Stellenwert antidepressiver Behandlung im Langzeitverlauf bei HI-Patienten
Die chronische Herzinsuffizienz (HI) ist keine eigenständige Erkrankung, sondern beschreibt die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Herzens im Rahmen verschiedener Herzerkrankungen, die dazu führen, dass die Pumpleistung nicht mehr ausreicht, das vom Organismus benötigte Herzzeitvolumen bei normalem enddiastolischen Ventrikeldruck bereitzustellen. Unterteilt wird die HI nach der Auswurfleistung des Herzens (Ejektionsfraktion = EF), wobei zwischen HI mit reduzierter linksventrikulärer (LV) EF (HFrEF, LVEF < 40 %), HI mit mittelgradiger EF (HFmrEF, LVEF = 40–49 %) sowie HI mit erhaltener EF (HFpEF, LVEF > 50 %; [
33]) unterschieden wird. In frühen Krankheitsstadien kompensieren gegenregulatorische Mechanismen den chronischen Verlauf der Erkrankung. Letztlich ist in der Mehrzahl der Fälle der progressiv-chronische Verlauf aber nicht aufzuhalten.
Häufige allgemeine Symptome einer HI sind verminderte Leistungsfähigkeit, Müdigkeit und Appetitlosigkeit. Je nachdem welcher Bereich des Herzens betroffen ist, treten außerdem Symptome wie Husten, Ödeme, Schlafstörungen und Atemnot auf. In späten Stadien der Erkrankung kann die Atemnot als Folge erhöhter Atemarbeit extrem traumatisierende Verläufe annehmen, bei denen die Betroffenen zwar atmen können, aber gleichzeitig das Gefühl haben zu ersticken. Daher ist es wenig überraschend, dass auch die psychische Belastung der HI-Patienten hoch ist und damit zur Kernsymptomatik der HI zu rechnen ist: Die Prävalenz von klinisch relevanten Depressionen bei HI-Patienten beträgt 21,5 % (Spannweite: 15,9–33,6 %; [
34]) bis zu 42 % bei den schwerstkranken Patienten. Depression ist mit einem hohen Mortalitätsrisiko verbunden (Risk Ratio [RR] 2,1; 95 % KI 1,7–2,6) sowie mit signifikant mehr notfallmäßigen Krankenhausaufnahmen [
34].
Die Bedeutung aversiver komorbider psychischer Belastungen gewinnt im klinischen Alltag an Aufmerksamkeit, was sich in einer Zunahme der Verordnung von Antidepressiva im Krankheitsverlauf zeigt [
35]. Einen validen Einblick in die Lebensumstände von HI-Patienten mit einer antidepressiven Medikation in Europa [
36] bieten die Daten eines dänischen Patientenregisters über den Zeitraum von 1997 bis 2010 mit 121.252 eingeschlossenen Patienten, die die Ersteinweisung mit der Indikation HI > 90 Tage überlebt hatten: Die Verordnung der psychopharmakologischen Behandlung der HI-Patienten nahm von 15,6 % (19.348) in der Erstuntersuchung über einen 5‑jährigen Nachverfolgungszeitraum auf 32 % bedeutsam zu. Nur bei 1 % der Patienten war eine Depression diagnostisch gesichert worden. Diese Daten belegen, dass Ärzte für die schwerwiegende psychische Komorbidität ihrer Patienten sensibilisiert sind. Die Symptomatik ist so ausgeprägt, dass im klinischen Alltag für die Verschreibung der Medikamente häufig auf eine formale Diagnosestellung verzichtet wird. Wie nützlich aber ist die antidepressive Medikation?
Die dänischen Registerdaten hierzu sind ernüchternd [
36]: Sie zeigen, dass die Verschreibung von Antidepressiva mit einem signifikant erhöhten Gesamtmortalitätsrisiko (RR 1,34; KI 1,26–1,42) über einen 5‑jährigen Nachverfolgungszeitraum assoziiert ist. Eine aktuelle Metaanalyse bestätigt das erhöhte Gesamtmortalitätsrisiko (RR = 1,27; 95 % KI 1,21–1,34) einschließlich kardiovaskulären Todes (RR = 1,14; 95 % KI 1,08–1,20) bei HI-Patienten [
37]. Ähnlich wie in der dänischen Registerstudie waren auch hier in einer Subgruppenanalyse die Medikamentenklassen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI; RR = 1,26; 95 % KI 1,19–1,32), trizyklische Antidepressiva (TZA; RR = 1,30; 95 % KI 1,16–1,46) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI; RR = 1,17; 95 %; KI 1,08–1,26) alle mit einem erhöhten Gesamtmortalitätsrisiko assoziiert.
Die Alternative, den depressiven chronischen HI-Patienten Psychotherapie anzubieten, ist allerdings auch keine widerspruchsfreie Lösung: Forschung hierzu existiert kaum und wenn, dann im Wesentlichen für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), bei der sich nur mäßige Effektstärken für eine Depressionsbehandlung zeigen. Nach der Überzeugung von McPhillips et al. (2019) greifen überdies zentrale Paradigmen der KVT – wie z. B. die Auflösung negativer Vorstellungen durch Realitätstesten (
Cognitive Challenging) – bei Patienten zu kurz, die einen so traumatisierenden progressiven Krankheitsverlauf erleiden, wie dies bei HI-Patienten fast regelhaft der Fall ist [
38].
Was also tun? Unserer Auffassung nach bedarf es a) neuer Konzepte und Paradigmen in der therapeutischen Umsetzung, die zielgerichtet profitieren von dem Wissen über die neuropsychobiologischen stressinduzierten Funktionsabläufe, und b) neuer Horizonte in der psychosozialen Versorgung der schwerkranken HI-Patienten.
Neurohumorale Aktivierung bei der Herzinsuffizienz
In dem frühen, häufig noch symptomlosen Stadium der Erkrankung aktiviert der Körper kompensatorisch Adaptationsmechanismen, das erforderliche Herzzeitvolumen aufrechtzuerhalten, die mit dem Begriff „neurohumorale Aktivierung“ zusammengefasst werden. Bei chronischer Aktivierung tragen diese Mechanismen jedoch entscheidend zur Progression der Herzinsuffizienz bei. Hierzu zählt die Aktivierung des sympathischen Nervensystems (SNS), die anfangs zur Steigerung der Herzfrequenz und der Kontraktionskraft führt. Mit zunehmender Herzinsuffizienz steigt der Noradrenalinspiegel an. Gleichzeitig vermindert sich die Zahl der kardialen Betarezeptoren (
Downregulation). Noradrenalin wirkt dadurch am Herzen immer weniger inotrop, erhöht aber den peripheren Widerstand (
Afterload). Ein zweiter Mechanismus besteht in der Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS), das über eine erhöhte Produktion von Angiotensin II zur Vasokonstriktion und damit zur Erhöhung der Vorlast führt. Dieser Effekt wird durch das Mineralkortikoid Aldosteron verstärkt, das eine Natrium- und Wasserretention bewirkt und dessen Bioverfügbarkeit auch durch psychische Stressfaktoren beeinflusst wird [
39].
Psychosoziale Stressfaktoren – allen voran Depression und Angst – sind eng mit einer neurohumoralen Aktivierung als zentrale Wirkmechanismen assoziiert und können als hinzukommende Faktoren (
Add-ons) die Progression der HI weiter antreiben. Daten einer klinischen Fallkontrollstudie bei Patienten mit einer schwergradigen Depression (MDD) belegen, dass die MDD mit einer generellen Verschiebung der autonomen Bilanz zu einer sympathikotonen Prädominanz und einer gleichzeitigen Abnahme der parasympathischen Parameter [
40] assoziiert ist. Überraschend verstärkten in dieser Studie SSRI oder (weniger ausgeprägt) SNRI dieses Ungleichgewicht weiter. Eine (depressionsinduzierte) autonome Dysregulation geht auch mit erhöhten Entzündungsparametern (z. B. Interleukin-6) einher [
41], wie eine Untersuchung der Cardiovascular Health Study (
n = 907; mittleres Alter 71,3 ± 4,6 Jahre; 60 % Frauen) belegt. Wenig überraschend erwies sich die Depression als ein robuster Prädiktor für ein kardiovaskuläres Mortalitätsrisiko (Hazard Ratio [HR] 1,88; 95 % KI 1,23–2,86).
Diese Befunde eröffnen eine neue Perspektive auf die Behandlung der komorbiden Depression bei der HI: Alles, was in der Lage ist, die autonome Bilanz zugunsten einer parasympathischen Regulation zu verschieben und dazu beiträgt, die subklinische Inflammation zu reduzieren, wird die Depression und damit auch die Progression der HI günstig beeinflussen. Umgekehrt wird eine nichtinvasive Vagusstimulation als ein neues vielversprechendes antidepressives Therapieprinzip diskutiert. So hat die ANTHEM-HF
4-Studie zeigen können, dass eine andauernde hochintensive elektrische Vagusstimulation über einen mehrjährigen Zeitraum bei HI-Patienten in der Lage war, die autonome Funktion und die kardiale Stabilität zu verbessern und die Gefahr von ventrikulären Tachykardien zu reduzieren [
42].
Patienten mit HI sind mit einem Krankheitsverlauf konfrontiert, der Episoden von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung einschließt. Die Aufmerksamkeit der behandelnden Ärzte für die psychische Komorbidität dieser Patienten nimmt zu – ist aber bei Weitem noch nicht ausreichend: In einer Untersuchung von insgesamt 3224 ambulanten HI-Patienten konnten die behandelnden Ärzte nur 14,1 % der zu dem damaligen Zeitpunkt depressiven Patienten identifizieren [
43].