screeninginstrument zugrunde [5‐7], das eine Vereinfachung des standardisierten evidenzbasierten präventiven (STEP-)Assessments darstellt [8]. Konkrete Zielpopulation sind Patient:innen ab dem vollendeten 70. Lebensjahr mit gesundheitlichen Problemen in mehreren Organbereichen [2, 3, 5]. In der Hausarztpraxis erfolgt die Leistungsabrechnung des „hausärztlich-geriatrischen Basisassessments“ (hGBA) über die Gebührenordnungsposition (GOP) 03360 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM). Die Abb. 1 gibt einen Überblick über die für die Abrechnung der EBM-GOP 03360 obligaten Inhalte des hGBA [9].
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Das hGBA gemäß EBM und die mittlerweile abgelaufene hausärztliche Leitlinie sind nicht gleichzusetzen mit der fachspezifischen S1-Leitlinie Geriatrisches Assessment der Stufe 2 (Version 4.0; auch „Geriatrisches Basisassessment“ genannt), deren Inhalte in Deutschland in der akutgeriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung gefordert werden [10]. Eine strikte Trennung zwischen multidimensionalem Screening (z. B. Barthel-Index), eindimensionalen Assessments (z. B. MMST) und der Einleitung bzw. Koordination der Behandlung (im Sinne des hausärztlich-geriatrischen Betreuungskomplexes, EBM-GOP 03362) existiert im hausärztlichen Setting zumeist nicht. In der EBM-GOP 03360 werden einige standardisierte Testverfahren – jedoch nicht MAGIC – beispielhaft benannt. Die Durchführung solcher Tests kann grundsätzlich an nichtärztliches Fachpersonal wie geschulte medizinische Fachangestellte (MFA) delegiert werden [3]. Die anschließende Befundauswertung und -besprechung sind originär ärztliche Tätigkeiten. Zum tatsächlichen Ablauf und zur Durchführung des geriatrischen Assessments in Hausarztpraxen ist bisher wenig bekannt [4, 11].
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Die vorliegende quantitative Querschnittbefragung wurde von den Instituten für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Jena sowie der Charité, Universitätsmedizin Berlin, im Rahmen des Forschungspraxennetzes RESPoNsE durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert (Förderkennzeichen: 01GK1902).
Im April und Mai 2021 wurden in den Bundesländern Berlin, Brandenburg und Thüringen im Sinne einer Vollerhebung 5516 HÄ postalisch kontaktiert und um Teilnahme an der Befragung gebeten. Neben dem Anschreiben wurden je ein, bezüglich der inhaltlichen Items identischer Fragebogen für HÄ und für MFA beigefügt (Suppl. 1). Der Fragebogen durfte bei Teilnahme mehrerer MFA kopiert werden. Zur Anonymitätswahrung wurde die Teilnahme der HÄ auf separaten Antwortpostkarten bestätigt und in den Instituten unabhängig von den Fragebögen erfasst.
Der Fragebogen wurde auf Grundlage eingehender Literaturrecherchen in den gängigen Datenbanken konzipiert. Die im Folgenden berichteten Einstellungen der Befragten zum hGBA wurden anhand eines 72-jährigen Beispielpatienten erfragt. Die Wahl der Items durch eine Expert:innenrunde der allgemeinmedizinischen Institute Jena und Berlin orientierte sich an den nach EBM abrechenbaren obligaten Inhalten des hGBA (EBM 03360, Abb. 1), an den hausärztlichen Leitlinienempfehlungen zu MAGIC [4‐6] sowie an den Inhalten des geriatrischen Screenings nach Lachs [12]. Beide Screening-Instrumente sind multidimensional, beinhalten jeweils 15 Teilbereiche und wurden gewählt, da sie speziell für das ambulante Setting geeignet sind.
Die Pilotierung des Fragebogens erfolgte durch 5 HÄ und 2 MFA des RESPoNsE-Praxisbeirats mittels Think-aloud-Methode [13]. Dabei wurden die Dimensionen zu insgesamt 10 Items aggregiert (Suppl. 2). Dies diente der Itemreduktion und der Zusammenfassung inhaltlich ähnlicher Bereiche (z. B. Schwindel, Mobilität und Beweglichkeit zu Mobilität). In der im Rahmen der Pilotierung entstandenen Annahme, dass MAGIC nicht allen HÄ bekannt war, wurden die von der hausärztlichen Leitliniengruppe empfohlenen Screeningfragen bewusst nicht in den Fragebogen aufgenommen.
Der finale Fragebogen (Suppl. 1) umfasste 3 Abschnitte: 1) soziodemografische Daten zur Person/Praxis, 2) Fragen zur Delegation (separate Auswertung und Veröffentlichung; [14]), 3) Einstellungen zum hGBA.
Im letzten Abschnitt wurde am Beispiel eines multimorbiden 72-jährigen Patienten erfragt, ob Erhebungen der Selbstversorgungsfähigkeiten und möglicher Funktionseinschränkungen von den teilnehmenden HÄ und MFA als sinnvoll erachtet und tatsächlich – falls ja, durch wen – durchgeführt werden. Das Fallbeispiel wurde konstruiert, um eine einheitliche Grundlage für die Einschätzungen der Teilnehmenden zu schaffen. Bei der Wahl des fiktiven Beispielpatienten haben wir uns an den Vorgaben des EBM orientiert [7].
Da zum Ablauf und den Inhalten des GBA in Hausarztpraxen bisher wenig bekannt ist, entschieden wir uns für ein exploratives Vorgehen. Die Auswertung der Fragebögen erfolgte rein deskriptiv mittels SPSS Statistics (Version 27.0. Armonk, NY: IBM Corp). Der χ2-Test mit Kontinuitätskorrektur wurde genutzt, um post hoc mögliche Zusammenhänge zwischen Antwortverhalten und Profession der Befragten zu prüfen. Zur Erstellung des vorliegenden Manuskripts wurde das STROBE-Statement verwendet [15].
Die zuständigen Ethikkommissionen der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Antragsnummer: EA1/025/21), des Universitätsklinikums Jena (Reg.-Nr.: 2021-2176-Bef) und der Landesärztekammer Brandenburg (Antragsnummer: AS34[bB]/2021) stimmten dem Forschungsvorhaben zu.
Ergebnisse
Insgesamt nahmen 890 HÄ (Rücklaufrate 16,1 %) und 566 MFA aus Praxen in Berlin, Brandenburg und Thüringen an der Befragung teil. Im Vergleich zur Grundgesamtheit (GG) aller angeschriebenen HÄ in Berlin, Brandenburg und Thüringen (n = 5516) waren die Teilnehmenden häufiger ländlich (36,4 % vs. 28,8 %) und die gesicherten Non-Responder (ermittelt anhand der Antwortpostkarten) häufiger in Einzelpraxen tätig. Abgesehen davon fanden sich keine signifikanten Unterschiede in der Verteilung (Suppl. 3).
Die Mehrheit der Teilnehmenden war weiblich (HÄ 62,0 %, MFA 97,5 %). Die HÄ waren vorwiegend in Einzelpraxen (57,2 %, GG: 59 %) und zumeist selbstständig (81,1 %) tätig. Weitere Charakteristika sind Tab. 1 zu entnehmen.
Tab. 1
Charakteristika der Teilnehmenden
Ärzt:innen (n = 890)
MFA (n = 566)
Bundeslanda
Berlin
336 (38,0 %)
174 (31,3 %)
Brandenburg
223 (25,2 %)
138 (24,8 %)
Thüringen
325 (35,7 %)
242 (43,5 %)
Durchschnittsalter (SD)
54,4 Jahre (10,0)
46,1 Jahre (10,5)
Weiblich
552 (62,0 %)
541 (95,6 %)
Praxislage ländlich
324 (36,4 %)
232 (41,0 %)
Selbstständig
676 (76,0 %)
–
Einzelpraxis
491 (55,2 %)
–
Bei einzelnen Charakteristika wurde von Teilnehmenden von 0,7–3,9 % „keine Angabe“ getätigt. Die Prozentangaben beziehen sich auf n der gültigen Antworten
aRücklaufraten (Ärzt:innen/angeschriebene Praxen): Berlin 13,5 % (336/2491), Brandenburg 13,9 % (223/1608), Thüringen 22,9 % (325/1417); für MFA keine Rücklaufrate bestimmbar
Die Ergebnisse bezüglich der Durchführung und Sinnhaftigkeit einzelner Beurteilungen zum geschilderten Patienten sind in Abb. 2 dargestellt. Die Abb. 3 veranschaulicht, welche Profession die einzelnen Beurteilungen in der Praxis durchführt – jeweils berichtet aus Sicht der HÄ bzw. MFA.
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Im fiktiven Beispielfall würden 95 % der Befragten das hGBA erheben (in 30,5 % HÄ, in 20 % MFA und in 49,4 % beide Professionen) und zwar in 53,5 % der Fälle (52,8 % HÄ, 54,6 % MFA) strukturiert, in 10,1 % (11,5 % HÄ, 7,7 % MFA) unstrukturiert und in 29,9 % (30,8 % HÄ und 28,5 % MFA) im Rahmen der üblichen Konsultation.
Die statistische Auswertung mittels χ2-Test ergab, dass die Profession der Befragten in einem Großteil der Fälle keinen Einfluss auf die Bewertung der Durchführung einzelner Dimensionen hatte (Abb. 2). Fast alle vorgegebenen Assessmentbereiche wurden von HÄ sinnvoller bewertet als von MFA (8 von 10 Items, p < 0,001) sowie insgesamt häufiger durchgeführt als für sinnvoll empfunden (Abb. 2). Die Überprüfung des Medikationsstatus erfolgte in 90 % der Praxen (zumeist durch HÄ), jedoch erachteten 61,7 % der HÄ und 47,6 % der MFA diese als sinnvoll. Ähnliche Unterschiede zeigten sich auch bei der Erhebung des Impfstatus, wobei sich die Durchführung innerhalb der Praxisteams ausgewogener darstellte.
Beurteilungen der psychosozialen und der Ernährungssituation erfolgten in über 70 % der Praxen, wurden häufiger durch HÄ vorgenommen und als sinnvoll erachtet.
Bei der Erhebung des Hilfsmittelbedarfs sahen die beiden Berufsgruppen jeweils die eigene Profession in der Verantwortung (Abb. 3). Die Beurteilung der Hör- und Sehleistung wurde nur in knapp der Hälfte der Fälle als sinnvoll erachtet und ebenso häufig – dann am ehesten durch HÄ – durchgeführt.
Standardisierte Tests zur Beurteilung von Mobilität („timed up and go“), Selbstversorgung (Barthel-Index) und kognitiven Fähigkeiten (Mini-Mental-Status-Test) würden beim Beispielpatienten nach Einschätzung beider Berufsgruppen eher von der MFA durchgeführt (Abb. 3).
Diskussion
Bezogen auf den Beispielpatienten ergaben sich teils deutliche Unterschiede zwischen erachteter Sinnhaftigkeit und Häufigkeit der Durchführung einzelner abgefragter Leistungsinhalte. Bis auf die Überprüfung der Hör- und Sehleistung wurden alle vorgegebenen Bereiche häufiger durchgeführt als für sinnvoll erachtet (Abb. 2). Gründe für diese Diskrepanz könnten sowohl im Erfüllen der für die Abrechnung obligaten Leistungsinhalte als auch in der Anwendung beim konkreten Patientenfall liegen. Es wurde nicht erfragt, ob die Erhebung per se nicht sinnvoll oder nur 2‑mal pro Jahr im Rahmen des hGBA nicht zielführend sei.
Aufgrund der langjährigen Kenntnis ihrer Patient:innen treffen HÄ ihre klinischen Einschätzungen häufig im Rahmen der „erlebten Anamnese“ und vor dem Hintergrund des „Primats des Dringlichen“. Diese Besonderheiten der hausärztlichen Arbeitsweise können den subjektiven Nutzen standardisierter Assessments geringer erscheinen lassen. Laut Literatur könnten außerdem Validität, Notwendigkeit von Konsequenzen, die Möglichkeit zur Verlaufsbeurteilung, Effizienz und Effektivität sowie Bedeutung und Relevanz für Patient:innen ins Gewicht fallen [2, 4, 16].
In unserer Befragung wurden alle Dimensionen bis auf „Mobilität“ von den MFA als signifikant weniger sinnvoll erachtet als von den HÄ. Die Bedeutung und Sinnhaftigkeit einzelner Assessmentbereiche kann – unabhängig davon, wer sie durchführt – als geringer wahrgenommen werden, wenn aus der Erhebung keine unmittelbaren Konsequenzen abgeleitet werden. Dies trifft vor allem auf die MFA zu, weil die abschließende Einordnung und Bewertung der Assessmentergebnisse zumeist durch die HÄ erfolgt.
Dass 95 % der Befragten im fiktiven Beispielfall ein hGBA durchführen würden, die einzelnen Leistungsinhalte aber nur teilweise als sinnvoll erachten, erscheint uns bemerkenswert. Mögliche Gründe hierfür könnten die unterschiedliche Bewertung der klinischen Relevanz der zu erhebenden Dimensionen sowie ein geringer Strukturierungsgrad der Assessmenterhebung sein: Denn 40 % unserer Befragten gaben an, dass sie ein geriatrisches Assessment beim Beispielpatienten entweder unstrukturiert oder beiläufig im Rahmen der üblichen Konsultation durchführen. Es bleibt zu eruieren, ob gezielte Schulungen die Akzeptanz erhöhen oder strukturelle Bedingungen, Erhebungsmodalitäten und -häufigkeiten ursächlich für die vermeintlich geringe Akzeptanz sind.
Es wurde deutlich, dass die abgefragten Leistungsinhalte im unterschiedlichen Maß eher durch MFA oder eher durch HÄ durchgeführt wurden. Für Beurteilungen von Selbsthilfefähigkeit, Mobilität und Hirnleistungsstörungen stehen standardisierte Testverfahren (z. B. Barthel-Index, „Timed-up-and-go“-Test sowie MMST) zur Verfügung, welche an nichtärztliches Praxispersonal delegierbar sind. Den Körperpflegestatus erhoben vorrangig die MFA. Bereits am Tresen, im Labor oder im Funktionsbereich können MFA Defizite und Auffälligkeiten in diesem Bereich erkennen.
In einer Befragungsstudie von Henning et al. zeigten HÄ, MFA, Patient:innen mit Demenz und deren Angehörige hohe Akzeptanzwerte für die vollständige Übertragung der geriatrischen Assessmentbereiche Alltagskompetenz (analog zur Selbsthilfefähigkeit), Mobilitätseinschränkungen, Ernährungsauffälligkeiten sowie Seh- und Hörfähigkeit an MFA [17]. Im Rahmen eines Care- und Case-Management-Projekts führte die Delegation von geriatrischen Assessments an Versorgungskoordinator:innen ebenfalls zu positiven Effekten [18]. Dies deckt sich weitgehend mit den Ergebnissen unserer Studie und offenbart Delegationspotenziale an nichtärztliches Praxispersonal.
Die Erhebung des Medikationsstatus und der psychosozialen Situation stellen eher nicht delegierbare ärztliche Leistungen dar. Dass dennoch relativ häufig angegeben wurde, dass dies durch MFA erfolgt, könnte daran liegen, dass unterschiedlich aufgefasst wurde, was dies im Einzelnen beinhaltet. Hier ergeben sich evtl. auch Fortbildungsbedarfe hinsichtlich der Leistungsinhalte und hinsichtlich der Delegierbarkeit von Leistungen.
Die Erhebung des Impfstatus erscheint unter den Professionen relativ ausgewogen verteilt. Dies könnte damit zusammenhängen, dass der Impfstatus bereits am Tresen (z. B. mithilfe der Praxisverwaltungssoftware) erfragt bzw. als Wunsch der Patient:innen direkt an die MFA gerichtet wird. Indikationsstellung und Impfaufklärung sind hingegen nicht delegierbare ärztliche Leistungen [19].
Interessanterweise geben beide Berufsgruppen an, dass die Ernährungssituation sowie die Hör- und Sehleistung ebenfalls häufiger von HÄ beurteilt werden. Entsprechende standardisierte Test- und Messverfahren könnten jedoch an das nichtärztliche Personal delegiert werden.
Die Erhebung des Hilfsmittelbedarfs wurde häufiger der eigenen Profession zugeordnet. Ursächlich hierfür könnte eine unstrukturierte oder gar doppelte Erfassung innerhalb des Teams sein. Mit dem „Praxistipp: Hilfsmittel“ des MAGIC-Tools steht hierfür lediglich eine Auflistung verschiedener Utensilien, jedoch kein standardisiertes Abfrageinstrument zur Verfügung.
Limitationen
Die Ergebnisse unserer Studie beziehen sich auf die Angaben der Befragten hinsichtlich der Sinnhaftigkeit und Durchführung beim vorgegebenen Beispielpatienten. Bei anderen Fallkonstellationen oder offen gestellten Fragen ohne Beispiel könnten die Antworten abweichen. Möglicherweise werden einzelne Dimensionen lediglich im vorgegebenen Fall als nicht oder nur teilweise sinnvoll empfunden. Wie bereits diskutiert lassen die Antworten im Fragebogen keine Rückschlüsse zu, ob die Erfassung einzelner Dimensionen oder nur der Turnus (2-mal pro Jahr) als nicht sinnvoll bewertet wird.
Eine wichtige Limitation ist die relativ geringe, jedoch mit anderen Befragungen vergleichbare Rücklaufrate von 16,1 % (HÄ; [20]). Grund hierfür könnte die außerordentlich hohe Arbeitsbelastung während des Befragungszeitraums (Q2, 2021) gewesen sein, der mit dem Beginn der nationalen Coronaimpfkampagne in Hausarztpraxen zusammenfiel. Da mehrere MFA pro Standort teilnehmen konnten, war für diese keine Teilnahmerate bestimmbar. Ferner erfolgte die Auswertung lediglich explorativ-deskriptiv mit entsprechend begrenzter Aussagekraft.
Bei der Auswahl des geriatrischen Falls wurden so wenig Informationen wie möglich preisgegeben, da umfangreichere Informationen das Antwortverhalten (Anker‑, Vorinformationseffekt) beeinflussen könnten. Das Antworten nach sozialer Erwünschtheit lässt sich hingegen bei Befragungen nie vollständig verhindern, jedoch durch eine anonyme Teilnahme verringern.
Ausblick
Die Diskrepanz zwischen empfundener Sinnhaftigkeit und berichteter Durchführung bestimmter Leistungen beim Beispielpatienten offenbart Optimierungsbedarf. Auch sollte untersucht werden, warum fast alle Assessmentbereiche von den MFA weniger sinnvoll bewertet werden als von den HÄ. Die Überprüfung zusätzlicher Dimensionen bedeutet für alle Praxismitarbeiter:innen einen Aufwand, der nicht nur die Möglichkeit zur Abrechnung, sondern auch einen konkreten Mehrwert für die Patient:innenversorgung mit sich bringen sollte [16]. Eine grundsätzliche Etablierung des MAGIC-Assessments in Hausarztpraxen erscheint aktuell nicht praktikabel, da nur einige Leistungsinhalte notwendig für die Abrechnung gemäß EBM sind und die Auswahl der Dimensionen vor dem Hintergrund eines heterogenen Patientenkollektivs flexibel bleiben sollte. Da 40 % der Befragten nach eigener Angabe ein geriatrisches Assessment beim Beispielpatienten entweder unstrukturiert oder beiläufig im Rahmen der üblichen Konsultation durchführen, sollten durch weitere Befragungen von HÄ und MFA entsprechende Gründe sowie hemmende und förderliche Faktoren eruiert und eventuell geeignetere Tests zur bedarfsgerechten Erfassung der Dimensionen identifiziert werden. Auch die Patient:innenperspektive sollte Berücksichtigung finden [16]. Letztlich setzt eine etwaige Änderung von Praxisabläufen die Akzeptanz aller Beteiligten voraus. In unserer Befragung konnten die Perspektiven beider Berufsgruppen auf das GBA berücksichtigt werden, was statistische Vergleiche ermöglicht und als Stärke hervorzuheben ist.
Ebenfalls zeigen unsere Ergebnisse bis dato nicht ausgeschöpfte Delegationspotenziale in einzelnen Assessmentbereichen auf. Zukünftig könnten sich digitale Assessmentverfahren etablieren [21].
Es besteht weiterer Forschungsbedarf, um das hGBA in Hinblick auf Akzeptanz und Durchführbarkeit in der Hausarztpraxis weiterzuentwickeln. Eine Überarbeitung der Leitlinie sollte darauf abzielen, dass hausärztliche Praxisteams Assessmentverfahren in erster Linie zur Verbesserung der Versorgungsqualität und nicht – wie unsere Ergebnisse vermuten lassen – zu Vergütungszwecken anwenden. Die intensive Verzahnung bereits bestehender Strukturen ist für eine verbesserte und kosteneffektive Versorgung geriatrischer Patient:innen sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor unabdingbar [22]. Assessments in der Hausarztpraxis können dabei unterstützen, komplexe Bedarfe zu identifizieren und rechtzeitig eine fachärztlich-geriatrische Mitbehandlung zu initiieren. Darüber hinaus kann eine intersektorale Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen die umfassende Beurteilung und Versorgung von geriatrischen Patient:innen verbessern [23]. So kann beispielsweise die Überprüfung des Medikationsplans durch Apotheker:innen realisiert werden. Durch verbesserte Kommunikation zwischen Hausärzt:innen, Fachspezialist:innen und Pflegeteams kann zudem eine Mehrfacherfassung bestimmter Dimensionen (z. B. Hör- und Sehleistung, Kontinenz) vermieden werden.
Fazit für die Praxis
Die Vorgaben und Inhalte des hGBA werden von hausärztlichen Praxisteams unterschiedlich umgesetzt und hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit bewertet.
Es besteht Überarbeitungsbedarf des hGBA unter Berücksichtigung der Praktikabilität im hausärztlichen Setting sowie der Perspektiven von Hausärzt:innen (HÄ) und MFA.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
L. Rost, J. Bleidorn, S. Döpfmer, P. Jung, M. Krause, L. Kümpel, D. Kuschick, K. Toutaoui und F. Wolf geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die zuständigen Ethikkommissionen der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Antragsnummer: EA1/025/21), des Universitätsklinikums Jena (Reg.-Nr.: 2021-2176-Bef) und der Landesärztekammer Brandenburg (Antragsnummer: AS34[bB]/2021) stimmten dem Forschungsvorhaben zu.
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Einstellungen von Medizinischen Fachangestellten und Hausärzt:innen zum geriatrischen Assessment in der Hausarztpraxis Eine Fragebogenerhebung in Thüringen, Berlin und Brandenburg
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Liliana Rost Jutta Bleidorn Susanne Döpfmer Paul Jung Markus Krause Lisa Kümpel Doreen Kuschick Kahina Toutaoui Dr. med. Florian Wolf, MBA
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