Einleitung
In Deutschland lebt ca. ein Fünftel der Familien mit kleinen Kindern unter psychosozial belastenden Bedingungen [
1], die sich schon bei Säuglingen und Kleinkindern negativ auf die Gesundheit und Entwicklung auswirken können [
2,
3]. Früh ansetzende präventive Unterstützungsangebote können dazu beitragen, negative Folgen eines Aufwachsens in Belastungslagen abzumildern [
4‐
6]. Dies ist das Ziel der Frühen Hilfen [
7]. Die Frühen Hilfen wurden seit 2012 bundesweit flächendeckend ausgebaut und in kommunalen Netzwerken koordiniert [
8,
9]. Sie umfassen Angebote, die allen Schwangeren und Eltern mit kleinen Kindern offenstehen. Mit speziellen Angeboten, wie beispielsweise der längerfristig aufsuchenden Begleitung durch Familienhebammen, richten sie sich aber insbesondere an Familien in Belastungslagen.
Gerade Familien mit erhöhtem Unterstützungsbedarf sind mit Präventionsangeboten aber oft nur schwer zu erreichen [
10]. Um diesem sogenannten Präventionsdilemma [
11] entgegenzuwirken, wurde von Beginn an eine enge Zusammenarbeit zwischen den Frühen Hilfen und der Praxispädiatrie angestrebt [
12]. Praxispädiater*innen spielen hierbei eine wichtige Rolle, da die meisten Familien mit kleinen Kindern die kinderärztlichen Früherkennungsuntersuchungen nutzen [
13] und Praxispädiater*innen ein hohes Vertrauen entgegengebracht wird. Praxispädiater*innen können das Präventionsdilemma entschärfen, indem sie Familien mit psychosozialen Belastungen identifizieren und bei Bedarf eine Nutzung der Frühen Hilfen empfehlen und anbahnen.
In einer im Jahr 2017 bundesweit durchgeführten repräsentativen Befragung von 815 Praxispädiater*innen zeigte sich allerdings, dass die Überleitung von psychosozial belasteten Familien nicht ausreichend gelingt: Praxispädiater*innen vermittelten demnach nur etwa jede 6. belastete Familie in kommunale Angebote der Frühen Hilfen [
14].
Um die Versorgung psychosozial belasteter Familien mit kleinen Kindern zu verbessern, entwickelte das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) bereits im Jahr 2010 die sogenannte PATH-Intervention („Pediatric Attention To Help“). Diese wurde vom NZFH aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert. Wie in der Infobox
1 dargestellt, umfasst die PATH-Intervention eine spezielle Schulung der Praxispädiater*innen und die Teilnahme an interdisziplinären Qualitätszirkeln Frühe Hilfen (IQZ).
Die PATH-Intervention ähnelt anderen in Deutschland erprobten Interventionen, die ebenfalls eine Schulung von Pädiater*innen beinhalten und damit auf ein frühzeitiges Erkennen familialer Belastungen und eine Vermittlung in psychosoziale Unterstützungsangebote abzielen [
15,
16]. Eine Besonderheit der PATH-Intervention besteht jedoch darin, dass sie neben einer Schulung auch regelmäßig stattfindende IQZ umfasst, in denen sowohl Fälle belasteter Familien als auch Unterstützungsmöglichkeiten durch regionale Angebote besprochen werden. Dadurch soll nicht nur das handlungsrelevante Wissen gesteigert, sondern auch die Vernetzung zwischen den Teilnehmenden unterschiedlicher Sektoren, insbesondere des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe, gestärkt werden. Dabei setzt sich die PATH-Intervention folgende Ziele: Praxispädiater*innen sollen psychosozial belastete Familien identifizieren, ihre Unterstützungsbedarfe mit ihnen besprechen, regionale Unterstützungsmöglichkeiten kennen, Eltern über deren Nutzen informieren und sie zur Inanspruchnahme motivieren. Dies soll im Ergebnis dazu beitragen, dass psychosozial belastete Familien vermehrt passende Angebote der Frühen Hilfen in Anspruch nehmen [
17].
Inwieweit diese Ziele mit der PATH-Intervention erreicht werden, wurde bislang noch nicht systematisch überprüft. Diese Lücke wurde mit der aus Mitteln des Innovationsfonds geförderten PATH-Evaluation geschlossen [
18]. Diese Evaluation prüft die Wirkung der PATH-Intervention auf die Vermittlung von psychosozial belasteten Familien in Angebote der Frühen Hilfen (primärer Endpunkt) sowie die Wirkung auf die (der Vermittlung vorgelagerten) Schritte der Identifikation psychosozial belasteter Familien und deren Informierung und Motivierung zur Inanspruchnahme von Angeboten Früher Hilfen (sekundäre Endpunkte). Zudem untersucht die Evaluation die Akzeptanz der PATH-Intervention bei allen Beteiligten, das Kosten-Effektivitäts-Verhältnis und die Treatment-Integrität.
Im vorliegenden Beitrag wird die Wirkung der PATH-Intervention auf die Identifikation psychosozial belasteter Familien betrachtet. Dieser Aspekt ist von besonderer Relevanz, da das Erkennen einer psychosozialen Belastung nicht nur den ersten Schritt des Vermittlungsprozesses in Angebote der Frühen Hilfen darstellt, sondern darüber hinaus eine wichtige Voraussetzung für jedwedes Eingehen auf psychosoziale Belastungen durch Pädiater*innen ist. Als Hauptfragestellung des vorliegenden Beitrags prüfen wir deshalb, ob die PATH-Intervention die Identifikation psychosozial belasteter Familien durch Praxispädiater*innen verbessert. Unsere Hypothese lautet: Der Anteil identifizierter psychosozial belasteter Familien ist bei Praxispädiater*innen, die an der PATH-Intervention teilgenommen haben (Interventionsgruppe, IG), höher als bei Praxispädiater*innen, die nicht an der PATH-Intervention teilgenommen haben (Kontrollgruppe, KG).
Als ergänzende Fragestellung untersuchen wir, ob die Stärke des Effekts der PATH-Intervention von dem Ausmaß der Belastung einer Familie abhängt. Dies ist anzunehmen, da es für Praxispädiater*innen umso einfacher sein sollte, eine Familie als belastet zu identifizieren, je mehr Risikofaktoren für Belastungen diese aufweist. Je mehr solcher Risikofaktoren eine Familie aufweist, desto weniger sollte es einen Unterschied machen, ob ein*e Praxispädiater*in spezielle Kenntnisse oder Kompetenzen für das Erkennen psychosozial belasteter Familien erworben hat. Unsere Hypothese lautet hier: Der Effekt der PATH-Intervention (d. h. der Unterschied zwischen IG und KG im Erkennen psychosozial belasteter Familien) nimmt mit steigender Anzahl von Risikofaktoren einer Familie ab. Zuletzt analysieren wir als explorative Fragestellung, ob die PATH-Intervention einen Einfluss darauf hat, wie Praxispädiater*innen die psychosoziale Belastung von Familien einschätzen, für die mithilfe des familienseitig eingesetzten Messinstruments kein Risikofaktor ermittelt wurde.
Diskussion
Die Ergebnisse zur Hauptfragestellung zeigen, dass die PATH-Intervention zu einer signifikanten Verbesserung der Identifikationsrate psychosozial belasteter Familien mit kleinen Kindern führte. Der Anteil der psychosozial belasteten Familien, die von ihren Praxispädiater*innen identifiziert wurden, war in der IG etwa doppelt so groß wie in der KG. Absolut betrachtet konnte durch die PATH-Intervention zusätzlich etwa eine von 5 psychosozial belasteten Familien von Praxispädiater*innen identifiziert werden. Die vorliegenden Ergebnisse belegen somit die Wirksamkeit der PATH-Intervention in Bezug auf diesen wichtigen Teilaspekt im Vermittlungsprozess von der pädiatrischen Praxis in die Frühen Hilfen. In Deutschland wurden zwar bereits ähnliche Interventionen durchgeführt, die als Teilziel ebenfalls die Verbesserung der Identifikation psychosozial belasteter Familien beinhalteten [
15,
16]. Inwieweit dieses Teilziel erreicht wurde, wurde bisher aber noch nicht berichtet, sodass eine Einbettung unserer Befunde in diese Studien ausbleiben muss. Die vorliegenden Ergebnisse stimmen jedoch mit Befunden zu dem amerikanischen Programm SEEK [
35] überein. Durch dieses Programm, das halbtägige Schulungen für Pädiater*innen zum Erkennen und Ansprechen von psychosozialen Belastungen umfasst, konnte die Häufigkeit des Einsatzes eines Screening-Fragebogens zur Erfassung psychosozialer Belastungen um 18–29 Prozentpunkte gesteigert werden [
36]. Die erzielten Steigerungen waren somit ähnlich hoch wie die Steigerungen der Identifikation psychosozial belasteter Familien durch die PATH-Intervention.
Entgegen der Hypothese zur ergänzenden Fragestellung hing die Stärke des Effekts der PATH-Intervention nicht vom Ausmaß der Belastung der Familien ab. Zudem ging aus der Prüfung der explorativen Fragestellung hervor, dass die Praxispädiater*innen der IG einen größeren Anteil der Familien, für die im familienseitigen Fragebogen kein Risikofaktor festgestellt wurde, als psychosozial belastet einschätzten als Pädiater*innen der KG. Dieses Ergebnis kann einerseits als Hinweis interpretiert werden, dass Praxispädiater*innen der IG die psychosoziale Belastung von Familien überschätzen. Andererseits muss ein Wert von 0 im PSB-Index nicht notwendigerweise bedeuten, dass eine Familie unbelastet ist, da die Familie durchaus Belastungen aufweisen kann, die nicht vom PSB-Index erfasst werden. Hierfür sprechen die qualitativen Befunde, die Hinweise auf weitere in der Kinderarztpraxis auffallende Belastungen enthalten, die im PSB-Index nicht berücksichtigt werden. Die qualitativen Ergebnisse weisen zudem darauf hin, dass die PATH-Intervention Praxispädiater*innen für das Erkennen von Belastungen sensibilisieren kann. In jedem Fall führte die PATH-Intervention dazu, dass generell mehr Familien als belastet eingeschätzt wurden, ungeachtet dessen, wie viele Risikofaktoren die Familien aufwiesen. Dieser höhere Anteil identifizierter (auch geringfügig belasteter) Familien ist positiv zu bewerten, da bisher zu wenige belastete Familien von Praxispädiater*innen in Angebote der Frühen Hilfen übermittelt wurden [
14] und Praxispädiater*innen nur bei Familien, die sie als belastet einschätzen, weitere Schritte gehen, um die Belastungen der Familien anzusprechen [
37] und bei Bedarf eine Vermittlung in Angebote der Frühen Hilfen anzubahnen. Wenn die PATH-Intervention dazu führt, dass Praxispädiater*innen auch einen Anteil von Familien als belastet einschätzen, die möglicherweise nur gering belastet sind, aber aus ärztlicher Sicht dennoch Unterstützungsbedarf haben, muss dies keine negativen Auswirkungen im Sinne einer Fehlversorgung haben, da auch diese Familien von den präventiven Angeboten der Frühen Hilfen profitieren können [
38].
Es ist allerdings zu beachten, dass nicht alle psychosozial belasteten Familien externer Unterstützung bedürfen. Ob tatsächlich ein entsprechender Unterstützungsbedarf besteht, hängt auch davon ab, ob die Belastung einer Familie ihre eigenen Ressourcen übersteigt [
39]. Außer der Identifikation von Risikofaktoren spielen somit auch die Exploration und Einschätzung der Ressourcen der Familien durch Praxispädiater*innen eine wichtige Rolle für die Ermittlung eines Hilfebedarfs [
40]. Die qualitativen Ergebnisse weisen darauf hin, dass Ärzt*innen der IG entsprechend verfahren und prüfen, inwiefern Belastungslagen durch den Einbezug familialer Ressourcen abgemildert werden können.
Einschränkungen der vorliegenden Studie betreffen vor allem die Instrumente, die zur familien- und arztseitigen Erfassung der psychosozialen Belastung eingesetzt wurden. Bei dem PSB-Index handelt es sich um ein Messinstrument, das im Kontext der Frühen Hilfen zur Bestimmung der Prävalenz psychosozialer Belastungen bereits in den großen repräsentativen KiD 0–3 Studien des NZFH [
25,
41‐
43] eingesetzt wurde. Da der PSB-Index nicht alle potenziellen Risikofaktoren abdeckt, kann er zwar psychosozial belastete Familien identifizieren, unbelastete aber nicht. Die Hypothesenprüfung der vorliegenden Studie begrenzt sich deshalb auf die Identifikation von belasteten Familien, d. h. auf eine Überprüfung des Zugewinns an Sensitivität durch die PATH-Intervention. Eine Überprüfung der Identifikation von unbelasteten Familien, d. h. eine Überprüfung des Zugewinns an Spezifität durch die PATH-Intervention, konnte in der vorliegenden Studie nur ansatzweise vorgenommen werden. Den Fokus zunächst auf die Überprüfung des Zugewinns an Sensitivität zu legen, erscheint vor dem Hintergrund angemessen, dass die Identifikation von belasteten Familien für die weitere Versorgung dieser Familien von höherer Bedeutung ist als die Identifikation von unbelasteten Familien.
Weiterhin wurde die psychosoziale Belastung familien- und arztseitig unterschiedlich erhoben. Im Gegensatz zur familienseitigen Messung der psychosozialen Belastung anhand verschiedener Indikatoren beurteilten die Praxispädiater*innen die psychosoziale Belastung der Familien global anhand eines einzigen Items (Schätzen Sie die Familie als psychosozial belastet ein? (Nein/Ja)). Die ärztliche Einschätzung war somit nicht auf die Merkmale begrenzt, auf die sich der PSB-Index stützt, sondern bezog sich vermutlich vielmehr auf einen ganzheitlichen Eindruck der Familie. Die ärztliche Einschätzung konnte zwar mit dem (dichotomisierten) Gesamtwert der familienseitig ermittelten psychosozialen Belastung verglichen werden, es war aber nicht möglich zu prüfen, ob der*die Praxispädiater*in die konkrete(n) Belastung(en) erkannt hat, die sich im PSB-Index abbildete(n). Ein solcher Vergleich wäre aufschlussreich, da damit ergründet werden könnte, ob der durch die PATH-Intervention erhöhte Anteil identifizierter psychosozial belasteter Familien auf ein besseres Erkennen bestimmter Belastungen zurückzuführen ist oder darauf, dass Praxispädiater*innen, die an der PATH-Intervention teilgenommen haben, eine höhere Sensibilität für Belastungen entwickelt haben. Beide Annahmen werden durch Befunde der qualitativen Interviews gestützt.
Fazit
In der vorliegenden Studie konnte erstmals nachgewiesen werden, dass die PATH-Intervention die Identifikation psychosozial belasteter Familien durch Praxispädiater*innen verbessert. Die Verbesserung betrug etwa 20 Prozentpunkte und war für psychosozial belastete Familien mit bis zu 4 Risikofaktoren, die den Großteil der untersuchten Stichprobe ausmachten, vergleichbar groß. Die Ergebnisse einer explorativen Analyse deuten darauf hin, dass die Teilnahme an der PATH-Intervention dazu führt, dass Praxispädiater*innen generell mehr Familien als belastet identifizieren – möglicherweise (auch) durch eine Wahrnehmung von Risikofaktoren, die mit dem PSB-Index bislang nicht erfasst werden. Mit der Verbesserung der Identifikation psychosozial belasteter Familien schafft die PATH-Intervention eine wichtige Grundlage, um die Vermittlung der betroffenen Familien aus der kinderärztlichen Praxis in passgenaue Unterstützungsangebote wie die der Frühen Hilfen zu verbessern.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle beschriebenen Befragungen wurden mit Zustimmung der Ethikkommissionen der Universität Freiburg (Nr. 20-1146), der Landesärztekammer Baden-Württemberg (Aktenzeichen: B‑F-2020-156) und der Landesärztekammer Bayern (Aktenzeichen: 2020-1270) im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Eltern und Praxispädiater*innen wurde vor Teilnahme an der Studie eine schriftliche Einwilligungserklärung eingeholt.
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