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Erschienen in: Ethik in der Medizin 1/2013

01.03.2013 | Originalarbeit

Helfen um jeden Preis? – Historisch fundierte Gründe für das Konzept des „kontrollierten individuellen Heilversuchs“ für risikoreiche „individuelle Heilversuche“ zur Behandlung einwilligungsunfähiger psychisch kranker Menschen

verfasst von: Dr. med. Annemarie Heberlein, M.A.

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 1/2013

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Zusammenfassung

Die Behandlung von einwilligungsunfähigen psychisch kranken Menschen mit neuen Therapiemethoden ist insbesondere im Kontext des „individuellen Heilversuchs“, der als Anwendung wenig erprobter Therapieansätze im Rahmen von „ultima ratio“-Entscheidungen charakterisiert ist, mit ethischen Abwägungsproblemen verbunden. Diese bestehen aufgrund von Einschränkungen in der Handlungs- und Entscheidungsautonomie der betroffenen Patienten und, aufgrund eigen- oder fremdgefährdender Symptome der psychischen Krankheit selbst, insbesondere in der praktischen Umsetzung ethisch akzeptierter Modelle stellvertretender Entscheidung sowie in der Wahl des Bezugspunkts der Nutzen-Risiko-Analyse des intendierten Therapieverfahrens. Der Artikel untersucht den ethischen Konflikt zwischen gerechtfertigter Hilfeleistung und Instrumentalisierungsrisiko psychisch kranker Menschen zu Fremdzwecken am historischen Beispiel der „Rindenexcisionen“ des Psychiaters Gottlieb Burckhardt (1836–1907). Als Lösungsmöglichkeit dieses ethischen Konflikts wird das „Konzept des kontrollierten individuellen Heilversuchs“ diskutiert.
Fußnoten
1
„Individuelle Heilversuche“ können auch Ausgangspunkt für systematische Untersuchungen von therapeutischen Effekten im Rahmen klinischer Studien darstellen, die dann aufbauend auf den klinisch beobachtbaren Effekten im „individuellen Heilversuch“ konzipiert werden. Dementsprechend geht nach aktueller Praxis der therapeutische Heilversuch bei mehrmaliger Wiederholung (im Regelfall nach 2 Wiederholungen) in eine klinische Prüfung über, die dann auch der Zustimmungspflicht der zuständigen Ethikkommission unterliegt.
 
2
Die „chronische Tobsucht“ der Patientin entsprach wohl am ehesten der heute gebräuchlichen Diagnose einer „paranoiden Schizophrenie“.
 
3
„Primum non nocere“: Nicht-Schaden; „melius anceps remedium quam nullum“ sinngemäß übersetzt: besser irgendetwas tun, als gar nichts. Das Zitat beinhaltet die Gegenüberstellung der Prinzipien ärztlicher Hilfeleistung und des Nicht-Schadens-Gebots im Rahmen ärztlicher Therapie.
 
4
Vor der Begriffsprägung „Schizophrenie“ wurden typischerweise Erkrankungen, die während der Adoleszenz begannen und zu zunehmendem Verfall intellektueller und sozialer Fähigkeiten führten, unter dem Begriff „Dementia praecox“ (vorzeitige Demenz) zusammengefasst und als große Krankheitsgruppe vom so genannten „manisch-depressiven Irresein“ abgegrenzt. Die Abgrenzung von dementiellen Erkrankungen und die Begriffsbildung „Schizophrenie“ erfolgte erst 1911 durch E. Bleuler.
 
5
Deutsche Übersetzung: „Töten Sie mich nicht!“.
 
6
Sinngemäß: undurchsichtig.
 
7
Hier zeigt sich deutlich die Messung des Therapieerfolgs an der Anpassung der Patientin an äußere Strukturen, in diesem Fall die Strukturen von Prefagiér (vgl. hierzu auch [10]).
 
8
Vgl. hierzu auch Fußnoten 7 und 12.
 
9
Übersetzung s. Fußnote 3.
 
10
Rechtlich werden klinische Studien in Deutschland insbesondere über die Berufsordnung für Ärzte, das Arzneimittel- und Medizinprodukte-Gesetz geregelt.
 
11
Die Studie wurde von 1932 bis 1972 in Tuskegee, Alabama, durchgeführt. Ziel der Studie war es, den natürlichen Verlauf der Syphilis zu beobachten. Bekanntheit erlangte die Studie vor allem deswegen, weil die einbezogenen Afroamerikaner nicht über ihre Diagnose informiert wurden und auch keine Behandlung erhielten. Die Studie gilt deswegen als ein modernes Paradebeispiel für den Missbrauch von Personen zu Forschungszwecken.
 
12
Heinemann et al. [6] führen in ihrer Diskussion zur Gentherapie des Wiskott-Aldrich-Syndroms richtig aus, dass im Kontext therapeutischer Heilversuche die vorrangige Beachtung des Nutzen-Prinzips andere therapeutische Notwendigkeiten impliziert, als es der Fall wäre, wenn vorrangig das Nicht-Schadens-Prinzip, wie zur Beurteilung klinischer Studien, herangezogen würde. Im Kontext psychischer Erkrankungen, die im Gegensatz zur Behandlung des Wiskott-Aldrich-Syndroms nicht bereits im Kindesalter tödlich verlaufen und sich somit im Gegensatz zu den erhofften Erfolgen der Gentherapie des WA-Syndroms nicht über den letalen Verlauf der Erkrankungen rechtfertigen lassen, ist jedoch auch im Rahmen individueller Heilversuche eine äquivalente Gewichtung des Nicht-Schadens-Prinzips und des möglichen therapeutischen Erfolgs unabdingbar.
 
13
Übersetzung s. Fußnote 3.
 
14
In diesem Kontext bestimmt sich die Kritik durch die fremdnützige Hauptmotivation der Therapieversuche – die soziale Anpassung der betroffenen Personen kann retrospektiv als Haupt- und nicht als konsekutives Therapieziel interpretiert werden [10]. Im Rahmen dieser Arbeit liegt der Hauptfokus hingegen auf Burckhardts Instrumentalisierung seiner Patienten zu Forschungszwecken. Das „social adjustment“ von psychisch kranken Menschen als Therapieziel ist ausführlich bei [10] dargestellt.
 
15
Die fremdnützige Handlungsmotivation Burckhardts kann als typisch für viele Psychiater der damaligen Zeit gelten. Die „soziale Heilung“ als Therapieziel kann unter anderem an Zitaten behandelnder Psychiater illustriert werden, die zeigen, dass aggressives Verhalten der Patienten als vorrangiges, zu behandelndes „Krankheitssymptom“ interpretiert wurde (vgl. [10], S. 264).
 
16
Marietta Meier illustriert diese Definition fremdnütziger Behandlungsziele treffend mit dem Begriff „soziale Heilung“ ([10], S. 268 f.).
 
17
Gleichzeitig kann eine konsequente Anwendung von Mindeststandards für individuelle Heilversuche zu einem größeren Erkenntnisgewinn (als er durch die momentan übliche Praxis erzielt wird) beitragen und damit eine stabiles Fundament für konsekutive klinische Studien sein. Dieser Zusammenhang wird hier aus Platzgründen nicht weiter diskutiert.
 
18
Derselbe Zusammenhang trifft auch auf Interaktionsformen zwischen den Betroffenen und gesunden Personen zu.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Helfen um jeden Preis? – Historisch fundierte Gründe für das Konzept des „kontrollierten individuellen Heilversuchs“ für risikoreiche „individuelle Heilversuche“ zur Behandlung einwilligungsunfähiger psychisch kranker Menschen
verfasst von
Dr. med. Annemarie Heberlein, M.A.
Publikationsdatum
01.03.2013
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 1/2013
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-012-0184-x

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