Geschlecht ist sowohl in seiner biologischen Dimension „Sex“ als auch der soziokulturellen Dimension „Gender“ [
1] eine wichtige Determinante der Gesundheit, entlang derer Gesundheitsoutcomes und -risiken zwischen Frauen, Männern sowie genderdiversen Personen ungleich verteilt sind [
2,
3]. Allgemein wird Geschlechterungleichheit in internationalen Erhebungen in unterschiedlicher Form routinemäßig gemessen, z. B. mittels
Social Institutions and Gender Index der OECD [
4],
Gender Inequality Index der UNDP
1 sowie mittels
Gender Equality Index der Europäischen Union (EU)
2. Die kontinuierliche Erhebung und Bereitstellung geschlechtersensibler Gesundheitsdaten im Rahmen von Gesundheitsmonitoring und Gesundheitsberichterstattung sind von großer Public-Health-Relevanz: Im Sinne der Strategie
Health in All Policies können sie die Gesundheitsförderung und Gesundheitsversorgung verbessern,
Gender-Mainstreaming fördern und relevante Informationen für Gleichstellungsmaßnahmen zur Verfügung stellen [
5‐
7]. Dies erfordert jedoch die Entwicklung von geschlechtersensiblen Gesundheitsindikatoren.
Gesundheitsindikatoren sind ein wichtiger Bestandteil der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE). Sie sind definiert als quantitative oder qualitative Messgrößen, die Informationen mit Public-Health-Relevanz, etwa zu Bevölkerungsgesundheit, Gesundheitsdeterminanten sowie Gesundheitsversorgung, bereitstellen. Sie liefern vergleichbare und handlungsrelevante Informationen über Trends und Veränderungen des Gesundheitszustands der Bevölkerung in oder zwischen unterschiedlichen Settings (z. B. Länder, Regionen, Gemeinden, Bevölkerungsgruppen) [
8]. Gesundheitsindikatoren müssen die psychometrischen Anforderungen der Validität und Reliabilität erfüllen; sie müssen in der Lage sein, Veränderungen im Zeitverlauf zu messen, sie müssen einfach zu nutzen, verständlich und ethisch vertretbar sein [
8,
9].
Geschlechtersensible Indikatoren geben Aufschluss über die Gesundheitssituation von Frauen und Männern. Sie haben zudem das Potenzial, die gesundheitliche Lage und die Bedürfnisse von Personen abzubilden, die intersexuell, nichtbinär und nichtcisgeschlechtlich (sich nicht mit dem ihnen bei Geburt zugeordneten Geschlecht identifizierend) sind [
10,
11]. Ein reiner Geschlechtervergleich der gesundheitlichen Lage von Frauen und Männern birgt die Gefahr, ein zu homogenes Bild zu zeichnen und Geschlechterklischees zu verfestigen [
9]. Eine geschlechtersensible GBE kann dieser Gefahr entgegenwirken; sie bietet die Chance, durch den Einbezug von soziokulturellen Faktoren auch Entwicklungen von Gendernormen und Genderrollen nachzuzeichnen [
6].
Geschlechterunterschiede in der Gesundheit
Die Gesundheitsberichterstattung am Robert-Koch-Institut (RKI) [
12] stützt sich auf Leitlinien für die Einbeziehung der Geschlechterperspektive in die GBE [
13,
14]. Dies geschieht zum einen dadurch, dass Ergebnisse nach Geschlecht differenziert werden [
15], und zum anderen durch eigene Berichte zu Geschlecht und Gesundheit [
2,
3,
16].
Diese Art der Gesundheitsberichterstattung ermöglicht es, Geschlechterunterschiede in der Gesundheit aufzuzeigen, die unter anderem am Beispiel von nichtübertragbaren Krankheiten (NCDs) deutlich werden: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen und Atemwegserkrankungen sind die häufigste Todesursache in Deutschland
3 und weltweit [
17]. Im Jahr 2023 waren bei Frauen 36 % und bei Männern 32 % aller Todesfälle auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zurückzuführen, gefolgt von Krebserkrankungen (22 % bei Frauen, 25 % bei Männern) und Krankheiten des Atmungssystems (7 % bei Frauen, 8 % bei Männern)
3. Dennoch gelten Herz-Kreislauf-Erkrankungen überwiegend als „männliche Erkrankung“ und Frauen unterschätzen häufig ihr Erkrankungsrisiko [
18]. Geschlechterunterschiede zeichnen sich auch im Gesundheitsverhalten ab. Frauen verhalten sich häufig gesundheitsbewusster als Männer: Sie rauchen seltener täglich oder stark, trinken weniger Alkohol und ernähren sich ausgewogener als Männer [
2].
An der Schnittstelle zwischen Geschlecht und weiteren sozialen Differenzkategorien wird deutlich, dass Gesundheitsunterschiede nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Geschlechtergruppen bestehen. Das zeigt sich insbesondere bei NCDs: Sozial benachteiligte Personen, wie Menschen mit niedrigem Bildungsniveau, geringem Einkommen oder prekärer Beschäftigung, haben im Vergleich zu sozial bessergestellten Personen ein höheres Erkrankungs- und Sterberisiko [
19,
20]. So sind sozial benachteiligte Frauen und Männer häufiger von Herzinfarkten [
21], Schlaganfällen [
22], chronischer Bronchitis [
19] und Diabetes [
20] betroffen als Personen mit einem höheren sozioökonomischen Status. Auch bei Krebserkrankungen zeigen sich für Männer und Frauen soziale Ungleichheiten bei der Inzidenz bestimmter Krebsarten. So kommen Magen- und Gebärmutterhalskrebs häufiger unter sozial benachteiligten Frauen vor, wohingegen sozial bessergestellte Frauen häufiger von Brust- und Hautkrebs betroffen sind [
23]. Beim Gesundheitsverhalten zeigen sich ebenfalls Unterschiede: Laut GEDA 2019/2020-EHIS [
18] sind Frauen mit niedriger Bildung seltener sportlich aktiv, rauchen häufiger und essen seltener Obst und/oder Gemüse als Frauen mit hoher Bildung, welche wiederum häufiger riskante Trinkmengen an Alkohol konsumieren.
Menschen mit Migrationsgeschichte stellen eine heterogene Gruppe dar, sie unterscheiden sich sowohl nach soziodemografischen als auch nach migrationsbezogenen Merkmalen. Dementsprechend variieren die Krankheitsrisiken und Gesundheitschancen auch innerhalb der Gruppe der Frauen und Männer mit Migrationsgeschichte stark [
18]. Die Datenlage zu diesen Gruppen ist jedoch unzureichend. Einzelne Auswertungen, wie die des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für das Jahr 2016 [
2], zeigen beispielsweise, dass Frauen mit Migrationsgeschichte zwar häufiger chronische Beschwerden aufweisen, jedoch seltener von bestimmten NCDs, wie Herzerkrankungen, chronischen Rückenbeschwerden und Diabetes, betroffen sind als Frauen ohne Migrationsgeschichte. Insbesondere zugewanderte Frauen sind seltener sportlich aktiv, rauchen seltener und trinken seltener Alkohol in riskanten Mengen als Frauen ohne Zuwanderungsgeschichte, wobei es Unterschiede nach Migrationsgeschichte und Herkunftsland gibt [
24,
25].
Geschlechtersensibilität in der Gesundheitsberichtserstattung (GBE)
Geschlechtersensible Gesundheitsindikatoren zielen darauf ab, geschlechtsrelevante gesundheitliche Ungleichheiten und Geschlechterungleichheit als soziale Determinanten von Gesundheit zu beleuchten. Sie werden verwendet, um Ungleichheiten in Bezug auf Gesundheit und gesundheitsbezogene Outcomes zwischen Frauen, Männern, genderdiversen Personen sowie deren Subgruppen zu messen [
6]. Mittels geschlechtersensibler Indikatoren können gesundheitliche Outcomes und Phänomene mit den ihnen zugrunde liegenden soziokulturellen Normen und soziostrukturellen Machtsystemen (z. B. Geschlechternormen, Heteronormativität, Rassismus und Ableismus) in Beziehung gesetzt werden. Sie können Aufschluss über die Trends von Geschlechterungleichheit in der Gesundheit geben [
26].
Angelehnt an das Modell von der WHO und UNAIDS [
26] lassen sich folgende Kategorien der Geschlechtersensibilität von Gesundheitsindikatoren unterscheiden:
1.
geschlechterspezifische Indikatoren, die sich auf ein einzelnes Geschlecht oder eine Gruppe von Personen mit bestimmten biologischen Merkmalen beziehen (z. B. die Prävalenz von Prostatakrebs oder Endometriose),
2.
geschlechterbezogene Indikatoren, die sich auf eine Geschlechtsgruppe beziehen (z. B. die Prävalenz von Krebserkrankungen oder NCDs für eine Geschlechtsgruppe),
3.
geschlechterdifferenzierte Indikatoren, die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf weitere soziodemografische Variablen messen (z. B. die Prävalenz von Krebserkrankungen oder NCDs nach Geschlecht und Altersgruppe, Migrationsgeschichte oder Haushaltseinkommen),
4.
Indikatoren für Geschlechterungleichheit, welche Ungleichheiten zwischen Geschlechtern messen oder repräsentieren (z. B. Indikatoren, die plausible Zusammenhänge zwischen Gesundheitsoutcomes und soziostrukturellen/normativen Gegebenheiten herstellen, wie Gender-Pay-Gap, Gender-Care-Gap oder der Anteil von Alleinerziehenden in der Bevölkerung).
Erklärungsansätze für Geschlechterunterschiede in der Gesundheit und damit zusammenhängenden Faktoren können dazu beitragen, dass die GBE differenzierter über Gesundheitsoutcomes und -risiken berichten kann. Häufig fehlen diese jedoch; gerade hier besteht Forschungsbedarf [
9,
11,
27]. Die Einbeziehung von theoretischen Rahmenmodellen und Ansätzen zur Erklärung geschlechterspezifischer Ungleichheiten in der Gesundheit kann bei der Entwicklung von Gesundheitsindikatoren zu einem besseren Verständnis von Gesundheit und gesundheitsbezogenen Einflussfaktoren führen [
5]. Die Genderanalyse ist ein theoretischer Ansatz, der Sex/Gender als zentrale Analysekategorie versteht. Sie zielt darauf ab, geschlechtsbezogene Ungleichheiten vor dem Hintergrund verschiedener individueller, sozialer und struktureller Umstände zu identifizieren und zu thematisieren, die Personen in den ihnen zugewiesenen Geschlechterrollen unterschiedlich beeinflussen [
28]. Eine intersektional ausgerichtete Genderanalyse verwendet Sex/Gender als Hauptanalyseachse und hebt ihre Überschneidung mit anderen Kategorien sozialer Differenzierung (z. B. sozioökonomische, soziokulturelle und soziodemografische Faktoren) hervor [
29,
30]. Geschlecht als Gesundheitsdeterminante wirkt sich je nach sozialer Verortung unterschiedlich aus, was durch ineinandergreifende Privilegierungs- und Benachteiligungssysteme (z. B. Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, (Hetero‑)Sexismus,
Ageism und Klassismus) beeinflusst wird [
31,
32]. Um eine adäquatere Darstellung der gesundheitlichen Situation bestimmter Bevölkerungsgruppen sowie eine bessere Einbeziehung gesellschaftlicher (Macht‑)Verhältnisse und Strukturen als Gesundheitsdeterminanten zu ermöglichen, ist es daher hilfreich, intersektional informierte theoretische Ansätze in die GBE einzubeziehen [
6].
Projektziele
Diese sozialen und geschlechterbezogenen gesundheitlichen Ungleichheiten unterstreichen die Relevanz einer geschlechtersensiblen und intersektional informierten GBE. Bislang fehlt jedoch ein Set an geschlechtersensiblen Gesundheitsindikatoren, um Geschlechtersensibilität in der GBE zu stärken. Hier setzt das Pilotprojekt zu geschlechtersensiblen Gesundheitsindikatoren für die GBE (GBE-GI) zur Stärkung der Prävention von NCDs, inklusive Krebserkrankungen, als Teil der
Joint Action Prevent Non-Communicable Diseases (JA PreventNCD, 2024–2027,
https://www.preventncd.eu/, siehe Infobox
1) an, das von der Europäischen Union im Rahmen des EU4Health-Programms (GA – 101128023) kofinanziert wird.
Das Pilotprojekt zielt darauf ab, geschlechterspezifische Bedarfe für die Krebs- und NCD-Prävention zu identifizieren und durch einen intersektionalen Ansatz weiter zu spezifizieren. Dabei soll auf die Arbeit des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts
AdvanceGender (2017–2021; [
6]) und auf den RKI-Bericht „Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland“ (2020; [
2]) aufgebaut werden. In diesem Pilotprojekt werden bestehende geschlechtersensible Indikatoren/Indikatorensätze zusammengefasst, bewertet und zu einem Kernset von Indikatoren zusammengestellt, die geschlechterspezifische gesundheitliche Ungleichheiten und Determinanten für eine kontinuierliche GBE mit dem Fokus auf NCD- und Krebsprävention darstellen sollen. Dazu gehören zum Beispiel auch häufige gynäkologische Erkrankungen wie Endometriose und Uterusmyome sowie das Thema sexuelle Gesundheit. Durch den intersektionalen Ansatz können weitere Ungleichheitsdimensionen berücksichtigt werden, was eine präzisere Ausrichtung der Indikatoren auf tiefer gegliederte gefährdete Gruppen ermöglicht. Auf dieser Basis können Ansätze zur geschlechtersensiblen Förderung von Gesundheitsressourcen und Risikominderung in ausgewählten Zielgruppen entwickelt werden. Die Projektziele samt der Arbeitspakete (AP) umfassen im Einzelnen:
-
Identifizierung relevanter geschlechtersensibler Gesundheitsindikatoren für die GBE sowie theoretischer Erklärungsansätze für geschlechterspezifische gesundheitliche Ungleichheiten (AP1: Scoping-Review),
-
Entwicklung und Bewertung eines Indikatorensatzes geschlechtersensibler Gesundheitsindikatoren auf der Basis eines theoretischen Rahmenmodells und anschließende Zusammenfassung zu einem Kernsatz an Indikatoren (AP2: Delphi-Verfahren),
-
Integration des Kernsatzes geschlechtersensibler Gesundheitsindikatoren in die Webseite für Gesundheitsberichterstattung des RKI (AP3).