Ziel der vorliegenden Studie war es, den Mainzer Alterssimulationsunterricht hinsichtlich Qualität und Nachhaltigkeit zu evaluieren sowie studierendenseitige Veränderungen im Hinblick auf einen empathischen Umgang mit älteren Menschen zu untersuchen. Insgesamt wurde der Alterssimulationsunterricht von den befragten Studierenden als gut bewertet. Die erhobenen Daten weisen im Hinblick auf den retrospektiv erfassten Zeitraum auf eine nachhaltige Vermittlung der Lehrinhalte hin. Bei den meisten befragten Studierenden konnte nach den erlebten Alterssimulationen ein Empathiezuwachs hinsichtlich des Umgangs mit älteren Menschen festgestellt werden.
Studentische Empathie und deren Zuwachs
Der mittels Saarbrücker Persönlichkeitsfragebogen erhobene mittlere Empathie-Score von 32,4 (von 40) Punkten der Teilpopulationen der Erstsemesterstudierenden des Sommersemesters 2022 sowie des Wintersemester 2022/23 scheint darauf hinzudeuten, dass diese Studierenden das Medizinstudium bereits mit einer eher hohen Empathiefähigkeit begonnen haben.
Diesbezüglich sollte jedoch bedacht werden, dass die Items des Saarbrücker Persönlichkeitsfragebogens in der Ich-Perspektive formuliert und dementsprechend die Antworten als Selbsteinschätzungen einzustufen sind. Im Rahmen von Selbsteinschätzungen können generell 2 unterschiedliche Formen der Verzerrung nicht ausgeschlossen werden: Zum einen tendieren gegebenenfalls die Antworten aufgrund sozialer Erwünschtheit eher zu einer Entsprechung von Normen bzw. Erwartungen als zum tatsächlichen Erleben und Verhalten, zum anderen ist eine mögliche Überschätzung der eigenen Empathiefähigkeit seitens der Studierenden – im Sinne des Dunning-Kruger-Effekts – vorstellbar [
2]. Nach vorliegender Literatur erweist sich der Saarbrücker Persönlichkeitsfragebogen jedoch als robust hinsichtlich sozialer Erwünschtheit [
28]. Um das Ausmaß einer potenziellen Selbstüberschätzung, die nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung war, bestimmen zu können, hätte eine zusätzliche Erhebung des Verhältnisses zwischen Einschätzung und Kompetenz (Confidence-competence-Ratio, CCR) durchgeführt werden müssen [
7].
Laut Sievering wirken traditionelle Geschlechterrollen und -stereotypen sowohl extrinsisch (gesellschaftliche Konvention) als auch intrinsisch (individuelle Sozialisation) einengend [
35]. Daran angelehnt wird Frauen eher als Männern zugewiesen, einfühlsam und fürsorglich zu sein [
8]. Die Adaption der Rollenzuweisungen könnten demzufolge eine Erklärung für die signifikant höheren Empathiescores der weiblichen Befragten sein.
Neumann et al. stufen Empathie als eine ergebnisrelevante berufliche Kompetenz ein, deren Einschätzung und Ausbau bei Medizinstudierenden sowie Ärzten und Ärztinnen gründlicher erfolgen müsse [
23]. Infolge der Simulationserfahrungen konnten fast drei Viertel der befragten Studierenden für sich einen leichten bis starken Empathiezuwachs ausmachen. Folglich könnte eine frühzeitig unterrichtete Alterssimulation den Auftakt zur longitudinalen Vermittlung übergeordneter ärztlicher Kompetenzen darstellen, zu denen laut NKLM auch die Lernziele eines empathischen Umgangs mit Patient*innen aller Altersstufen gehören.
Sowohl Wiederhold [
40] als auch Kocks [
16] beschreiben das erhöhte berufliche Belastungsrisiko durch den Einsatz unreflektierter Empathie und die Notwendigkeit, diesem mit entsprechenden Strategien zu begegnen. Das Gegenstück zur Empathie stellt die Ekpathie dar. Bei der Ekpathie handelt es sich um einen bewussten Wahrnehmungs- und Ausschlussprozess von Gefühlen, Einstellungen, Gedanken und Motivationen, die von anderen hervorgerufen werden. Mit der Ausbildung ekpathischer Fähigkeiten ist es möglich, projektiver Identifikation [
6] in klinischen und außerklinischen Situationen zu begegnen. Der Empathiezuwachs im Umgang mit älteren Menschen durch die Simulationsübungen fällt bei Studierenden mit (berufs)praktischen Vorerfahrungen niedriger aus. Diesbezüglich ist es denkbar, dass eine (weitere) Empathiezunahme bei den beruflich vorerfahrenen befragten Studierenden einerseits aufgrund einer manifestierten Resilienz als Strategie gegen Burn-out/Lebensunzufriedenheit [
39] sowie andererseits anlässlich ekpathischer Fähigkeiten, die in dem Bemühen um unbeeinflusste und rationale Entscheidungen ausgebildet wurden [
26], geringer ausfiel.
Roth und Altmann weisen darauf hin, dass trotz einer notwendigen Förderung, eigene empathische Emotionen zu reflektieren und mit ihnen in Gesundheitsberufen pfleglich umzugehen, diesbezügliche Trainingsprogramm – im Gegensatz zur reinen Empathieschulung – selten angeboten werden [
31]. Laut Schrötter et al. überwiegt bei Medizinstudierenden zu Beginn des Studiums das Profil einer „reflektiert-unbelasteten Empathie“, während sich zum Ende des Studiums das Profil einer „unreflektiert-belastenden Empathie“ zeigt. Bezüglich der klinisch erfahrenen Studierenden wird anhand dieser Ergebnisse die Vermutung aufgestellt, dass eher adaptive Fähigkeiten zur Regulierung in emotionsbeanspruchenden Situationen als Empathie an sich fehlen [
34]. Demzufolge ist nicht davon auszugehen, dass mit zunehmenden klinisch-praktischen Erfahrungen in der Versorgung von Patient*innen zwangsläufig eine validere Einschätzung von Empathie einhergeht – auch dann nicht, wenn mit Fortschreiten des Studiums eine Zunahme des faktischen Wissens empathischer Dimensionen verbunden sein sollte. Diesen Ansätzen folgend scheinen beruflich vorerfahrene Studierende nicht notwendigerweise ein differenziertes Empathieverständnis während ihrer Berufsausbildung und/oder im beruflichen Kontext zu erwerben, das den in der zugrunde liegenden Studie erhobenen Unterschied im Empathiezuwachs zwischen den Studierenden mit und ohne Berufserfahrungen erklären könnte.
Im Gegensatz zum ausschließlichen Faktenwissen steigern Simulationen bei Studierenden die Empathie [
15]. Im Rahmen von „ALTERnativlos“ zeigt sich bei Medizinstudierenden mit einem sehr starken Empathiezuwachs ein besonders hoher Empathiescore. Ein möglicher Erklärungsansatz dafür ist, dass diese Studierenden den gleichen Zugewinn an Empathie als ausgeprägter einschätzen als Studierende mit einem niedrigeren Empathiescore. Entsprechend würde diesem Phänomen ein sich selbst verstärkender Mechanismus zugrunde liegen, der dafür sorgt, dass die hinzugewonnene Empathie von empathischeren Studierenden als schwerwiegender empfunden wird als von weniger empathischen Studierenden. Unterstützt wird diese Vermutung durch die neurowissenschaftliche Annahme von ansteckungsähnlichen Prozesse und Perspektivübernahmen bei der Empathieentwicklung [
19].
Auch gemeinnützige Aktivitäten und soziale Arbeit haben laut Ren et al. [
30] sowie Yang et al. [
41] einen positiven Effekt auf die Empathiewerte von Medizinstudierenden. Demzufolge könnte ein Praktikum oder FSJ im Gesundheitsbereich als ein empathiesteigernder Faktor bewertet werden und den höheren Empathiescore von Studierenden, die ein solches angegeben haben, erklären.