Weg ins Medizinstudium: „Es bedarf keiner Akademikerfamilie“ – oder doch?

Arztkind versus Arbeiterkind: Eine Ärztin und ein Arzt in Weiterbildung berichten von ihrem Weg ins Studium – und welchen Einfluss ihre soziale Herkunft darauf hatte. Daten des Hochschulbildungsreport 2022 zeigen, dass 79 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien ein Studium beginnen, aber nur 27 Prozent der Kinder aus Arbeiterfamilien. Besonders stark ist dieses Ungleichgewicht bei den Studiengängen ausgeprägt, die mit einem Staatsexamen abschließen – zum Beispiel bei der Humanmedizin. In der Medizin fällt außerdem auf: Jeder vierte Studierende hat Eltern, die selbst Mediziner sind. Das sind Ergebnisse des KBV Berufsmonitoring. Daher stellt sich die Frage: Wie beeinflusst die soziale Herkunft den Weg ins Medizinstudium? Dr. Caroline Rinkel, Sie sind in der Weiterbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Mittelbaden und kommen aus einer Arztfamilie: Ihr Vater war bis 1998 Oberarzt in der Neurologie und Psychiatrie am Bundeswehrkrankenhaus in Ulm und arbeitete anschließend beim Medizinischen Dienst BadenWürttemberg. Wie haben Sie den Beruf Ihres Vaters in Ihrer Kindheit wahrgenommen? Dr. Caroline Rinkel: Wir waren ab und an zu Besuch bei meinem Papa im Krankenhaus. Er kannte in der Klinik ja viele Leute, der Umgang war daher sehr familiär. Oft hört man, dass Menschen überhaupt nicht gerne ins Krankenhaus gehen – das war bei mir nicht so. Christian Kunze, Sie absolvieren ihre Weiterbildung zum Facharzt für Anästhesiologie am Klinikum Herford und sind in Bad Salzuflen im ländlichen Nordrhein-Westfalen aufgewachsen – in einer Nichtakademikerfamilie: Ihr Vater ist Industrieelektriker und Ihre Mutter gelernte Chemielaborantin, zuletzt aber in der Altenpflege tätig. Welche Erinnerungen haben Sie an das Arbeitsleben Ihrer Eltern? Christian Kunze: Eigentlich gar keine. Meine Mutter durfte ich nicht auf der Arbeit besuchen und auch meinen Vater konnte ich nicht bei seinen Kundenbesuchen begleiten. Allerdings hat er mir gezeigt, wie man die Elektrik im häuslichen Bereich repariert, das hat mich schon interessiert. Also wollten Sie zunächst Elektriker werden, wie Ihr Vater? Kunze: Ja, ich wollte irgendwas mit IT oder Elektrotechnik machen. Davon bin ich aber abgerückt, nachdem ich mich mehr mit der Materie auseinandergesetzt habe. Da ich schon immer eine Faszination für Naturwissenschaften hatte, kam dann mein Interesse für den Arztberuf auf. Wie war das bei Ihnen, Frau Rinkel: Kam es für Sie überhaupt infrage, einen Ausbildungsberuf zu ergreifen, oder wollten Sie schon immer Ärztin werden? Rinkel: Tatsächlich wollte ich, seit ich klein war, Ärztin werden. Aber vor dem Medizinstudium habe ich bereits eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin abgeschlossen. In der Ausbildung habe ich viel fundiertes Wissen zur Notfallmedizin vermittelt bekommen, davon profitiere ich heute noch. Für mich stand also immer das Ziel, Ärztin zu werden im Vordergrund und nicht der Weg dahin. Dank der Ausbildung starteten Sie mit medizinischem Know-how ins Studium. Aber wie viel Vorwissen hatten Sie bereits durch Ihren Vater? Rinkel: Wenn der Papa Arzt ist, wird beim Abendessen natürlich auch über medizinische Themen gesprochen und die haben mich immer interessiert. Mein Vorwissen ist aber eher durch meine Ausbildung gekommen. Hat Sie etwas am Arztberuf abgeschreckt, wenn Ihr Vater beim Abendessen von seiner Arbeit berichtet hat? Rinkel: Nein, tatsächlich nicht. Und das, obwohl mein Papa mir immer gesagt, dass ich mir gut überlegen soll, ob ich nicht doch etwas anderes machen möchte. Er war sich halt im Klaren darüber, dass der Arztberuf auch Negatives mit sich bringt und das Studium sehr anstrengend ist. Er hat aber auch gesehen, dass mir mein erstes Praktikum im Krankenhaus sehr viel Freude bereitet hat, und mich seitdem natürlich immer unterstützt. Wenn er heute gefragt wird, ob er stolz ist, dass seine Tochter auch Ärztin ist, sagt er meist: Ich konnte sie nicht davon abhalten! Wie war das bei Ihnen, Herr Kunze, wussten Sie vor dem Studium, was es bedeutet, Arzt zu sein? Kunze: Während der Oberstufenzeit habe ich ein einwöchiges Praktikum im Krankenhaus, in der Chirurgie in Bielefeld, gemacht. Dort habe ich einen ersten Eindruck vom Klinikalltag bekommen, war mit im OP und mit auf Station. Die Dienste, die Wochenendarbeit und andere prekäre Situationen hatte ich natürlich nicht wahrgenommen. Caroline Rinkel, Sie haben Ihr Studium geschafft und arbeiten als Ärztin in Weiterbildung. Welchen Einfluss hatte Ihr Vater bis dato auf Ihre Karriere? Rinkel: Generell bin ich nicht Ärztin geworden, weil mein Papa Arzt ist. Und der Grund, warum ich mein Studium geschafft habe war auch vorrangig meine eigene Motivation, am Ende Ärztin zu sein. Dennoch haben mich meine Eltern immer unterstützt. Und ich hatte natürlich den Vorteil, dass ich mich mit fachlichen Fragen an meinen Papa wenden konnte. Mit ihm konnte ich medizinische Sachverhalte noch mal genauer besprechen. Das hat mir viel geholfen. Auch jetzt in der Weiterbildung hilft es mir sehr, mit meinem Papa über Fälle zu sprechen, bei denen ich nicht weiterweiß. Hatten Sie hingegen einen Nachteil, weil Ihre Eltern keine Ärzte sind, Christian Kunze? Kunze: Was das Fachliche angeht, wahrscheinlich schon. Als Kind einer Arztfamilie kriegt man sicherlich das ein oder andere noch einmal ganz anders von seinen Eltern erklärt, die einen ja schon das ganze Leben lang kennen. Aber für den Rückhalt aus der eigenen Familie bedarf es keiner Akademikerfamilie. Und für die fachlichen Fragen hatte ich nach einiger Zeit an der Universität ein Netzwerk von Kommilitonen gebildet. Könnte es auch Vorteile haben als Medizinstudierender aus einer medizinfremden Familie zu kommen? Kunze: Vorteile – das will ich jetzt gar nicht so genau sagen. Man geht vielleicht bis zu einem gewissen Grad unvoreingenommener an die Dinge heran. Ein klarer Vorteil von Kindern aus Akademikerfamilien ist jedoch, dass sich etwa zwei Drittel von ihnen bei der Studienfinanzierung gänzlich auf ihre Eltern verlassen können. Dies trifft nur auf 15 bis 20 Prozent der jungen Menschen aus Arbeiterfamilien zu. Wie war das bei Ihnen? Kunze: Ich wurde während meines Studiums tatsächlich finanziell von meinen Eltern unterstützt und war nicht BAföG-berechtigt. Nebenbei habe ich gejobbt, aber das wäre nicht unbedingt notwendig gewesen. Ich glaube, ich wollte mir selbst beweisen, dass ich nicht immer auf alles angewiesen bin, was ich bekommen kann, sondern manches auch schon selbst schultern konnte. Rinkel: Ich habe nicht nebenher gearbeitet. Stattdessen habe ich von meinen Eltern jeden Monat einen Fixbetrag bekommen und so gelernt, mit einem begrenzten Geldbetrag auszukommen. Für die fachlichen Fragen hatte ich nach einiger Zeit an der Universität ein Netzwerk von Kommilitonen gebildet. Christian Kunze Zeit für ein Zwischenfazit: Letzten Endes haben Sie beide Ihr Medizinstudium abgeschlossen und absolvieren nun Ihre Weiterbildung. Besteht im Medizinstudium und auf dem Weg dahin also eine Chancengleichheit? Kunze: Eine Gleichheit gibt es in Deutschland meiner Meinung nach nicht, eine eklatante Ungleichheit sehe ich aber auch nicht. Die Zulassungsbeschränkung ist zwar für viele eine riesige Hürde und man braucht schon während der Schulzeit den Rückhalt aus der Familie. Man muss aber auch sagen, dass das Vergabesystem mittlerweile ja breiter gefächert ist als früher … Rinkel: So ist es! Als Herr Kunze und ich mit dem Medizinstudium begonnen haben, war das Studium in Deutschland noch sehr stark über den Numerus clausus geregelt. Es bestand meiner Meinung nach – unabhängig von der sozialen Herkunft – keine Chancengleichheit. Ich war davon selbst betroffen und musste im Ausland – in Graz – studieren. Ich war an einer öffentlichen Universität und es fiel keine Studiengebühr an. Aber ich habe mit meinen Eltern auch darüber gesprochen, an einer privaten Uni in Ungarn zu studieren. Ich hätte die finanzielle Unterstützung dafür bekommen. Das wäre eine Chance gewesen, die sicher nicht jeder hat. Folglich spielt die Herkunft schon eine Rolle und bestimmt, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, Medizin zu studieren. Führt das aktuelle Zulassungssystem dazu, dass motivierte Studienanwärter, die möglicherweise aufgrund ihres sozialen Hintergrunds keinen perfekten 1,0-Abiturschnitt haben, ins Ausland gehen und dem deutschen Gesundheitssystem fernbleiben? Rinkel: Ich möchte den Spieß umdrehen. Auch im Ausland – zum Beispiel in Österreich – gibt es dieses Wort: Ärztemangel. Österreich hat zusätzlich das Problem, dass nicht jedes Bundesland eine eigene Medizinuniversität hat. Es kommt also ohnehin zu einer Abwanderung in die Bundesländer, wo die Medizinuniversitäten liegen. Zusätzlich hat Österreich das Problem, dass einige Leute nur zum Studium ins Land kommen und dann wieder nach Deutschland zurückgehen. Das war auch in meinem Freundeskreis so. Wenn man aus einer Akademikerfamilie kommt, hat man nicht automatisch eine weniger weltoffene Sicht – man hat ja nicht jahrelang auf einer einsamen Insel gelebt. Dr. Caroline Rinkel Zurück nach Deutschland: Hier studieren ja größtenteils Menschen aus Akademikerfamilien und jeder vierte Medizinstudierende hat mindestens ein Elternteil, der selbst Arzt oder Ärztin ist. Denken Sie, dass dies die Versorgung von Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten gefährdet? Rinkel: Sie spielen wohl darauf an, dass man sich möglicherweise nicht so gut in andere Berufsgruppen hineinversetzen könnte. Aber ich denke, dass dabei vieles eine Rolle spielt: was man in seinem Leben schon gesehen hat, wo man hingereist ist oder wo man gearbeitet hat. Wenn man aus einer Akademikerfamilie kommt, hat man nicht automatisch eine weniger weltoffene Sicht – man hat ja nicht jahrelang auf einer einsamen Insel gelebt. Ich habe zum Beispiel durch den Rettungsdienst Einblicke in verschiedene soziale Schichten bekommen. Kunze: Ich denke auch, dass man Patientinnen und Patienten offener gegenübertritt, wenn man Erfahrungen mit verschiedensten Menschen sammeln konnte. Ich persönlich bin in einer ländlichen Region aufgewachsen und war bei der Feuerwehr. Man kann aber auch Eindrücke gewinnen, wenn man vor oder neben dem Studium arbeitet. Letzten Endes sollte der Arzt oder die Ärztin die Emotionen und Mikroexpressionen der Patienten wahrnehmen und deuten können, statt immer alles hochmedizinisch zu erklären. Zuletzt möchte ich über Ihr berufspolitisches Engagement sprechen. Caroline Rinkel, Ihr Vater ist Landesvorsitzender des Hartmannbunds in Baden-Württemberg und Mitglied des Vorstands. Hat Sie dies inspiriert 2020, selbst in die Berufspolitik zu gehen? Rinkel: Eindeutig. Ich habe durch meinen Papa mitbekommen, was der Hartmannbund leistet. Ich hatte also einen kurzen Draht, zur Berufspolitik und die Hemmschwelle zum Einstieg war niedriger. Sie setzen sich beim Hartmannbund für bessere Arbeitsbedingungen für junge Ärzte ein. Kommt dieses Interesse auch daher, dass Ihr Vater in Ihrer Kindheit lange Arbeitstage in der Klinik hatte? Rinkel: Die Hauptmotivation kommt aus meinem eigenen Erleben der Arbeitsbedingungen in der Klinik. Viele Strukturen im Gesundheitssystem erschweren uns den Arbeitsalltag. Der einzige Weg, etwas zu ändern, ist über das Aktivwerden in der Berufspolitik. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, war mein Papa immer bei allen wichtigen Veranstaltungen, Geburtstagen und Auftritten vom Orchester oder Chor. Ich hatte nie das Gefühl, dass er wegen seiner Arbeit nicht kommen konnte. Aber er war ja auch nur bis 1998 im Bundeswehrkrankenhaus tätig und im medizinischen Dienst fiel der Schichtdienst weg. Klar hat er immer viel gearbeitet, aber das ist ja bei vielen Vätern und Müttern so. Die kommen auch oft nicht vor 18 oder 19 Uhr nach Hause. Christian Kunze, warum sind Sie seit 2019 beim Hartmannbund aktiv? Kunze: Ich hatte ja durch meine Eltern keine Anbindung zur Berufspolitik. Mein Interesse wurde daher erst im klinischen Studienabschnitt geweckt. Ich dachte: Mensch, das ist so ein toller Beruf, aber die Bedingungen, die von außen aufoktroyiert werden, sind ausbaufähig. Lang habe ich die Situation nur beobachtet, dann hat mir ein Kommilitone, der bereits im Hartmannbund aktiv war, angeboten, zu einem Treffen mitzukommen. Heute freue ich mich sehr, dass es dieses Netzwerk gibt und wir Forderungen stellen können. Spielt das Thema Chancengleichheit bei Ihnen in der Berufspolitik eine Rolle? Kunze: Wir Assistenzärzte setzen uns vornehmlich für bessere Arbeitsbedingungen ein. Ich denke auch, dass es in der Weiterbildung heute eine Chancengleichheit gibt. Es gibt aber auch Studierenden-Vertretungen, bei denen es sicherlich mehr um das Thema gehen könnte. Frau Rinkel, Sie meinten, dass es keine Chancengleichheit auf dem Weg zum Medizinstudium gebe. Herr Kunze, Sie sagten, dass es weder eine Gleichheit, noch eine Ungleichheit gebe. Was müsste sich also ändern, um die Frage nach der Chancengleichheit klar mit einem Ja beantworten zu können? Rinkel: Man müsste schon in der Schule ansetzen, um mehr jungen Menschen den Weg zur Hochschulreife zu ermöglichen. Auch müsste es mehr finanzielle Unterstützung geben, wenn man ein Medizinstudium beginnen möchte. Viele müssen für das Studium in eine andere Stadt ziehen und können nicht mehr bei den Eltern leben. Das ist sicher ein Grund, warum viele Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten sich entscheiden, doch nicht Medizin zu studieren. Herr Kunze, welche Baustellen würden Sie am ehesten angehen? Kunze: Ich finde, man muss das Problem gesamtgesellschaftspolitisch angehen. Nicht nur die soziale Herkunft kann die Weichen stellen, ob man Medizin studiert, sondern auch die Region, in der man aufgewachsen ist. Vielleicht ist es einigen gar nicht möglich, in einer anderen Stadt zu studieren. Daher gibt es ja auch die BAföG-Reformen. Jedoch gibt es nun einfach eine begrenzte Anzahl an Medizinstudienplätzen und eine hohe Zahl an Interessenten. Dass bei der Zulassung eine Auswahl getroffen werden muss, ist ja allen klar. Ich denke, dass sich hier in den vergangenen Jahren einiges weiterentwickelt hat: Die Auswahlverfahren der Hochschulen wurden differenzierter, es werden abgeschlossene Ausbildungen im medizinischen Bereich angerechnet, sodass junge Leute mit Vorerfahrungen, eher bevorzugt werden als jene, die diese nicht haben. Das könnte eine Chance sein. Vielen Dank für das Interview Dr. Caroline Rinkel und Christian Kunze. Quelle: Ärzte Zeitung

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