Aus der Psychotherapieforschung gibt es Belege für einen positiven Einfluss von Bindungssicherheit auf das Ergebnis einer Psychotherapie (Levy et al.
2018; Mallinckrodt et al.
2017) und ein höheres Niveau der therapeutischen Allianz (Bernecker et al.
2014; Diener und Monroe
2011; Mallinckrodt und Jeong
2015). Bindung, Bindungsstile und -repräsentationen können sich durch psychotherapeutische Behandlungen verändern (Mikulincer et al.
2003); eigene sichere interne Arbeitsmodelle („internal working models“, IWM) der Bindung aufseiten von Psychotherapeut:innen können bei der Behandlung besonders schwieriger Patienten helfen (Fraley et al.
2004).
Zentrale Merkmale des Bindungsverhaltenssystems sind IWM der Bindung. Diese sind sozial-kognitive Schemata, die sich in der frühen Kindheit herausbilden und über die gesamte Lebensspanne relativ stabil sind (Simpson et al.
2007). Die IWM integrieren bindungsbezogene Erfahrungen und prägen emotionale, kognitive und motivationale Muster von Bindungssicherheit, BV und BA. Sichere Personen sind zuversichtlich, dass andere in Zeiten der Not für sie da sein werden und sie nicht von anderen abhängig sind, aber sie vertrauen auch auf ihre Fähigkeiten zur Selbstregulierung. Vermeidende Personen ziehen es vor, ihre Notlage selbst zu bewältigen, da sie davon ausgehen, dass andere nicht verfügbar oder kompetent genug sind, um zu helfen. Ängstliche Menschen neigen dazu, ihre eigenen Regulierungsfähigkeiten zu unterschätzen, und suchen Hilfe bis hin zur Abhängigkeit von anderen. Auf psychologischer Ebene sind diese Muster mit zwei Regulationsstrategien verbunden: Hyperaktivierung als Hauptstrategie der BA und Deaktivierung als Hauptstrategie der BV. Beide operieren sowohl auf der Ebene der präemptiven als auch auf der Ebene der regulatorischen Strategien gegen emotionalen Stress, der mit unerfüllten Bindungsbedürfnissen verbunden ist (Grossmann et al.
1999; Von Sydow und Ullmeyer
2000).
Die Erhebung von Bindungsmustern, -stilen und -repräsentationen folgt zwei Forschungstraditionen. Die entwicklungspsychologische klinische Tradition bevorzugte historisch Verhaltenstests wie den Fremde-Situation-Test (Hazan und Zeifman
1999) oder linguistische Analysen von interviewbasierten Erzählungen, wie das Adult Attachment Interview (Fonagy
2003; Hazan und Shaver
1994). Beide haben den Vorteil, Bindungsdynamik und Regulationsstrategien zu beurteilen und gleichzeitig die Aktivierung des Bindungssystems entweder durch Trennung-Wiedervereinigung-Sequenzen oder spezifische Fragen zu bindungsbezogenen Themen zu provozieren. In ähnlicher Weise wird zusätzlich zu den drei organisierten Bindungsmustern (sicher, ängstlich, vermeidend) diagnostisches Material für eine Klassifizierung der Desorganisation des Bindungssystems geliefert.
Verhaltens- und interviewbasierte Messungen der Bindung sind allerdings zeitaufwendig. Während ihr wissenschaftlicher und klinischer Wert unbestritten ist, ist die Verwendung dieser Instrumente meist auf klinische Einrichtungen und große Studien begrenzt. Eine andere Methode zur Bewertung von Bindungsstilen stammt aus der Sozialpsychologie und der Forschung über intime Beziehungen (Kirchmann
2017). Hier beschreiben sich die Personen in Fragebogen zur Selbstauskunft bezüglich bindungsbezogenen Erfahrungen, Erwartungen und Zielen. Fragebogen zur Bindung haben sich von Single-Item-Messungen zu komplexen und bereichsspezifischen Instrumenten entwickelt (Kirchmann et al.
2007). Sie haben gemeinsam, dass sie Bindung als dimensionales Konstrukt konzeptualisieren, oft – aber nicht ausschließlich – durch Zuordnung der Items zu den Dimensionen der BA und BV. Beide Erhebungsansätze, d. h. interviewbasierte Erhebung und Fragebogen, zeigen eine nur geringe bis kein Konvergenz (Kirchmann et al.
2007; Strauss et al.
2022).
Geschlechts- und Altersunterschiede bezüglich Bindungsmerkmalen
Nachdem Bindungsthemen Einzug in die klinische Welt gefunden haben (Schmidt und Strauß
1996; Strauß und Schmidt
1997) wurden viele Studien durchgeführt, in denen Bindungsmerkmale von Patientinnen und Patienten im Kontext entwicklungspsychopathologischer Theorien, zunehmend aber auch im Kontext von Psychotherapie (auch im Sinne eines Mediators oder Moderators) untersucht wurden. Das diesbezügliche Wissen ist mittlerweile sehr umfangreich (Strauß und Schauenburg
2016).
Vor allem in der ersten Zeit der Erwachsenenbindungsforschung in den 1980er- und 1990er-Jahren, die in erster Linie im nichtklinischen Kontext erfolgte (Grossmann und Grossmann
2012), wurden Geschlechtsunterschiede im Hinblick auf Bindungsmerkmale für relativ irrelevant erachtet. Grossmann und Grossmann (
2012) schrieben im Zusammenhang mit Ausführung zu verinnerlichten Bindungserfahrungen, dass sich „geschlechtsspezifische Unterschiede zum … Teil nachweisen“ lassen, „allerdings, verglichen mit anderen Bereichen menschlichen Verhaltens, in Bindungsbeziehungen fast nur im Zusammenhang mit andersartigen Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit oder erst später in der Erwachsenenpaarbeziehung“. Im Zusammenhang mit Bindungsbefunden zum Vorschulalter resümieren Grossmann und Grossmann: „Da aber die Bindungsforschung so gut wie keine bemerkenswerten Unterschiede in der Bindungsentwicklung von Jungen und Mädchen finden konnte und in den dyadischen Interaktionen Geschlechtsunterschiede bei Kindern weitgehend zurücktreten, wird das Thema hier nicht weiter behandelt.“ Auch in den frühen Metaanalysen über die Verteilungen von Bindungsmustern wurden keine Geschlechtsunterschiede berichtet.
In bestimmten Kontexten, insbesondere dem einer evolutionstheoretischen Debatte bindungstheoretischen Wissens, spielen Geschlechtsunterschiede in jüngster Zeit eine größere Rolle (Euler
2020). Diese beziehen sich u. a. auf Studien frühkindlicher Vater- vs. Mutter-Kind-Interaktionen, die zeigen, dass eine sichere Vater-Kind-Bindung von anderen Faktoren abhängig zu sein scheint als eine sichere Mutter-Kind-Bindung. Beispielsweise scheint die Spiel- bzw. Explorationsfeinfühligkeit auf väterlicher Seite eine größere Rolle zu spielen (Grossmann und Grossmann
2012).
Ein Autor, der seit mehr als 10 Jahren immer wieder zur Thematik der Geschlechtsunterschiede in Bindungsmerkmalen publiziert, ist Del Guidice (
2019,
2009,
2011; Del Giudice und Belsky
2010). Del Guidice vertritt die Auffassung, dass es durchaus Geschlechtsunterschiede gibt, wobei er auf die mittlere Kindheit fokussiert. In dieser Phase sind, seinen Beobachtungen und Metaanalysen (Del Giudice
2011) zufolge, Jungen wahrscheinlicher vermeidend gebunden, während Mädchen eher ängstlich erscheinen. Als entwicklungspsychologischen „Wendepunkt“ sieht er die Adrenarche: Der evolutionsbiologische Sinn dieses Unterschieds sei, dass ein vermeidendes Verhaltensmuster bei männlichen Personen durch ein erhöhtes Maß an Aggression und einen ausgeprägteren Selbstbezug charakterisiert ist, was bei Männern oftmals mit höherem Status und Popularität verbunden ist. Mädchen dagegen lösen durch ein ängstlicheres Muster eher Hilfe aus, indem sie eine „Tend-and-befriend“ Taktik ausüben.
Empirische Befunde zu Geschlechterunterschieden der Bindung im Erwachsenenalter sind allerdings heterogen. Kirkpatrick (
1998) kommt in seinem Review zu dem Schluss, dass Männer in romantischen Partnerschaften stärker vermeiden als Frauen. Schmitt (
2003) fand zwar die erwarteten Geschlechterunterschiede in vielen der 62 untersuchten Länder (kleine bis moderate Effekte). Jedoch gab es im Durchschnitt über alle einbezogenen Länder (17.804 Probanden) keine signifikanten Geschlechterunterschiede hinsichtlich der BV (gemessen mit dem Relationships Questionnaire [RQ]). Ebenso fanden Van IJzendoorn und Bakermans-Kranenburg (
2010) in ihrer Metaanalyse keine Geschlechterunterschiede hinsichtlich der Verteilung der Bindungsrepräsentationen (gemessen mit dem Adult Attachment Initerview [AAI]; 10.000 Probanden). Vielmehr ergaben sich Verteilungsunterschiede in Bezug auf das Land. In der Metaanalyse von Del Giudice (
2011) mit 65.047 Probanden wurden bei Männern im Durchschnitt höhere BV und niedrigere BA festgestellt (gemessen mit partnerschaftsbezogenen Selbstbeurteilungsinstrumenten). Allerdings war nur der Effekt für Bindungsängste statistisch signifikant.
Obwohl Bindung im Erwachsenenalter sowohl auf der Verhaltens- wie der internen Repräsentationsebene deutlich zeitstabiler zu sein scheint als in Kindheit und Adoleszenz (Behringer
2017), spielen Alterseffekte auch dann noch eine Rolle (Kirchmann
2017; Van Assche et al.
2013). Die wenigen längsschnittlichen Studien mit Beobachtungszeiträumen bis zu 6 Jahren weisen eher auf eine Zunahme von Bindungssicherheit als auf Bindungsunsicherheit hin (Behringer
2017). Eine deutlich größere Zahl von Querschnittstudien an unterschiedlichen Alterskohorten legt hingegen nahe, dass BA mit dem Alter abnimmt, BV jedoch nicht (Van Assche et al.
2013). In einer groß angelegten Online-Studie mit über 86.000 Teilnehmern (von denen knapp 72 % weiblich waren) schätzten sich die jüngeren Alterskohorten als signifikant bindungsängstlicher ein als die älteren Probanden, die wiederum signifikant bindungsvermeidender waren (Chopik et al.
2013). Sowohl Geschlecht als auch Partnerschaftsstatus erwiesen sich als Moderatoren. Insgesamt müssen die Heterogenität der Bindungsdiagnostik, das Querschnittdesign der meisten Untersuchungen und die relativ kurzen Katamnesen der Längsschnittstudien sowie die z. T. geringen Fallzahlen methodenkritisch hervorgehoben werden, sodass die Zusammenhänge zwischen Alter und Bindung bei Erwachsenen nicht abschließend geklärt sind.
Messinvarianz
Hinsichtlich der heterogenen Geschlechtereffekte ist die methodische Frage aufgeworfen worden, ob die jeweils verwendeten Bindungsinstrumente Bindung in verschiedenen Gruppen (z. B. bei Männern und Frauen) überhaupt in gleicher Weise messen, bzw. ob eine Messinvarianz vorliegt (Alessandri et al.
2014; Altmann et al.
2022; Gray und Dunlop
2019). Konfigurale Messinvarianz hebt darauf ab, dass in allen betrachteten Gruppen die gleichen Indikatoren auf den interessierenden Faktor (bzw. Bindungsdimension) laden. Metrische Messinvarianz ist gegeben, wenn für jedes Item gilt, dass es in allen betrachteten Gruppen in gleicher Weise auf den Faktor (Bindungsdimension) lädt. Skalare Messinvarianz liegt vor, wenn sich pro Item die Interzepte in den Gruppen gleichen. Bei strikter Messinvarianz gleichen sich je Item die Varianzen der Residualvariablen in den verglichenen Gruppen. Nur wenn konfigurale, metrische und skalare Messinvarianz vorliegen, sind die Faktoren (z. B. Summen-Scores von partnerschaftsbezogenen Bindungsverfahren) überhaupt sinnvoll vergleichbar.
Untersuchungen zur Messinvarianz von Bindungsinstrumenten sind bislang rar, obwohl sie für Gruppen- und Kohortenvergleiche von fundamentaler Bedeutung sind (Graham und Unterschute
2015). Im Hinblick auf das Vorliegen einer psychischen Störung werden für den Fragebogen Experiences in Close Relationships (ECR; Alessandri et al.
2014) und die Kurzform des Bielefelder Fragebogens zu Partnerschaftserwartungen (BFPE12; Altmann et al.
2022) konfigurale, metrische und skalare Messinvarianz berichtet. Die einzige den Autoren des vorliegenden Beitrags bekannte Untersuchung der geschlechtsbezogenen Messinvarianz bei Bindungsinstrumenten ist von Gray and Dunlop (
2019) vorgelegt worden. Sie berichten für den Adult Attachment Questionnaire (AAQ) teilweise eine skalare Messinvarianz und für den ECR-Revised-Fragebogen sogar eine strikte Messinvarianz. Einschränkend muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass Gray und Dunlop (
2019) die geschlechtsbezogene Messinvarianz mit einem explorativen Strukturgleichungsmodell (ESEM) untersuchten, da das Modell der konfirmatorischen Faktorenanalyse (CFA) einen ungenügenden Modell-Fit aufwies. Die Untersuchung der Messinvarianz wurde somit erst durch Zulassen von Kreuzladungen möglich (kennzeichnend für ESEM; Gray und Dunlop
2019), wodurch allerdings die Idee distinkter Bindungsdimensionen unterlaufen wird. Studien zur Messinvarianz bindungsdiagnostischer Instrumente von Alterskohorten sind bisher nicht publiziert.
Die vorliegende Studie fokussiert auf die deutsche Kurzversion des Experiences in Close Relationships-Revised, den ECR-RD8 (Ehrenthal et al.
2021). Der ECR-RD8 basiert auf dem ECR‑R (Brennan et al.
1998), der mit jeweils 18 Items BA und BV misst. In der Metaanalyse von Graham und Unterschute (
2015) war die Reliabilität der ECR-R-Skalen im Vergleich zu Adult Attachment Scale, Revised Adult Attachment Scale, AAQ und ECR am größten (BA α = 0,897 und BV α = 0,908). Beide Skalen weisen zudem eine hohe konvergente Validität mit anderen partnerschaftsbezogenen Bindungsinstrumenten zur Selbstbeschreibung auf (Strauss et al.
2022).
Die deutsche Version, der ECR-RD (Ehrenthal et al.
2009), ist seit Längerem verfügbar. Anhand einer Hauptkomponentenanalyse haben Brenk-Franz et al. (
2018) eine Kurzversion mit jeweils 6 Items für BA und BV vorgeschlagen: den ECR-RD12. Allerdings konnte die propagierte 2‑faktorielle Faktorenstruktur weder in einer bevölkerungsrepräsentativen (Ehrenthal et al.
2021) noch in einer klinischen Stichprobe (Flemming et al.
2021) konfirmatorisch bestätigt werden. Ehrenthal et al. (
2021) haben deshalb mit dem ECR-RD8 eine weitere Kürzung zu einer 8 Items umfassenden Version vorgeschlagen. Dessen Faktorenstruktur ist konfirmatorisch abgesichert, die Reliabilität beider Skalen ist als gut zu bewerten (McDonald’s ω > 0,8), und die Skalen der Kurz- (ECR-RD8) und Langversion (ECR-RD) korrelieren in hohem Maß (Ehrenthal et al.
2021).