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28.03.2019 | Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Hausarztpraxis | Nachrichten

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Kardiovaskuläre Folgen der Luftverschmutzung unterschätzt?

verfasst von: Dr. Elke Oberhofer

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Luftverschmutzung wird – trotz der aktuell hitzigen Diskussionen um Grenzwerte – als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen möglicherweise noch unterschätzt: Mainzer Forscher gehen europaweit von jährlich 377.000 vorzeitigen Todesfällen durch kardiovaskuläre Ereignisse aus, die auf das Konto von Luftschadstoffen gehen.

Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels.

Für einen möglicherweise kausalen Zusammenhang zwischen Luftschadstoffen und insbesondere kardiovaskulären Erkrankungen gibt es immer mehr Hinweise. Das Datenmaterial wird aktuell ergänzt durch eine Studie aus Deutschland: So demonstrieren Mainzer Forscher auf der Grundlage eines neuen Rechenmodells, dass die mit der Luftverschmutzung assoziierte Mortalität in Europa rund doppelt so hoch ist wie bisher angenommen.

2015 wurden Ergebnisse einer internationalen Gesundheitsstudie, der „Global Burden of Disease“ (GBD) publiziert; demnach sollten weltweit rund 4,5 Millionen vorzeitige Todesfälle auf das Konto von Feinstaubpartikeln mit einem Durchmesser unter 2,5 µm (PM2,5) und bodennahem Ozon (O3) gehen.

Schätzungen verdoppelt

Jos Lelieveld vom Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie und sein Team haben in ihrer aktuellen Studie dagegen das Global Exposure Mortality Model (GEMM) angewendet. Demzufolge sterben aufgrund von Luftverschmutzung weltweit rund 8,8 Millionen Menschen. Dies entspricht einer jährlichen Rate von 120 vorzeitigen Todesfällen pro 100.000 Einwohner.

Bezogen auf Europa liegt man laut Lelieveld et al. sogar noch höher, nämlich bei 133 je 100.000. Dabei würden die höchsten Todesraten in Südosteuropa (Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Ukraine) erreicht. In Deutschland käme man den aktuellen Berechnungen zufolge auf jährlich 154 vorzeitige Todesfälle je 100.000 Einwohner. Insgesamt erhöhe sich die Zahl der Todesfälle in Europa durch die Luftverschmutzung geschätzt um jährlich 790.000 (die Europäische Umweltbehörde geht bislang von 400.000 zusätzlichen Todesfällen pro Jahr aus).

Bei den vorzeitigen Todesfällen standen dem neuen Rechenmodell zufolge kardiovaskuläre Ereignisse an erster Stelle. In 40% (der Gesamtzahl) handelte es sich um ischämische Herzerkrankungen, in 8% um Schlaganfälle. Lungenerkrankungen wie COPD, Lungenkrebs und Pneumonien machten einen Anteil von jeweils 6 bzw. 7% aus. 32% entfielen auf sogenannte „andere nicht übertragbare Erkrankungen“. Insbesondere bei den ischämischen Herzerkrankungen durch Luftverschmutzung  müsse man die ursprünglichen Schätzungen von 2015 deutlich nach oben korrigieren, so die Forscher.

"Schlechte Luft bedeutendes Gesundheitsrisiko"

„Schlechte Luft gehört neben Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht und Rauchen zu den bedeutendsten Gesundheitsrisiken“, betonen Lelieveld und sein Team. Aus den Studiendaten habe man errechnet, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung von Europäern durch die Luftverschmutzung um rund zwei Jahre verkürze.

Das GEM-Modell stützt sich auf insgesamt 41 Kohortenstudien aus 16 Nationen und verfügt damit über eine deutlich breitere Datenbasis als die GBD-Studie. Insbesondere wurde in dem neuen Modell eine deutlich größere Bandbreite von Feinstaubkonzentrationen einbezogen. Berücksichtigt wurden außerdem Ergebnisse aus Studien zu den Gesundheitsfolgen von Rauchen (aktiv und passiv).

Die Forscher ermittelten zunächst die regionale Belastung mit Luftschadstoffen wie Feinstaub und Ozon mithilfe eines Atmosphärenchemiemodells. Diese Werte wurden einerseits mit krankheitsspezifischen Gefährdungsraten, andererseits mit den Todesursachen in den einzelnen Ländern verknüpft.

Keine identifizierbaren Todesfälle

Statistische Rechenmodelle wie das hier vorgestellte sind in jüngster Zeit immer wieder in die Kritik geraten, vor allem im Zusammenhang mit der Debatte um Fahrverbote für Dieselfahrzeuge. Die Forscher stellen daher klar, dass ihre Ergebnisse auf epidemiologischen Daten beruhen, die stets mit einer gewissen Unsicherheit verbunden sind. Auch hier handle es sich nicht um klinisch identifizierbare Todesfälle, die auf einen bestimmten Luftschadstoff zurückzuführen sind, sondern um statistische Schätzungen.

Mittlerweile lägen zahlreiche Studien vor, in denen die Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung einerseits und kardiovaskulären Ereignissen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz, Rhythmusstörungen und venösen Thromboembolien andererseits deutlich würden, betonen Lelieveld et al. Die Pathogenese sei mittlerweile weitgehend aufgeklärt: So bewirke Feinstaub in der Atemluft oxidativen Stress, welcher zur endothelialen Dysfunktion beitrage.

Die gesundheitlichen Gefahren, vor allem durch Feinstaub, übersteigen den Wissenschaftlern zufolge sogar die des Rauchens. Dabei stünden die chronischen Effekte der Feinstaubbelastung im Vordergrund, insbesondere bei älteren Menschen und solchen mit kardiovaskulären Vorerkrankungen.

Als wichtigste Quellen der durch den Menschen verursachten Feinstaubbelastung gelten neben dem Verkehr auch Emissionen aus Industrie und Landwirtschaft sowie Öfen und Heizungen in Wohnhäusern.

In Europa gilt seit 2015 ein Grenzwert für Feinstaub der Partikelgröße 2,5 Mikrometer (PM2,5) von 25 µg/m3 im jährlichen Mittel. Dieser wird von Lelieveld und Kollegen vor dem Hintergrund ihrer Studienergebnisse als viel zu hoch eingeschätzt. Das von der WHO empfohlene Limit liegt bei 10 µg/m3

Das Wichtigste in Kürze

Frage: Welchen Anteil hat die Schadstoffbelastung der Luft an den Todesursachen in Europa?

Antwort: Nach einem aktuellen Rechenmodell lassen sich europaweit rund 790.000 Todesfälle auf Luftverschmutzung zurückführen. Davon steht knapp die Hälfte im Zusammenhang mit kardiovaskulären Erkrankungen.

Bedeutung: Vor diesem Hintergrund monieren die Forscher die aus ihrer Sicht „viel zu hohen“ Grenzwerte für Feinstaub in Europa.

Einschränkung: Die Studie beruht auf epidemiologischen Daten, die grundsätzlich keinen direkten Kausalzusammenhang belegen können. Bei den Angaben zu den Todesraten handelt es sich um statistische Schätzungen und nicht um klinisch identifizierbare Fälle.


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Literatur

Lelieveld J et al. Cardiovascular disease burden from ambient air pollution in Europe reassessed using novel hazard ratio functions European Heart Journal 2019; https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehz135

 

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