Einleitung
Prävention von extremistisch motivierter Kriminalität stellt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar, die in Deutschland durch einige spezifische Aspekte geprägt ist. Hierzu gehören vor dem Hintergrund der föderalen Struktur die Verankerung vieler Präventionsangebote auf kommunaler Ebene, das Zusammenspiel von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Trägern sowie ein Ansatz, der nicht nur auf extremistische Gewalt fokussiert, sondern auch Aspekte wie Demokratiefeindlichkeit und radikale Strömungen ohne Gewaltbereitschaft adressiert (Ben Slama
2020). Dadurch entstand eine breite, durchaus flächendeckende, aber unübersichtliche Präventionslandschaft (Gruber et al.
2016). Auch wenn in den letzten Jahren zunehmend versucht wird, Angebote der Extremismusprävention systematisch zu erfassen und darzustellen, liegen bislang keine Untersuchungen vor, die den möglichen Zugang der Allgemeinbevölkerung zu diesen Angeboten in den Blick genommen hat. Im Rahmen einer bevölkerungsrepräsentativen Studie soll erstmals erfasst werden, an wen sich die Allgemeinbevölkerung im Falle eines Beratungsbedarfs im Zusammenhang mit dem Thema Extremismus wenden würde.
Der jährliche Verfassungsschutzbericht des Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat weist deutlich auf die Notwendigkeit für gelingende Extremismusprävention hin (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
2020). Bei den durch das Bundeskriminalamt (BKA) für das Jahr 2019 registrierten 41.177 politisch motivierten Straftaten habe bei 76,4 % ein extremistischer Hintergrund vorgelegen. Präsent seien v. a. Straf- und Gewalttaten aus dem rechten Spektrum (21.290 Delikte, davon 925 Gewalttaten), während Straftaten aus dem linken Spektrum (6449 Delikte, davon 921 Gewaltdelikte) und dem der religiösen Ideologie (362 Delikte, davon 41 Gewaltdelikte) quantitativ eine eher untergeordnete Rolle spielen würden. Dunkelfeldstudien zur Häufigkeit extremistischen Verhaltens liegen aus Deutschland bislang nicht vor. Die Autoren der „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung gehen allerdings davon aus, dass bei 2,4 % der Bevölkerung im Erwachsenenalter eine deutliche rechtsextreme Orientierung vorliege (Zick et al.
2019). In einer für das Bundesland Niedersachsen repräsentativen Stichprobe wurden 5,5 % der Befragten als linksextrem eingeschätzt (Baier
2015). Bezüglich religiös begründetem Extremismus liegt eine Studie aus Deutschland mit ausschließlich Personen muslimischen Glaubens vor. Hier stimmten 7,6 % dem Einsatz von Gewalt zu, wenn es der islamischen Gemeinschaft diene, und 55 % stimmten dem Einsatz von Gewalt zu, wenn diese der Durchsetzung oder Verbreitung des Islams diene (Brettfeld und Wetzels
2007). Aus dem Evaluationsbericht der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist wiederum zu entnehmen, dass dort über einen 4‑Jahres-Zeitraum 3000 Anfragen über die Hotline und über E‑Mails im Zusammenhang mit Radikalisierung eingingen. Davon wurden 854 Fälle an Fachberatungsstellen weitervermittelt und 237 Fälle als sicherheitsrelevant eingestuft (Uhlmann
2017).
Betrachtet man die Angebote zur Extremismusprävention in Deutschland, so ergibt sich das Bild einer ausgesprochen heterogenen Beratungslandschaft (Lützinger und Gruber
2017; Kober
2017). Aufgrund der Auswertung von 1642 Präventionsangeboten kommen Lützinger et al. (
2020) zu dem Schluss, dass der größte Teil der Präventionsmaßnahmen (85 %) sich an Personen ohne Anzeichen einer Radikalisierung richte. Hierzu gehören universell-präventive Maßnahmen mit dem Fokus Demokratieförderung, Aufklärung/Information der Bevölkerung, aber auch Beratung von Fachkräften. Bereits deutlich weniger Angebote finden sich im Bereich der selektiven Prävention (47 %), bei der primär Risikogruppen für radikale Entwicklungen adressiert werden. Ein gutes Drittel der Präventionsmaßnahmen (35 %) seien der indizierten Prävention zuzuordnen, umfassen also die Arbeit mit (potenziellen) Aussteigern aus der extremistischen Szene sowie die Beratung und Unterstützung von Angehörigen. In der Praxis ist dabei eine Trennung zwischen selektiver und indizierter Prävention häufig schwierig. So adressiert selektive Prävention definitionsgemäß Risikogruppen, die noch keine Anzeichen für eine Radikalisierung zeigen. In Ermangelung an validen und aussagekräftigen Risikomarkern, bei welchen Personen tatsächlich ein erhöhtes Risiko für eine Radikalisierung besteht, werden als selektive Prävention häufig auch Maßnahmen für Personen mit ersten Radikalisierungstendenzen gewertet. Damit überschneidet sich die selektive und die indizierte Extremismusprävention, die per Definition radikalisierte Personen adressieren sollte (Allroggen et al.
2020b). Wichtige Akteure für die indizierte Prävention sind insbesondere spezialisierte Fachberatungsstellen in staatlicher und zivilgesellschaftlicher Trägerschaft sowie Sicherheitsbehörden (Ben Slama
2020). Quantitativ stellt die Beratung von Institutionen und Angehörigen gegenüber der Beratung und Begleitung von radikalisierten Personen dabei einen Schwerpunkt dar (Möller und Neuscheler
2018; Schuhmacher
2018).
Eine entscheidende Voraussetzung für einen gelingenden Beratungsprozess ist zunächst, dass Klientinnen und Klienten, unabhängig davon, ob es sich um Angehörige, radikalisierte Personen oder ratsuchende Fachkräfte handelt, Zugang zu den Fachberatungsstellen erhalten und Vertrauen für eine Beratungsanfrage fassen, was nicht immer gelingt. Zwar wurde aufgrund der Brisanz des Themas eine Hotline beim Bundesamt für Verfassungsschutz eingerichtet, die aber aufgrund mangelnder Nachfrage aus der Bevölkerung bald wieder eingestellt werden musste (Handle et al.
2020). In den letzten Jahren haben einige Fachberatungsstellen aus diesem Grund ihre Zugangswege evaluiert, beispielweise die Hamburger „Fach- und Beratungsstelle für religiös begründete Radikalisierung – Legato“, wobei fast die Hälfe der Beratungsfälle (48 %) auf direktem Wege die Beratungsstelle aufgesucht haben wollen, was auf einen hohen Bekanntheitsgrad von Legato zurückgeführt wurde. In seltenen Fällen erfolgte der Zugang von Ratsuchenden über die Sicherheitsbehörden (Schuhmacher
2018). Auch bei Beratungsstellen im Bereich des Rechtsextremismus scheinen unmittelbare Zugänge zu Beratungsstellen gut zu funktionieren, wobei ein Bedarf an der Ausgestaltung jugendaffiner Zugangswege, z. B. über Facebook oder Flyer mit QR-Code, zur Ergänzung schon vorhandener virtueller Zugangswege konstatiert wird (Möller und Neuscheler
2018).
Obwohl diese Untersuchungen erste Hinweise darauf geben können, wie Ratsuchende erreicht werden können, fehlen bislang systematische Untersuchungen zu Zugangswegen zur Fachberatung. Diese zu analysieren, ist aber entscheidend, um strategische Kooperationspartner für eine Vernetzung hinsichtlich der Extremismusprävention auszuwählen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Bundesministerium des Inneren
2016).
Ziel der vorliegenden Studie ist es daher, anhand einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe zu erfassen, an wen sich die Befragten wenden würden, wenn sie Unterstützung zum Thema Radikalisierung benötigen würden, oder an wen sie sich gewandt haben, falls bereits ein Beratungs- und Hilfebedarf in der Vergangenheit bestand. Die Untersuchung soll dabei auch klären, ob neben den bekannten Akteuren im Feld wie Fachberatungsstellen oder Sicherheitsbehörden auch andere Institutionen und Berufsgruppen eine relevante Rolle bei der indizierten Extremismusprävention einnehmen können.
Ergebnisse
Von den Befragten gaben 38 Personen (1,5 %) an, schon einmal Hilfe oder Rat zum Thema Extremismus benötigt zu haben, die übrigen 2465 Befragten (98,5 %) verneinten dies (Tab.
1).
Tab. 1
Demografische Angaben der Gesamtstichprobe, der Personen mit früherem Beratungsbedarf in Bezug auf Extremismus und der Personen ohne bisherigen Beratungsbedarf, Anzahl n (%)
Männlich | 1247 (49,8 %) | 18 (47,4 %) | 1229 (49,9 %) |
Weiblich | 1256 (50,2 %) | 20 (52,6 %) | 1236 (50,1 %) |
Alter <25 Jahre | 254 (10,1 %) | 10 (26,3 %) | 244 (9,9 %) |
Alter >25 Jahre | 2246 (89,7 %) | 28 (73,7 %) | 2218 (90,0 %) |
Migrationshintergrund | 314 (12,5 %) | 8 (21,1 %) | 306 (12,4 %) |
Kein Migrationshintergrund | 2189 (87,5 %) | 30 (78,9 %) | 2159 (87,6 %) |
Schulabschluss |
Kein Abschluss | 52 (2,1 %) | 4 (10,5 %) | 48 (1,9 %) |
Haupt‑/Volksschule | 702 (28,0 %) | 6 (15,8 %) | 696 (28,2 %) |
Mittlere Reife | 1112 (44,4 %) | 11 (28,9 %) | 1101 (44,7 %) |
Hochschulreife | 340 (13,6 %) | 9 (23,7 %) | 331 (13,4 %) |
Studium | 258 (10,3 %) | 8 (21,1 %) | 250 (10,1 %) |
Aktuell Schüler | 37 (1,5 %) | 0 | 37 (1,5 %) |
Haushaltseinkommen |
<1250 € | 316 (12,6 %) | 7 (18,4 %) | 309 (12,5 %) |
1250–2500 € | 1056 (42,2 %) | 15 (39,5 %) | 1041 (42,2 %) |
>2500 € | 1101 (44,0 %) | 16 (42,1 %) | 1085 (44,0 %) |
Politische Orientierung |
Links | 265 (10,6 %) | 7 (18,4 %) | 258 (10,5 %) |
Rechts | 163 (6,5 %) | 4 (10,5 %) | 159 (6,5 %) |
Die meisten Personen, die bereits einen Beratungsbedarf hatten, wandten sich an Erziehungs- und Familienberatungsstellen (42,1 %;
n = 16) oder an Sicherheitsbehörden (18,4 %;
n = 7) und Heilberufe bzw. Psychologen (10,5 %;
n = 4). An niemanden hatten sich 4 Personen gewandt (Tab.
2). Unter „Sonstige“ wurden v. a. Freund/-e (
n = 7) genannt, sowie „Mutter“ (
n = 1), „Lehrer“ (
n = 1), „Internet“ (
n = 1) und „Imam“ (
n = 1). Von den 2465 Personen (98,5 %), die bislang noch keinen Beratungsbedarf oder Unterstützung benötigten, würden sich die meisten Befragten an Sicherheitsbehörden (40,0 %,
n = 986) wenden (Tab.
2). Die Anlaufstellen Erziehungs- und Familienberatungsstellen (13,3 %,
n = 329), Fachberatung für Radikalisierung (13,1 %,
n = 322) sowie Arzt/Psychologe/Psychotherapeut (14,4 %,
n = 354) wurden in etwa gleich häufig benannt. An niemanden würden sich 399 Personen (16,2 %) wenden (Tab.
2). Unter „Sonstige“ wurden v. a. Freunde/Partner (
n = 19) und Familienmitglieder genannt (
n = 15), sowie das „Internet“ (
n = 7) und „Pfarrer“ (
n = 1).
Tab. 2
Häufigkeit der genannten Anlaufstellen von Personen, bei denen bereits Unterstützungsbedarf bestand, und Personen, bei denen bislang noch kein Beratungsbedarf vorlag. Mehrfachnennungen möglich
Erziehungs- und Familienberatungsstelle | 16 (42,1 %) | 329 (13,3 %) |
Fachberatung für Radikalisierung | 1 (2,6 %) | 322 (13,1 %) |
Polizei, Landeskriminalämter, Bundeskriminalamt | 7 (18,4 %) | 986 (40,0 %) |
Arzt/Psychologe/Psychotherapeut | 4 (10,5 %) | 354 (14,4 %) |
Behörden (z. B. BAMF, Verfassungsschutz) | 0 | 147 (6,0 %) |
Niemand | 4 (10,5 %) | 399 (16,2 %) |
Sonstige | 10 (26,3 %) | 40 (1,6 %) |
Keine Angabe | 0 | 48 (1,9 %) |
Gruppenunterschiede (signifikante Unterschiede in der Post-hoc-Analyse werden mit hochgestellten Buchstaben gekennzeichnet) zeigen sich für den Fall eines Beratungsbedarfs bei der intendierten Inanspruchnahme von Erziehungs- und Familienberatungsstelle in Bezug auf das Geschlecht (Frauen 15,7 %, Männer 11,0 %, Chi2 11,827, p = 0,001). Bei der möglichen Inanspruchnahme einer Fachberatung für Radikalisierung fanden sich Unterschiede in Bezug auf das Haushaltseinkommen (Haushaltseinkommen <1250 € 11,7 %, Haushaltseinkommen 1250–2500 € 10,9 %a, Haushaltseinkommen >2500 € 15,7 %a, Chi2 11,465, p = 0,003) sowie in Bezug auf das Bildungsniveau (kein Abschluss 4,2 %, Hauptschule 10,2 %cb, mittlere Reife 12,1 %a, Hochschulreife 17,5 %b, Studium 20,8 %ac, aktuell Schüler 16,2 %, Chi2 28,580, p = 0,000). Bezüglich der Sicherheitsbehörden (Polizei, Landeskriminalämter, Bundeskriminalamt) finden sich Gruppenunterschiede hinsichtlich des Alters (Alter <25 Jahre 29,1 %, Alter >25 Jahre 41,2 %, Chi2 13,336, p = 0,000), der politischen Orientierung (links 33,3 %, rechts 43,4 %, Chi2 4,265, p = 0,039) sowie des Bildungsstands (kein Abschluss 50,0 %, Hauptschule 37,9 %, mittlere Reife 43,5 %a, Hochschulreife 38,7 %, Studium 32,8 %a, aktuell Schüler 24,3 %, Chi2 18,306, p = 0,003). Angehörige der Gesundheitsberufe (Arzt/Psychologe/Psychotherapeut) würden eher von jüngeren Personen (Alter <25 Jahre 18,9 %, Alter >25 Jahre 13,9 %, Chi2 4,403, p = 0,039) und von Personen mit eher linker Orientierung (links 15,1 %, rechts 8,2 %, Chi2 4,341, p = 0,037) angefragt werden. Bezüglich der Inanspruchnahme von Behörden (z. B. BAMF, Verfassungsschutz) ergaben sich keine signifikanten Gruppenunterschiede. Männer würden sich häufiger „niemandem“ anvertrauen (Männer 18,8 %, Frauen 13,6 %, Chi2 12,299, p = 0,000), zudem fanden sich in der Kategorie „niemand“ auch Gruppenunterschiede bezüglich des Einkommens (Haushaltseinkommen <1250 € 21,7 %a, Haushaltseinkommen 1250–2500 € 18,6 %b, Haushaltseinkommen >2500 € 12,3 %ab, Chi2 23,834, p = 0,000) und des Bildungsabschlusses (kein Abschluss 10,4 %, Hauptschule 22,3 %bac, mittlere Reife 14,5 %c, Hochschulreife 13,0 %b, Studium 12,0 %a, aktuell Schüler 13,5 %, Chi2 28,340, p = 0,000). Bei keiner der vorgegebenen Antwortkategorien ergaben sich Unterschiede in Bezug auf einen Migrationshintergrund.
Diskussion
Die vorliegende Studie ist nach Kenntnis der Autoren die erste bevölkerungsrepräsentative Studie, die untersucht, an wen sich Personen mit einem Beratungsbedarf in Bezug auf Extremismus wenden würden bzw. bereits gewandt haben. Sie kann wertvolle Erkenntnisse zu Zugangswegen von Ratsuchenden liefern und auf Vernetzungsbedarfe von Angeboten hinweisen, um die Zugänge zu entsprechenden Fachberatungen zu erleichtern.
Die Ergebnisse zeigen, dass etwa 1,5 % der Befragten bereits Beratungsbedarf zum Thema Extremismus hatten. Vor allem jüngere Personen und Personen mit Migrationshintergrund scheinen dabei etwas häufiger Beratung in Anspruch genommen zu haben. Dies deckt sich mit Studien, die ein jüngeres Alter und z. T. auch das Vorliegen eines Migrationshintergrundes als Risikofaktor für radikale Einstellungen nachweisen (Wolfowicz et al.
2019). Dass entgegen den Erwartungen etwas mehr Frauen mit dem Thema konfrontiert worden sind, liegt möglicherweise daran, dass v. a. Angehörige (z. B. Mütter) Beratung suchen (Schuhmacher
2018). Dies erklärt möglicherweise auch, warum überwiegend Angebote wie Erziehungs- und Familienberatungsstelle als Anlaufstelle gewählt wurden, was die Gefahr birgt, dass damit möglicherweise keine spezialisierte Beratung und professionelle Bewertung des Falles stattgefunden hat. Neben den niederschwelligen Anlaufstellen und persönlichen Ansprechpersonen wurden v. a. auch Sicherheitsbehörden (z. B. Polizei, Landeskriminalämter, Bundeskriminalamt) genannt, was darauf hindeuten könnte, dass es sich entweder um Fälle handelt, bei denen ein strafbares Handeln vermutet wurde, oder aber andere Ansprechpersonen nicht bekannt waren. Erstaunlich ist, dass sich niemand bzw. nur wenige Personen an Fachberatungsstellen oder Behörden gewandt haben. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass spezialisierte Beratungen bzw. auch zentrale deutschlandweite Hotlines zum Thema (Hotline „Radikalisierung“ des BAMF) in der Allgemeinbevölkerung noch nicht hinreichend bekannt sind. Die Ergebnisse müssen jedoch aufgrund der niedrigen absoluten Fallzahlen mit Vorsicht interpretiert werden.
Ein ähnliches Bild zeigt sich allerdings bei der Frage, an wen sich Betroffene im Falle eines Beratungs- und Hilfebedarfs wenden würden. Auch hier werden Sicherheitsbehörden am häufigsten als Ansprechpartner benannt. Daneben werden auch eher unspezifische Angebote wie Erziehungs- und Familienberatungsstellen oder Angehörige von Heilberufen genannt, jedoch, anders als bei den tatsächlichen Inanspruchnahmefällen, auch Fachberatungsstellen und Behörden, was möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass diese Stellen als Antwortmöglichkeiten bereits vorgegeben waren. So kann die Information im Fragebogen, dass es diese Stellen gibt, schon dazu geführt haben, dass diese auch als relevant im Falle eines Beratungsbedarfs bewertet wurden. Dies würde bedeuten, dass, wenn Fachberatungsstellen zum Thema Radikalisierung besser bekannt würden, diese möglicherweise auch als Ansprechperson im Ernstfall eher gewählt werden würden. Zudem gaben gut 16 % der Befragten an, dass sie bei einem möglichen Beratungsbedarf niemanden kontaktieren würden, was fatale Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft haben könnte und ebenso dafür spricht, professionelle Beratung bekannt zu machen.
Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auch unterschiedliche Unterstützungsangebote präferieren. So würden sich jüngere Personen und Personen, die ihre politische Orientierung eher als links bezeichnen, seltener an Sicherheitsbehörden wenden und häufiger Ärzte oder Psychotherapeuten als Ansprechpartner wählen, möglicherweise auch als Ausdruck eines Misstrauens gegenüber staatlichen Institutionen. Auch Frauen scheinen häufiger unspezifische und niederschwellige Beratungsangebote zu wählen. Interessant ist aber vor allen Dingen, dass sich neben Männern v. a. Personen mit niedrigerem Haushaltseinkommen und niedrigeren Bildungsabschlüssen im Falle eines Beratungsbedarfs eher an niemanden wenden würden. Für diesen Personenkreis ist jedoch das Risiko für die Entwicklung radikaler Einstellungen erhöht, gleichzeitig werden sie durch bestehende Angebote schwerer erreicht (Wolfowicz et al.
2019).
Zusammengenommen zeigen die Ergebnisse, dass Ratsuchende möglicherweise vielfach Ansprechpartner wählen, die nicht spezialisiert sind, die ihnen möglicherweise aber aus anderen Kontexten bekannt sind. So spielt trotz der berichteten hohen Fallzahlen der Beratungsstelle des BAMF (Uhlmann
2017) diese als primärer Ansprechpartner bei den Befragten keine nennenswerte Rolle. Auch der von Legato berichtete hohe Anteil an direktem Zugang spiegelt sich in den hier erhobenen Daten nicht wider (Schuhmacher
2018). Daraus kann geschlossen werden, dass Fachberatungsstellen bei der Allgemeinbevölkerung noch stärker publik gemacht werden sollten. Da Öffentlichkeitsarbeit und komplementäre Zugangswege zu Fachberatungsstellen jedoch eine hohe Personalkapazität erfordern (Möller und Neuscheler
2018), sind die finanziellen Voraussetzungen dafür in den Beratungsstellen vorerst zu prüfen.
In diesem Zusammenhang müssen aber auch mögliche Limitationen der Studie betrachtet werden. So wurden aufgrund des Haushaltszuganges unter Umständen Personen, die bereits Kontakt zu Fachberatungsstellen hatten oder sog. Aussteiger aus extremistischen Gruppierungen nicht erreicht, weil diese einen Zugang zu ihrer Wohnung eher ablehnen und bei einer Teilnahme möglicherweise auch Repressalien durch andere radikale Personen fürchten. Für andere wiederum mag das Thema Extremismus so abstrakt sein, dass diese sich noch keine Gedanken darüber gemacht haben, an wen sie sich gezielt wenden würden, und daher (trotz der Antwortmöglichkeiten) primär eher niederschwellige und unspezifische Optionen gewählt haben.
Dennoch lassen sich auf der Basis dieser ersten bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe wertvolle Hinweise gewinnen und einige Herausforderungen insbesondere für die indizierte Extremismusprävention ableiten. Die Tatsache, dass viele Ratsuchende eher niederschwellige und unspezifische Beratungsangebote aufsuchten bzw. aufsuchen würden, birgt die Gefahr, dass diese mit der Fragestellung überfordert sind und Ratsuchende den Weg in eine Fachberatung nicht finden. Es ist daher zwingend notwendig, Familien- und Erziehungsberatungsstellen sowie Ärzte und Psychotherapeuten in entsprechende Netzwerke einzubinden. Für den Bereich der Heilberufe wurde beispielsweise mit Unterstützung des BAMF eine Handlungsempfehlung für Ärzte und Psychotherapeuten entwickelt, die eine Vernetzung befördern und Hinweise im Umgang mit Beratungsfällen geben soll (Allroggen et al.
2020a). Zudem ist eine Einbindung der Akteure in bestehende Präventionsnetzwerke stärker mitzudenken (Modell- und Kooperationsprojekt TRIAS, Zugang zu psychotherapeutischer Behandlung bei Deradikalisierungsprozessen,
http://www.extremismus-und-psychologie.de/Projekt-TRIAS/). Ähnliche Projekte könnten auch für den Bereich der Erziehungs- und Familienberatungsstellen und für weitere Anlaufstellen förderlich sein. Die Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention sieht bereits eine Vernetzung von verschiedenen Akteuren vor (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Bundesministerium des Inneren
2016), berücksichtigt allerdings nicht Angehörige von Heilberufen.
So sollte einerseits durch Netzwerkarbeit der Weg für Betroffene zu den Fachberatungsstellen erleichtert werden, wenn sich diese zunächst an unspezifische Angebote wenden. Gleichzeitig sollten diese Akteure und Anlaufstellen aber auch stärker in den Beratungs- und Deradikalisierungsprozess eingebunden werden, um beispielsweise flankierende Probleme oder einen gleichzeitig bestehenden Bedarf der Behandlung, etwa im Falle einer psychischen Störung, abzudecken (Lützinger und Gruber
2017). Zudem könnten diese Anlaufstellen, wenn bereits ein Vertrauensverhältnis besteht, den Deradikalisierungsprozess auch unterstützend und motivierend begleiten.