Mit dem Alter steigt das Risiko für Gesundheitsbeschwerden. Häufigster Grund für einen Frühausstieg aus dem Erwerbsleben ist eine gesundheitsbedingte Erwerbsminderung. So gewinnen Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) in Zeiten alternder Belegschaften an Bedeutung. Inwieweit älteren Beschäftigten BGF-Maßnahmen angeboten werden, ist Gegenstand dieser Untersuchung.
Hintergrund und Fragestellung
Die Arbeitswelt bietet die Chance, unabhängig von sozialen und gesundheitlichen Voraussetzungen einen Großteil der Erwachsenenbevölkerung mit gesundheitsfördernden Maßnahmen zu erreichen [
16]. Mit Blick auf den Fachkräftemangel und technologischen Fortschritt haben die meisten Unternehmen ein existenzielles Interesse daran, Beschäftigte langfristig an sich zu binden und neue Arbeitskräfte zu gewinnen. Bedarfsorientierte Gesundheitsförderungsangebote können, neben dem Erhalt von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten, auch diesem Zweck dienen [
9].
Aufgrund der demografischen Entwicklung und damit verbundener politischer Entscheidungen, z. B. Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, altern die Belegschaften in Deutschland [
13]. Das Risiko für das Auftreten von körperlichen Gesundheitsbeschwerden steigt ab Mitte der fünften Lebensdekade deutlich an [
14]. Angesichts des anhaltenden Älterwerdens der Belegschaften ist davon auszugehen, dass künftig noch mehr Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen arbeiten werden. Frühere Analysen auf Basis der repräsentativen GEDA(Gesundheit in Deutschland aktuell)-Studiendaten zeigten, dass über einen Zeitraum von 5 Jahren (Befragung 2008–2010 zu 2014/2015) der Anteil von älteren Beschäftigten mit schlechter Gesundheit deutlich um schätzungsweise 44 % anstieg [
10].
Für die BGF sind Beschäftigte höheren Alters eine besondere Zielgruppe [
22]. BGF-Maßnahmen, die sich spezifisch an diese Klientel richten, gibt es in der Praxis jedoch selten [
18]. Allerdings lässt sich insgesamt die Angebotsverbreitung von BGF-Maßnahmen in Deutschland aufgrund der heterogenen Studienlage schwer einschätzen [
9].
Die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Untersucht wird das wahrgenommene Angebot von BGF-Maßnahmen für ältere sozialversicherte Beschäftigte anhand eines repräsentativen Kollektivs nach personen-, tätigkeits- und betriebsbezogenen Merkmalen. Folgende Forschungsfragen sollen beantwortet werden: (1) Welche Betriebe offerieren BGF-Angebote? (2) Welche Beschäftigtengruppen erhalten BGF-Angebote?
Diskussion
Viele der beobachteten Unterschiede bestätigen die Ergebnisse früherer Untersuchungen zur BGF-Angebotsverbreitung sowie zu Ungleichheiten auf individueller und betrieblicher Ebene: Von den Befragten stimmten 47,1 % einem BGF-Angebotserhalt zu. Die Angebotsverbreitung ist vergleichbar mit früheren lidA-Studienergebnissen (Befragung 2018: 49,1 %; [
4]) und stimmt weitestgehend überein mit Untersuchungsergebnissen der repräsentativen BIBB(Bundesinstitut für Berufsbildung)/BAuA(Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin)-Erwerbstätigenbefragung von 2018, wo 46 % der Erwerbstätigen im Alter von 51–60 Jahren ein BGF-Angebot bestätigten [
11]. Konform mit diesen Studienergebnissen [
11] zeigten sich auch signifikante BGF-Angebotsunterschiede zugunsten von Männern, Jüngeren, beruflich besser Gestellten, jenen ohne Migrationserfahrung und mit besserer Gesundheit.
Eine mögliche Erklärung für die höhere Angebotschance für Männer kann der höhere Anteil von Teilzeitbeschäftigung bei Frauen sein. Hierzulande arbeitet gut die Hälfte aller weiblichen Erwerbstätigen in Teilzeit, bei den männlichen ist es ein Zehntel [
21]. Die Angebotsunterschiede sind möglicherweise auch durch die Branchenzugehörigkeit (mit-)erklärbar. So bestätigen Beschäftigte männerdominierter Branchen wie IT, naturwissenschaftliche Dienstleistungen und Fertigungstechnik deutlich häufiger ein BGF-Angebot als Beschäftigte sozialer, kultureller Dienstleistungen und im Gesundheitssektor. Entsprechend zeigte die Sensitivitätsprüfung (nicht dargestellt) unter Kontrolle der betrieblichen und tätigkeitsbezogenen Merkmale keinen signifikanten Geschlechtsunterschied im Erhalt von BGF-Angeboten. Dies sollten weitere Studien prüfen. Die höhere Angebotschance für Männer ist nicht gleichzusetzen mit ihrer Erreichbarkeit für Maßnahmen. Bestehende BGF-Angebote werden von Frauen deutlich häufiger genutzt [
3,
4]. Möglich ist, dass BGF-Angebote sich nicht in gleichem Ausmaß am Bedarf von Männern orientieren wie bei Frauen [
4,
7]. Dies spricht dafür, Teilnahmehürden zu erforschen – besonders von schwer erreichbaren Personengruppen mit Gesundheitsrisiken.
Ein guter Gesundheitszustand war übereinstimmend mit anderen Studienergebnissen [
11] mit einer höheren Angebotschance assoziiert. Das kann als Erfolg der BGF angesehen werden oder aber auf einen Angebotsbedarf für Betriebe deuten, in denen die Beschäftigtengesundheit schlecht ist.
Hinsichtlich der Migrationsunterschiede bleibt unbeantwortet, ob Betriebe, Beschäftigten mit eigener Migrationserfahrung tatsächlich seltener BGF-Angebot offerieren oder ob vorhandene Angebote in dieser Beschäftigtengruppe seltener bekannt sind. So sind Personen mit Migrationserfahrung z. B. in der Leiharbeit überrepräsentiert tätig [
6]. Der BGF-Angebotszugang kann sich für Beschäftigte dieser Unternehmen schwieriger gestalten [
20]. Der Zusammenhang von Migration und BGF-Angeboten sollte daher in weiteren Studien geprüft werden. Für eingeschränkte Zugangschancen bestimmter Beschäftigtengruppen sprechen unsere festgestellten Unterschiede bezüglich Arbeitszeit und Homeoffice. Gerade während der Coronapandemie wurden viele BGF-Maßnahmen online angeboten und die Bereitschaft älterer Beschäftigter, entsprechende Angebote zu nutzen, ist signifikant angestiegen [
15,
18]. Beschäftigte in Homeoffice sind hier im Vorteil. Tätigkeitsart und -ort können für einen Angebotszugang demnach entscheidend sein. Zugleich macht das Beispiel deutlich, welches Potenzial in einem zusätzlichen BGF Online-Angebot für Beschäftigte, die von zu Hause aus arbeiten, steckt.
Übereinstimmend mit anderen Studienbefunden [
9,
11,
12] zeigt sich, dass BGF-Angebote überwiegend von großen Betrieben offeriert werden. Mit den Ergebnissen des IAB(Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung)-Panels 2012 und der BIBB-BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 übereinstimmend zeigen sich besonders niedrige Angebotsquoten für die Branchen Handel und Gastronomie [
11,
12]. Aufgrund der unterschiedlichen Branchenkategorisierung sind Vergleiche zu diesen Befunden aber eingeschränkt.
Unseren Ergebnissen nach werden BGF-Angebote eher von Betrieben offeriert, in denen weitere gesundheitsdienliche Strukturen bestehen. Da es sich bei der Beschäftigtenpartizipation um einen BGF-Grundbestandteil handelt [
8], sind die Ergebnisse hierzu erwartungstreu. Möglicherweise spielt in Betrieben, die eine Beschäftigtenpartizipation anstreben und betriebsärztlich versorgt werden, das Thema Gesundheit insgesamt eine größere Rolle. Die Betriebsgröße kommt als eine alternative Erklärung für den Zusammenhang in Frage. Meist gibt es in größeren Betrieben eine bessere monetäre und personelle Ausstattung, um BGF-Angebote zu ermöglichen [
2]. Dagegen sprechen unsere Ergebnisse der Sensitivitätsprüfung, die einen signifikanten Effekt der betriebsärztlichen Versorgung, kontrolliert für die Betriebsgröße und alle anderen unabhängigen Variablen bestätigt. Offen bleibt, ob es sich um eine Koinzidenz handelt. Weitere Studien sollten diese strukturellen Zusammenhänge näher untersuchen.
Zu den Stärken der lidA-Studie zählt die hohe Fallzahl von drei Jahrgängen älterer Beschäftigter, die in hohem Maße repräsentativ sind für alle sozialversicherten Beschäftigten dieser Jahrgänge in Deutschland. Als Limitation ist das Querschnittdesign dieser Untersuchung zu nennen, welches keine Aussagen zu kausalen Beziehungen oder einer bestimmten Richtung beobachteter Zusammenhänge erlaubt. Durch das Studiendesign, mit Integration einer Auffrischungs- und Aufstockungsstichprobe zu den Panelfällen in der vierten Erhebung (2022/23), sind Selektionseffekte nicht auszuschließen. In Selektivitätsanalysen zur Detektion systematischer Verzerrungen zeigten sich allerdings nur sehr moderate Effekte. Das lässt auf relativ geringe Selektionsbias schließen [
17]. Eine Einschränkung dieser Untersuchung ist zudem, dass nicht weiter nach der Art der BGF-Angebote differenziert wurde. Das würde allerdings den Rahmen dieser Studie übersteigen und bleibt Folgeuntersuchungen überlassen.
Schlussfolgerungen
Unsere Ergebnisse an einem repräsentativen Sample älterer Erwerbstätiger lassen darauf schließen, dass Beschäftigte, die aufgrund ihrer sozialen und gesundheitlichen Voraussetzungen im Fokus der BGF stehen sollten (jene mit einfachen und manuellen Tätigkeiten, mit Migrationserfahrung, über 60-Jährige), geringere BGF-Angebotschancen haben als andere. Es zeigen sich deutliche Unterschiede in der Angebotsverbreitung hinsichtlich der Betriebsgröße zum Nachteil kleinerer Betriebe und Branchenzugehörigkeit zum Nachteil insbesondere der Branchen Handel, Gastronomie, Produktion, Verkehr, Reinigung und Sicherheit. Das BGF-Angebot muss für solche Risikogruppen verbessert werden bzw. die älteren Beschäftigten müssen über bestehende Angebote besser informiert werden. Auch ist darüber nachzudenken, auf welchen Wegen man BGF-Angebote Beschäftigten offeriert, die aufgrund der Tätigkeitsart und -ort einen erschwerten Zugang zu Angeboten haben und gesundheitsbezogen als Risikogruppen gelten.
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