Einleitung
Die Betreuung von Patient:innen mit Gliomen wird in Österreich überwiegend in spezialisierten neuroonkologischen Zentren durchgeführt. Die Qualitätskriterien für diese spezialisierten Einrichtungen sind klar definiert und erfordern ein hohes Maß fachlicher Expertise, inklusive leitlinienkonformer Behandlungsstrategien, sowie starker interdisziplinärer Vernetzung (Versorgungsmodell des ÖSG 2017, Neuroonkologische Zentren „NONKZ“). Dazu gehören die enge Zusammenarbeit der Organfächer Neurologie, Neurochirurgie und Neuropathologie mit Radioonkologie, Internistischer Onkologie, Radiologie und Nuklearmedizin. Zusätzlich ist eine enge Kooperation mit der Palliativmedizin, der Neuropsychologie und Psychoonkologie sowie der Pflege, der Sozialarbeit und der Neurorehabilitation (Physiotherapie, Ergotherapie, Neuropsychologie) notwendig.
Diesem komplexen fachlichen und organisatorischen Zusammenspiel ist es geschuldet, dass das diagnostische und therapeutische Management von Patient:innen mit Gliomen in der Regel an ausgewiesenen, neuroonkologischen Zentren angeboten wird. Der hohe Grad der Spezialisierung ist die Voraussetzung, um an nationalen und internationalen Forschungsinitiativen teilzunehmen. Damit können bereits frühzeitig aktuellste Forschungsentwicklungen inklusive modernster diagnostischer und therapeutischer Verfahren für Österreich zugänglich gemacht werden.
Zusätzlich wird die Betreuungsqualität aller österreichischen Neuroonkologischen Zentren für Patient:innen mit Glioblastomen – dem häufigsten primären Hirntumor des Erwachsenenalters – über ein nationales Register (ABTR-SANOnet) monitorisiert und im Rahmen von jährlichen Treffen im Sinne der Qualitätskontrolle und des Benchmarkings aufgearbeitet.
Dieser hohe Grad der Spezialisierung und der damit verbundene Ressourcenaufwand (Zeit/Personal/Kosten) beinhaltet eine ständige Abwägung von Nutzen/Risiko für unsere Patient:innen, welcher laufend unter fachlichen, ethischen und auch ökonomischen Gesichtspunkten abgewogen und über das ABTR-SANOnet einer Qualitätskontrolle unterzogen wird. Dem persönlichen Einsatz des in den neuroonkologischen Zentren tätigen Personals und der entsprechenden finanziellen Deckung durch die öffentliche Hand, welche die Voraussetzung für eine bestmögliche Betreuung dieser Patientengruppe ist, stehen die sog. „alternativen“, also unkonventionellen Praktiken, die anstatt der medizinischen Wissenschaft, und die „komplementären“ Praktiken, welche begleitend angeboten werden, gegenüber.
Unter dem Begriff Komplementärmedizin wird ein breites Spektrum von Disziplinen und Behandlungsmethoden zusammengefasst, die auf anderen Modellen der Entstehung von Krankheiten und deren Behandlung basieren als jene der medizinischen Wissenschaften. Definitionsgemäß werden sie „ergänzend“ eingesetzt.
Alternativmedizin, „Complementary and Alternative Medicine – CAM“, Ganzheitsmedizin, Integrative Medizin, Naturheilkunde, traditionelle Medizin (z. B. chinesische, europäische, tibetische …) sind verwandte Überbegriffe, die Heilmethoden oder diagnostische Konzepte bezeichnen. Die heutige Begriffsvielfalt geht zurück auf die lange Tradition der Auseinandersetzung zwischen anerkannten Verfahren der empirischen Wissenschaften und den sog. „Außenseitermethoden“. Das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (
www.sozialministerium.at) favorisiert den Begriff Komplementärmedizin, um zu signalisieren, dass die Methoden nicht als Alternativen zu den medizinischen Wissenschaften angesehen werden sollen.
Ethisches Spannungsfeld in der Neuroonkologie: „alternative“ oder „komplementäre“ Praktiken
Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen „alternativen“ und „komplementären“ Praktiken ist in der Praxis nicht immer möglich. Oft werden sie auch als Synonyme verwendet. Gerade im Bereich der „alternativen“ Praktiken finden sich aber auch Anhänger, die der Wissenschaft ablehnend und mitunter feindlich gegenüberstehen. Dabei ist zu besonderer Vorsicht geraten, wenn durch das beworbene „Behandlungsangebot“ in Aussicht gestellt wird, die Prognose der Krebserkrankung maßgeblich zu verbessern oder sogar zu heilen. Eine Grenze zu ziehen, zwischen dem fragwürdigen Spiel mit der Hoffnung und dem pragmatischen Verfolgen von Geschäftsinteressen, hängt nicht zuletzt von den abverlangten Kosten ab. Ethisch fragwürdig sind beide Ansätze aber allemal.
Fragwürdiges Spiel mit der Hoffnung und primäres Verfolgen von Geschäftsinteressen
Alternative oder komplementäre Praktiken beinhalten ein breites Spektrum an Substanzen und Anwendungen. Eine klare Definition fehlt bislang [
9,
18]. Ihnen gemeinsam ist die mangelnde oder fehlende wissenschaftliche Evidenz.
Aus unserer persönlichen Erfahrung unterliegen sowohl alternative als auch komplementäre Praktiken zeitlichen Schwankungen. Manche Ansätze sind eher kurzlebig wie z. B. Vitamintherapien, Antioxidanzien, Nahrungsergänzungsmittel, Krebsdiäten, Phytotherapie, Kräutermischungen, Omega-3-Fettsäuren, ECCT („electro-capacitive cancer therapy“) mit einer Dauer von Monaten bis wenigen Jahren [
2]. Andere halten sich über mehrere Jahre und länger wie z. B. Methadon, CBD, Misteltherapie, Hyperthermie, „HyperbaricOxygen“, Magnetismus, Energietherapie, Akupunktur, Homöopathie, TCM
(siehe auch: Zentren Leitlinienprogramm Onkologie (S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen Langversion 1.0 – Juli 2021 AWMF-Registernummer: 032/055O) https://register.awmf.org).
Etwa 30–50% aller Glioblastompatient:innen verwenden zusätzliche alternative und komplementäre Praktiken
Laut einer Untersuchung haben 74 % der behandelnden Ärzt:innen keine Kenntnis über „alternative“ oder „komplementäre“ Verfahren ihrer Hirntumorpatient:innen [
15]. Dies mag einer der Gründe sein, warum wir bislang wenig belastbare Daten über die tatsächliche Verwendung von alternativen und komplementären Praktiken haben. Einzelne Untersuchungen gehen von etwa 30–50 % aller Hirntumorpatient:innen aus, die zusätzlich alternative und komplementäre Praktiken verwenden. Dabei entscheiden sich, laut den bisherigen Erkenntnissen, eher jüngere und höher gebildete Patient:innen für diese zusätzlichen Verfahren [
4,
5,
7,
12]. Bei Patient:innen mit Glioblastomen ist der höchste Prozentsatz (74 %) für die Anwendung „alternativer“ und/oder „komplementärer“ Praktiken beschrieben [
2]. Angehörige spielen hier oft eine (mit)entscheidende Rolle [
7,
12]. Für den hohen Anteil bei Glioblastomen ist möglicherweise auch der Umstand verantwortlich, dass diese Patientengruppe die ungünstigste Prognose unter allen Gliomen aufweist und damit ein erhöhter Druck besteht, nach „alternativen“ Therapieangeboten zu suchen. Als definitive Gründe für den Einsatz von „alternativen“ oder „komplementären“ Verfahren werden häufig die „Stärkung des Immunsystems“, die „Unterstützung der Standardtherapie“, die „Verbesserung des Wohlbefindens“, oder „alles irgendwie Mögliche“ zu versuchen, angegeben [
7].
Eine gute Übersicht über komplementäre oder alternative Praktiken bietet die Homepage von Quackwatch, eine Initiative von Stephen Barret. Über Quackwatch ist es Mediziner:innen möglich, sich auf hohem evidenzbasierten Niveau rasch aktuelle Informationen über diverse komplementäre oder alternativmedizinische Maßnahmen zu holen.
Mögliche Wegbereiter für „alternative“ oder „komplementäre“ Praktiken
Auch im klinischen Alltag einer neuroonkologischen Spezialambulanz kommt es nicht selten zu zeitlichen und personellen Engpässen. Daraus resultierend bleibt oft wenig Raum für eine ausreichende Kommunikation mit Patient:innen und Angehörigen über die potenzielle Anwendung „alternativer“ oder „komplementärer“ Praktiken. Des Weiteren stehen diese selten primär im Vordergrund des Arzt-Patienten-Gesprächs, da es laufend folgenschwere medizinische und persönliche Entscheidungen zu treffen gilt. Dies mögen wesentliche Faktoren sein, welche das Feld für den Einsatz „alternativer“ und/oder „komplementärer“ Praktiken bereiten.
Als weitere mögliche Ursachen für diese hohen „Schatten-Anwendungen“ werden unter anderen das nicht aktive Ansprechen und die damit verbundene mangelnde Kenntnis beim behandelnden Team, die Verknappung der Ressource Zeit im Behandlungsgespräch und potenzielle Mängel in der Arzt-Patienten-Kommunikation, die zu einem Vertrauensverlust führen können, diskutiert [
7]. Ein weiterer Grund könnte der nach wie vor teils angsteinflößende Ruf von Strahlen- und Chemotherapie sein, was in einer Untersuchung bei Gliompatient:innen in der Schweiz bestätigt werden konnte [
7]. Zu beachten ist ebenfalls, dass eine verbalisierte kritische Haltung ärztlicherseits zu „alternativen“ und/oder „komplementären“ Praktiken möglicherweise zu einer Beeinträchtigung der Arzt-Patienten-Beziehung oder sogar zu Therapieabbrüchen führen kann [
14].
Nicht zuletzt in diesem Kontext sind die in unterschiedlicher Ausprägung bestehenden kognitiven Beeinträchtigungen bei Patient:innen mit Gliomen und der damit einhergehenden potenziell eingeschränkten Entscheidungsfähigkeit zu berücksichtigen [
11].
Kognitive Beeinträchtigungen bei Gliompatient:innen müssen berücksichtigt werden
Bereits zu Beginn der Erkrankung werden bei etwa 50–80 % der Patient:innen kognitive Einschränkungen, wie Sprachstörungen, Konzentrationsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnisstörungen und Verhaltensauffälligkeiten beschrieben, die bei Therapieentscheidungen Berücksichtigung finden müssen [
6,
10,
16]. Die Auswirkungen der Entscheidungsfähigkeit auf die Verwendung von alternativen und oder komplementären Praktiken sind noch nicht untersucht.
Der Kostenfaktor
Die durchschnittlichen Kosten für alternative oder komplementäre Methoden liegen laut einer Untersuchung aus dem Jahre 2019 bei durchschnittlich etwa 100 € pro Monat [
5]. Im Vergleich dazu liegen die Kosten einer State-of-the-Art-Therapie beim Glioblastom bei ca. 30.000–40.000 € [
17]. Sofern diese Verfahren neben der State-of-the-Art-Behandlung angewendet werden, ist, abgesehen von den potenziellen Nebenwirkungen und möglichen Interaktionen, die finanzielle Auswirkung hier als eher gering einzustufen. Darüber hinaus wäre aber eine Offenlegung und damit Transparenz der krankheitsbezogenen Behandlungsoptionen im Sinne einer vertrauensvollen, qualitätsvollen und risikominimierten Arzt-Patienten-Beziehung absolut wünschenswert und notwendig.
Davon abzugrenzen sind alternative und/oder komplementäre Praktiken, die zum Teil mit erheblichen Mehrkosten für Patient:innen bzw. deren Angehörige verbunden sind. In unseren spezialisierten neuroonkologischen Ambulanzen berichten Patient:innen von Therapieangeboten im In- und Ausland, die eine hohe Wirksamkeit in Aussicht stellen, oft garniert mit persönlichen Einzelberichten über großartige Therapierfolge und Heilungen. Es versteht sich von selbst, dass die Kosten privat zu bezahlen sind. Dabei handelt es sich mitunter um Verfahren, die im 4‑ bis 5‑stelligen Euro-Bereich angeboten werden (siehe Fallbeispiel). Aber mit der Hoffnung lässt sich bekannterweise leicht Geld verdienen. Gerade wenn die eigenen Chancen schlecht stehen, setzt man alles daran, bzw. glaubt daran, irgendwie doch gewinnen zu können („Casinoeffekt“)! In physischen und psychischen Extremsituationen besteht eine Empfänglichkeit für Heilsversprechungen. Der wesentliche Unterschied liegt jedoch darin, dass Patient:innen mit prognostisch ungünstigen und schweren Erkrankungen eine vulnerable und deshalb, aus ethischer Sicht, eine besonders schützenswerte Gruppe darstellen. Was gerade für Hirntumorpatient:innen mit potenziellen kognitiven Beeinträchtigungen im Besonderen gilt. Hier erreicht das Geschäft mit der Hoffnung aus ethischer Sicht eine prekäre Dimension.
Mit der Hoffnung lässt sich leicht Geld verdienen
Ein weiterer Aspekt sind die enormen Entwicklungskosten onkologischer Therapien. Die überwiegende Mehrheit der Studien im neuroonkologischen Bereich endet leider in der Phase 2, mit zwar ausreichenden Sicherheitsdaten, aber wenigen Signalen für eine ausreichende Wirksamkeit, um eine Phase-3-Studie zu rechtfertigen. Die Erfolgsquote positiver klinischer Phase-3-Studien, gerade beim Glioblastom, ist an einer Hand abzählbar. Damit erhöht sich klarerweise der Druck auf Investoren im Sinne des notwendigen „return of investment“. Dabei könnte der bis zur Phase 2 geleistete finanzielle Einsatz ein Motivator sein, diese „Filibuster“ in weiterer Folge auch auf dem freien Markt privat anzubieten. Bei nicht ausreichender oder fehlender wissenschaftlicher Evidenz steht hier der ökonomische Faktor besonders im Vordergrund. Ein exemplarisches und rezentes Beispiel für dieses Geschäft mit der Hoffnung ist hier angeführt:
Fallbeispiel
Eine 58-jährige Patientin mit Glioblastom wurde lege artis operiert und im Anschluss mit einem sog. CeTeG-Schema (konkomitante Radiochemotherapie mit adjuvanter Chemotherapie mit Temozolomid und Lomustin) behandelt. Wie die behandelnden Ärzt:Innen im neuroonkologischen Zentrum erst am Ende der Therapie erfahren, wurde die Patientin parallel zu der laufenden Erstlinientherapie in einem Institut in Deutschland zusätzlich betreut. Das in diesem Beispiel erwähnte Institut in Rheinfelden (Hauptsitz in Israel, Affiliate Clinic in Kasachstan) bietet eine Behandlung in sechs Schritten an. Initial wird auf die Vitamin-D-Ergänzung und auf die Einnahme von Metformin als Medikation mit antitumoröser Eigenschaft hingewiesen. Beginnend mit onkolytischen Viren intravenös alle 14 Tage in Kombination mit photodynamischer Therapie folgt danach eine Immuntherapie mit Ipilimumab sowie Nivolumab oder Pembrolizumab. Anstelle von Immuntherapien werden auch Interleukine („long acting“ Il‑2 und „low-dose“ Il-2) angeboten, welche unsere Patientin erhalten hatte. Anti-Angiogenese-Therapien wie Bevacizumab oder Lenalidomid werden als weitere anschließende Therapieoption angeboten. Unsere Patientin erhielt zu Beginn eine Behandlung mit onkolytischen Viren und danach eine Therapie mit Interferon α2 einmal pro Woche für drei Wochen, im Anschluss eine Gabe von Interleukin 2 über 5 Tage. Im vorliegenden Bericht des Instituts wird abschließend erwähnt, dass diese Behandlungen noch nicht „fully approved evidence-based medicine“ darstellen.
Die Behandlung kostete insgesamt etwa 45.000 €, welche die Patientin und ihre Familie selbst bezahlten. Aufgrund der fehlenden Datenlage bzw. Evidenz der folgenden Behandlungsstrategie werden von den Krankenkassen keine Kosten übernommen. Ein Onkologe in Wien, den unsere Patientin im Rahmen der Diagnosestellung und auch während der Behandlung aufsuchte, riet zur Behandlung mit onkolytischen Viren.
Das Institut (
https://ibiotherapy.com) wirbt auf seiner Homepage damit, die besten Spezialisten zu beschäftigen und listet neben Tumorarten die Möglichkeiten der Therapieformen auf („oncolytic viruses, cancer vaccines, cell-mediated immunotherapy, monoclonal antibodies, immune checkpoint inhibitors, anti-angiogenic treatment“ etc.). Neben Tumortherapien werden auch mesenchymale Stammzelltherapien für z. B. Multiple Sklerose, ALS oder M. Parkinson angeboten.
Angeboten wird eine personalisierte Therapiestrategie, die auf konventioneller und experimenteller Medizin beruht. Man kann das individuelle Management für drei Monate oder unlimitiert buchen. Erwähnt wird auch, dass die hier vorgesehenen Therapiestrategien nicht für öffentliche Spitäler gedacht sind, da dort „nur“ Standardprotokolle angewendet werden.
Auch ist dieses Institut bei weitem nicht das einzige (u. a. Immocura, Immunolife GmbH, Medias Klinik), das teure Therapien nicht nur außerhalb der wissenschaftlichen Evidenz oder sogar bei nachgewiesener fehlender wissenschaftlicher Evidenz u. a. für Patient:innen mit Hirntumoren anbietet.
Die Rolle der (sozialen) Medien
Einschlägige Medien greifen sog. Wunder der Medizin gerne auf. So geschehen vor nicht allzu langer Zeit in Niederösterreich bei einem Glioblastompatienten, der angeblich von den Ärzten aufgegeben wurde und durch die Gabe von Methadon geheilt werden konnte. Der Patient wurde lege artis an einem neuroonkologischen Zentrum betreut und hatte bei zusätzlichen vorhandenen günstigen prognostischen Faktoren einen erfreulichen Krankheitsverlauf. Das behandelnde Team staunte daher nicht schlecht, als eine auflagenstarke Regionalzeitung inklusive Patientenfoto unter dem Motto titelte: „Die Ärzte haben mich aufgegeben und Methadon hat mich geheilt“. Auch wenn es für die Gabe von Methadon keine Evidenz gibt und Expertengremien ausdrücklich vor der Einnahme in diesem Kontext warnen (siehe dazu auch: F. Steger et al. [
14]), war nicht nur das Internet zu dieser Zeit überflutet mit diesbezüglicher positiver Berichterstattung. Auch der damit einhergehende passive Druck nach dem Motto: „nichts unversucht zu lassen“ oder „nichts zu übersehen“, der damit vonseiten der medialen Berichterstattung sowie der sozialen Medien auf Patient:innen und Angehörige ausgeübt wird, darf keinesfalls unterschätzt werden.
Auch die nach wie vor in der Bevölkerung bestehende diffuse Skepsis gegen Wissenschaft und Medizin und die oft in diesem Zusammenhang vorgebrachten Verschwörungstheorien hinsichtlich der Pharmaindustrie können hier als Brandbeschleuniger wirksam werden. Dies öffnet jedoch die Tür zu einem größeren gesellschaftlich relevanten ethischen Spannungsfeld, das weit über die o. g. Dilemmata von Hirntumorpatient:innen hinausgeht.
Skepsis gegen Wissenschaft und Verschwörungstheorien hinsichtlich der Pharmaindustrie
Verschwörungserzählungen und Fake-News können negative Auswirkungen in gesellschaftlicher wie psychischer Hinsicht haben. Zudem können sie sich abträglich auf die Gesundheit auswirken [
1]. Das zeigt das Beispiel Methadon. Nach der medialen Verbreitung von Falschaussagen hinsichtlich der Wirksamkeit von Methadon haben Patient:innen die Chemotherapie abgebrochen, da sie von ihren Ärzt:innen kein Methadon erhielten. Infolge dessen kam es zu einem dokumentierten Todesfall [
8].
Aus ethischer Sicht ergeben sich hieraus mehrere Herausforderungen [
13]. Zunächst unterminieren Falschinformationen und falsche Versprechungen die Autonomie von Patient:innen. Eine selbstbestimmte Entscheidung ist nur auf der Grundlage einer umfassenden Aufklärung möglich, die wiederum auf wissenschaftlicher Evidenz beruhen muss [
14]. Falschinformationen unterminieren den Aufklärungsprozess und ebenso die selbstbestimmte Entscheidung. Vulnerable Gruppen, etwa Minderjährige oder Personen mit mangelnder Gesundheitskompetenz („health literacy“) werden dadurch besonders benachteiligt [
13]. Zudem wird die Arzt-Patienten-Beziehung belastet, weil Misstrauen hinsichtlich der ärztlichen Expertise und Intentionen gestreut wird [
14]. Des Weiteren bedeutet der Einsatz von sog. allopathischen oder komplementärmedizinischen Methoden und Präparaten eine Verschwendung ohnehin knapper Ressourcen im Gesundheitsbereich [
13]. Somit ist auch das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit angesprochen. In vielen Fällen handelt es sich bei solchen Ansätzen um bloße Geschäftemacherei auf Kosten der Gesundheit von Personen, was eine Verletzung der „health equity“, also der Gleichbehandlung hinsichtlich der Gesundheitsversorgung darstellt. Schließlich befördern sog. allopathische oder komplementärmedizinische Ansätze eine ohnehin schwelende Wissenschaftsfeindlichkeit und den zumeist politisch klar motivierten Antirationalismus [
13].
Ansätze zur Lösung
Eine routinemäßige Aufklärung über komplementäre und/oder alternative Praktiken im Rahmen unserer neuroonkologischen Zentren wäre dringend notwendig, was jedoch wie oben beschrieben an zeitliche und personelle Grenzen stößt. Eine zusätzliche neuropsychologische und psychoonkologische Betreuung der Patient:innen und deren Angehörige wäre sicher ein geeignetes unterstützendes Instrument, um zusätzliches Vertrauen in die Beziehung zwischen dem betreuenden Team eines neuroonkologischen Zentrums und den Patient:innen bzw. deren Angehörige zu bringen und damit potenzielle Ängste zu nehmen. In diesem Setting wäre eine zusätzliche Möglichkeit gegeben, auch diesem Thema einen entsprechenden Raum zu verschaffen. Gemeinsam mit der Betreuungsqualität, die untrennbar mit der Ressource Zeit und Personal verbunden ist, wären dies vermutlich die geeignetsten Mittel, um den alternativen und komplementären Praktiken etwas Wind aus den Segeln zu nehmen.
Kritischer Journalismus und qualitative Filter im Bereich der sozialen Medien gehören gewiss ebenfalls dazu.
Verschwörungsmythen werden durch neue Medien und Kommunikationsformen verstärkt
Allerdings muss man sich dessen bewusst sein, dass Verschwörungserzählungen kein neues Phänomen sind, sondern durch neue Medien und Kommunikationsformen lediglich verstärkt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Daher wird man dieses Phänomen nie ganz auslöschen können. Es lassen sich kognitionswissenschaftliche Erklärungen dafür anführen, dass und warum diese monologischen Glaubenssysteme fest im menschlichen Denken verwurzelt sind [
1].
Es gibt jedoch Möglichkeiten, deren Auswirkungen zu bekämpfen. Eine vermehrte Konfrontation mit Evidenz kann allerdings den gegenteiligen Effekt haben und Verschwörungsmythen noch bestärken. Da diese grundlegend irrational sind, ist nicht zu erwarten, dass mit rationalen Argumenten viel erreicht wird. Allenfalls ein kleines Segment der Verschwörungsanhänger:innen könnte man damit erreichen.
Eine Strategie, die auf Rationalität und Evidenz zielt, müsste breiter gedacht werden. Statt punktuelle Evidenz und rationale Argumente zu präsentieren, müsste bereits im Bildungssystem von Beginn an ein stärkerer Fokus auf rationales Denken und Evidenzbasierung als Standards für Wissen gelegt werden [
1]. Das ist freilich eine allenfalls mittelfristige, eher langfristige Strategie. Kurzfristig könnten Kommunikationsstrategien angepasst werden, indem z. B. Visualisierungen und eine einfache Sprache genutzt werden, um Wissen zu vermitteln. Auch sollten bestimmte Verschwörungserzählungen aktiv adressiert und mithilfe der angeführten Kommunikationsstrategien entlarvt werden.
Am wichtigsten ist allerdings eine gesellschaftliche Aufklärung. Der Grundfehler im bisherigen Umgang mit Verschwörungserzählungen besteht darin, diese als psychologische Einzelphänomene zu betrachten. Dagegen sollte klar herausgearbeitet werden, wer diese Mythen streut bzw. medial verstärkt und zu welchem Zweck. Hinsichtlich der COVID-19-Pandemie wird das besonders deutlich [
3]. Rechtspopulistische und rechtsextreme Strömungen haben hier aktiv Verschwörungserzählungen gestreut, Gesundheitspersonal bedroht und Kliniken belagert. Der Tod der Ärztin Maria Lisa-Kellermayr hat gezeigt, dass es sich hierbei nicht bloß um harmlose Spinner handelt, sondern dass ein echtes Gefahrenpotenzial von diesen Gruppierungen ausgeht. Daher sollte man sich nicht scheuen, Einzelpersonen und politische Gruppierungen klar zu benennen und das unter Verschwörungserzähler:innen so beliebte „cui bono?“ anzuwenden. Damit sind auch politische Entscheider:innen aufgerufen, im Gesundheitsbereich Tätige stärker zu unterstützen und v. a. gegen Hetzkampagnen entschiedener vorzugehen.
Die Realsituation ist derzeit leider die ubiquitär vorhandene, über viele Bereiche der Gesellschaft bestehende angespannte Personalsituation sowie der Wohlstandsverlust mit damit einhergehender Ressourcenverknappung. Diese Rahmenbedingungen erschweren natürlich auch die routinemäßige Implementierung zusätzlicher neuropsychologischer und psychoonkologischer Betreuung in die bestehenden Strukturen eines neuroonkologischen Zentrums. Eines kann an dieser Stelle jedoch klar ausgesprochen werden, dass Qualität in der medizinischen Versorgung vor allem auch Geld kostet: „Qualität kostet“! Um den hohen qualitativen Standard der medizinischen Versorgung in Österreich zu halten und laufend den Entwicklungen der Wissenschaft anzupassen, sind personelle und finanzielle Ressourcen notwendig.
Am wichtigsten ist gesellschaftliche Aufklärung
In diesem Spannungsfeld des öffentlichen Interesses an einer bestmöglichen Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung und der zunehmenden Ressourcenverknappung öffnen sich aktuell Problembereiche wie längere Wartezeiten, Personalmangel, Aufschiebung von dringend erforderlichen medizinischen Eingriffen, Zeitmangel im Patientengespräch oder mittlerweile auch Engpässe in der Akutversorgung. Nachvollziehbarerweise kann diese Gemengelage zu einer Verunsicherung der Patient:innen beitragen, was den teilweise abenteuerlichen, oft kostspieligen und ethisch höchst problematischen Heilsversprechungen so mancher alternativer Praktiken Tür und Tor öffnet.
Gerade Patient:innen mit Gliomen, vor allem wenn sie weit fortgeschritten sind, profitieren von der multiprofessionellen Betreuung eines Palliativteams [
19]. Dieser Therapieansatz, der eine zeitnahe Integration von Palliativ Care in die Behandlung von Patient:innen mit lebenslimitierenden Erkrankungen vorsieht, kann durch die intensive Betreuung von Menschen mit einer so schweren Erkrankung wie einem Gliom dazu beitragen, dass weniger auf dubiose Therapiemethoden, die jeglicher Evidenz entbehren, zurückgegriffen wird [
20].
Wollen wir diesen ethisch problematischen Entwicklungen entgegentreten und die schwächsten Personengruppen unserer Gesellschaft vor potenziellem Schaden und Geschäftemacherei schützen, wären ein offener fachlicher Diskurs und eine relevante gesellschaftliche Diskussion darüber wünschenswert.
Fazit für die Praxis
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Patienten:innen mit Glioblastomen sind eine besonders vulnerable und deshalb, aus ethischer Sicht, eine besonders schützenswerte Gruppe.
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Das Geschäft mit der Hoffnung erreicht hier aus ethischer Sicht eine besonders prekäre Dimension.
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Das Propagieren der genannten Praktiken vonseiten der Medizin und Teilen der Neurowissenschaften verstößt, bei fehlender empirischer Evidenz, klar gegen die „gute wissenschaftliche Praxis“.
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Eine teilweise zweifelhafte und über weite Strecken fachlich ungefilterte mediale Darstellung belastet zusätzlich eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung.
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Ansätze zur Lösung beinhalten eine vermehrte und strukturierte Aufklärung von Patient:innen und Angehörigen zu komplementären/alternativen Praktiken, eine psychoonkologische Betreuung, ausreichende personelle Ressourcen in den neuroonkologischen Zentren, einen kritischen Journalismus und nicht zuletzt auch den öffentlichen Diskurs über Ethik in der Medizin.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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