Hintergrund und Fragestellung
Jungen und Mädchen unterscheiden sich bereits vor Eintreten von Adoleszenz und Pubertät deutlich in Gesundheit, Gesundheitsverhalten und Entwicklung [
14,
22,
43,
46]. Präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen sollten daher Geschlechterunterschiede schon für die spezifische Altersgruppe der Kinder berücksichtigen. Dies entspricht der allgemeinen Forderung nach geschlechtergerechten oder geschlechtersensiblen Interventionen [
8,
26,
42]. Geschlechtersensible Gesundheitsförderung und Prävention haben das Ziel, geschlechtsbedingte Ungleichheiten von Gesundheitschancen zu reduzieren [
7]. Doch wie sollen Projektträger/innen in den verschiedenen Settings dies in der Arbeit mit Kindern praktisch umsetzen?
In der Literatur finden sich einige allgemeine konzeptionelle Überlegungen zur geschlechtersensiblen Prävention und Gesundheitsförderung wie beispielsweise: Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht bei der Maßnahmenplanung und -umsetzung auf verschiedenen Ebenen [
24], geschlechtergerechte Operationalisierung von Qualitätsparametern [
44], spezifische Probleme und Handlungsfelder bei Männern und Jungen [
2] und multisektorale Herangehensweise [
42]. Diesen Ansätzen ist allerdings gemein, dass sie nicht primär auf die Altersgruppe der Kinder fokussieren.
Von der anderen Richtung kommend ergab eine systematische Literaturrecherche [
28] wenige Ausführungen über Geschlechterunterschiede in verschiedenen gesundheitsrelevanten Bereichen bei Kindern, wie z. B. Motorik und Bewegung [
3,
5,
14] oder Körperbild [
47,
49]. Diese Unterschiede werden zwar benannt, aber nicht ausreichend erklärt, als dass daraus theoriegestützte Interventionsansätze abgeleitet werden können [
28]. Es sind v. a. Theorien zur Entwicklung und Stärkung des Kindes mit einem Fokus auf das Verhalten zu finden, die Berücksichtigung der Genderperspektive bleibt außen vor.
Eine systematische Praxisrecherche [
28] schließlich ergab einige vielversprechende Ansätze zur Umsetzung geschlechtersensibler Prävention und Gesundheitsförderung für Kinder, die auf wenige Bundesländer verteilt sind. Diese Angebote und Maßnahmen wurden jedoch meist aus dem Bedarf heraus und häufig ohne theoretische Konzeption entwickelt. Dabei gibt es einerseits geschlechtersensible Angebote in Einrichtungen, die sich an alle Kinder richten (z. B. [
51]). Andererseits gibt es Angebote, die grundsätzlich geschlechtshomogen arbeiten (z. B. [
19]). In den meisten Angeboten werden Beratungen, Kurse, Gruppenstunden oder Workshops angeboten. Thematisch sind diese sehr breit gefächert von verschiedenen Präventionsthemen wie Gesundheitsförderung, Suchtprävention oder Prävention von (sexueller) Gewalt über Selbststärkung, Selbstbehauptung oder Selbstverteidigung bis hin zur körperlichen Entwicklung, Ernährung oder Bewegung (z. B. [
4,
21]).
Insgesamt fehlen also konzeptionell-theoretische und praktisch fundierte Konzepte und Handlungsempfehlungen, wie geschlechtersensible Prävention bei Kindern in der Praxis aussehen kann [
32]. Aufgrund dieser Forschungslücken sollen im Rahmen der vorliegenden Arbeit die folgenden Fragen beantwortet werden.
1.
Was empfehlen Wissenschaftler/innen bzgl. der geschlechtersensiblen Prävention und Gesundheitsförderung für Kinder in den verschiedenen Settings und bzgl. der Qualifizierung entsprechender Praktiker/innen?
2.
Wie beurteilen Praktiker/innen die Empfehlungen der Wissenschaftler/innen zur geschlechtersensiblen Prävention und Gesundheitsförderung für Kinder und welche Chancen und Herausforderungen sind dabei zu berücksichtigen?
3.
Welche Empfehlungen lassen sich ableiten, um Kommunen und Anbietende bei der Entwicklung geschlechtersensibler präventiver und gesundheitsförderlicher Maßnahmen und Interventionen für Kinder zu unterstützen?
Ergebnisse
Nachfolgend werden die Ergebnisse einzeln zur jeweiligen Fragestellung dargestellt.
Die fünf wichtigsten Dimensionen, die zuvor im Workshop priorisiert worden waren, wurden im Nachgang zu ersten Empfehlungen der geschlechtersensiblen Prävention ausformuliert und von den strukturellen Faktoren (Ressourcen) über die Interaktion betreffende Faktoren (Partizipation) hin zu den das Individuum betreffende Faktoren (Geschlecht) angeordnet (Tab.
1).
Tab. 1
Ergebnisse aus dem Expertenworkshop mit Wissenschaftler/innen
Ressourcen | Es müssen Ressourcen (rechtliche, ökonomische, personelle und kompetenzbasierte) zur Verfügung stehen |
Setting | Das Thema der Geschlechtersensibilität muss als Querschnittsthema im Setting verankert werden (Dokumente, Sprache, Stellenbesetzung) |
Qualifizierung | Beteiligte Akteure und Fachkräfte müssen in der Thematik der Geschlechtersensibilität befähigt werden (Fortbildung, Selbstreflexion) |
Partizipation | Kinder, Eltern, Fachkräfte und weitere kommunale Akteure sollten an der Entwicklung geschlechtersensibler Präventionsangebote beteiligt sein |
Geschlecht | Mit verschiedenen Methoden kann „Geschlecht“ mit den Kindern thematisiert werden. Gleichzeitig sollte „Geschlecht“ wieder aus dem Fokus genommen werden |
Die Ergebnisse aus den Fokusgruppen zu den oben dargestellten Dimensionen und ersten Empfehlungen sind nachfolgend in Form von thematischen Zusammenfassungen dargestellt [
31,
36]. Die Dimensionen wurden im Prozess ergänzt und modifiziert.
Übergeordnete und gesamtgesellschaftliche Themen im Kontext der geschlechtersensiblen Prävention und Gesundheitsförderung
Ein zentraler Punkt der Fachkräftediskussion war die Berücksichtigung des familiären Kontextes, der Lebenslage oder des Sozialraums bei der geschlechtersensiblen Förderung von Kindern. Das Kind entwickelte sich abhängig von diesen und weiteren übergeordneten Einflüssen wie bspw. gesellschaftlichen oder kulturellen Werten und Normen oder medialen Inhalten. Die Befragten diskutierten, dass die Gesellschaft bestimme, was „Normalität“ in Bezug auf das Geschlecht bedeutet, und wie wichtig eine Loslösung von diesen Bewertungen sei. Eine Vielfalt in Kultur, Geschlecht, Lebenswelten etc. und deren Akzeptanz und Toleranz sei, laut den Fachkräften, nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu lösen.
Geschlechterspezifische Zuschreibungen, Stereotypisierungen oder Rollenvorstellungen seien tief verwurzelt und über Generationen in der Gesellschaft verankert. Die Fachkräfte beschrieben eine Diskrepanz zwischen in der Familie, in der Einrichtung und der Gesellschaft vermittelten Werten als problematisch. Laut den Aussagen würden große Unterschiede bei Werten oder Rollenvorstellungen zwischen städtischen und ländlichen Regionen, Nationalitäten, Religionen etc. herrschen, welche Auswirkungen auf das Kind haben können.
Ressourcen
Die Fachkräfte seien generell bei ihrer Arbeit mit Kindern, je nach Einrichtungsart, an rechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen auf Bundes- und Landesebene gebunden. Jedoch fehle es an einheitlichen Regelungen in der Art und Umsetzung von präventiven Maßnahmen. Viele Einrichtungen entschieden selbst über Art und Umfang der Maßnahmen in Abhängigkeit von den begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen. Daher sei es häufig schwierig über die festgelegten Rahmenbedingungen hinaus zu agieren.
Die Stellenbesetzung oder Weiterbildungsmöglichkeiten von Fachkräften würden generell maßgeblich von finanziellen Ressourcen abhängen. Diese sahen sich mit einer zunehmenden Verantwortung in ihren Aufgabenbereichen konfrontiert und wünschten sich eine bessere Verteilung der finanziellen Ressourcen. So erscheine es sinnvoll, dass Kommunen unterstützend bei der Umsetzung von Prävention wirken. Prävention sollte als Bildungsaspekt berücksichtigt werden und Maßnahmen sollten nicht nur für vulnerable Gruppen zur Verfügung stehen, sondern alle Kinder einschließen. Es wird eine paritätische Stellenbesetzung angestrebt, jedoch sei dies aufgrund des Fachkräftemangels nur schwer umsetzbar. Besonders in Kitas und im Vorschul- und Grundschulbereich seien männliche Fachkräfte stark unterrepräsentiert.
Um einen rechtlichen Rahmen für die Handlungsfähigkeit im Umgang mit den Kindern zu schaffen und die Persönlichkeitsrechte der Kinder und Fachkräfte zu schützen, hielten die Befragten ein Schutzkonzept in jeder Institution im Kinder- und Jugendbereich für wichtig und sinnvoll.
Setting/Lebenswelt
Kinder würden zu Hause bzw. in der Familie und in den Einrichtungen häufig mit unterschiedlichen Wertvorstellungen oder Rollenbildern konfrontiert. Auf eine wertschätzende Art und Weise sollte in den Einrichtungen darüber eine Auseinandersetzung stattfinden und es sollten verschiedene Vorstellungen zusammengebracht und gegenseitiger Respekt erarbeitet werden. Kinder sollten die Unterschiede nicht als Kluft begreifen, sondern verschiedene Lebenswelten, Rollenbilder etc. kennenlernen.
In Bezug auf die Stellenbesetzung scheine es sinnvoll, Fachkräfte mit Personalverantwortung für Vielfalt und Diversität zu sensibilisieren. Denn es sei wichtig, bei der Stellenbesetzung Vielfalt in Geschlecht, Herkunft etc. zu repräsentieren. Wie bei den Ressourcen bereits thematisiert wurde, sei die paritätische Besetzung allerdings häufig schwierig in der Umsetzung.
Das Thema Geschlechtersensibilität sollte in den Einrichtungen nicht unbedingt Schwerpunktthema sein, sondern eher als Querschnittsaufgabe verstanden werden, um dies in allen Arbeitsfeldern zu implementieren und grundsätzlich mitzudenken.
Austausch, Vernetzung und gegenseitige Stärkung vereinfachten viele Prozesse, auch in Bezug auf die Geschlechtersensibilität. Laut Aussagen der Befragten funktioniere dies in Form von Steuerungsgruppen oder Arbeitskreisen besonders gut.
Qualifizierung
Zunächst waren das Bewusstsein und die Reflexion über die persönliche Einstellung zu dem Thema Geschlecht und die eigenen Werte wichtig für die Befragten. In der Berufsausbildung werden i. Allg. Kompetenzen erworben, die grundlegend für die Entwicklung einer Grundhaltung seien. Diese sollte wertfrei und neutral sein und von einer allgemeinen Gleichberechtigung der Kinder ausgehen, welche allerdings in der Praxis häufig schwer umzusetzen sei. Man sollte daher versuchen, nah und lebensweltorientiert mit einer akzeptierenden Haltung auf Augenhöhe und subjektorientiert mit den Familien zu arbeiten.
Fort- und Weiterbildungen seien ebenfalls sehr wichtig, es herrschten jedoch unterschiedliche Meinungen dazu, ob das Angebot ausreiche. Allerdings bestand Einigkeit, dass es im Berufsalltag selten möglich sei, entsprechende Angebote wahrzunehmen. Deshalb sollten die Bereiche Reflexion, Kultursensibilität und Geschlechtersensibilität verstärkt in Form von Pflichtmodulen in Ausbildung und Studium thematisiert werden. Es sei eine Reform nötig, um mit den neuen Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels umzugehen.
Partizipation
Generell sei es wichtig, alle Beteiligten bei der Entwicklung und Durchführung von Angeboten zu berücksichtigen. Partizipation muss lebenswelt- und subjektorientiert stattfinden. Die Möglichkeiten der Partizipation hingen jedoch von der Motivation der Familien ab. Man sollte auf diese zugehen, sie mitnehmen und ihre Sichtweisen und Sorgen ernst nehmen, ihnen aber mit einer eigenen bzw. neutralen Haltung begegnen.
Für Kinder sei ein Rahmen, aber auch Grenzen der Partizipation wichtig. Ihre Ansichten würden in den Einrichtungen berücksichtigt, sie können sich einbringen, mitentscheiden oder Wünsche äußern. In einigen Einrichtungen sei die Partizipation von Eltern und Kindern fester Bestandteil in Form von Versammlungen, Räten etc.
Individuum
Kinder lernten durch Nachahmen und orientierten sich an Vorbildern, Regeln und Gruppen. Daher sollte für die Kinder eine wohlfühlende und sichere Umgebung geschaffen werden, in der sie sich an verschiedenen Vorbildern orientieren können und lernen, anderen Haltungen und Werten mit Respekt und Toleranz zu begegnen. Eine vertrauensvolle Basis zwischen Fachkräften und Kindern sei wichtiger Bestandteil der Bildungsarbeit.
Fachkräfte sollten das Aufbrechen von Geschlechterkategorien fördern. Zum einen sei es wichtig, den Kindern die Möglichkeit zur freien und geschlechterneutralen Entfaltung zu geben. Andererseits wurde betont, dass es auch wichtig ist, Themen wie das biologische Geschlecht bewusst aufzugreifen und sich mit den Kindern in einer nicht belehrenden und stereotypisierenden Form mit dem Verständnis von Geschlecht auseinanderzusetzen. Aktivitäten sollten geschlechterneutral und für alle Kinder zugänglich sein. Das bedeutet nicht, dass Jungen und Mädchen sich nicht für geschlechtstypische Aktivitäten entscheiden dürfen, jedoch sollte ihnen eine freie und geschlechterunabhängige Wahl ermöglicht werden. Kinder sollten ebenso in ihrer Persönlichkeit und ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt werden, um zu starken und selbstbewussten Individuen heranwachsen zu können.
In der Infobox
1 sind die ausgewählten Handlungsempfehlungen zur Umsetzung geschlechtersensibler Prävention und Gesundheitsförderung dargestellt, welche in dem finalen Workshop mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis gemeinsam erarbeitet wurden.
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