Kinder psychisch erkrankter Eltern wachsen oft unter erschwerten Bedingungen auf und unterliegen einem größeren Risiko, selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Ihre Versorgungslage ist oft unzureichend. Umso wichtiger sind vermittelnde Zugangswege, z. B. durch Angebote der Kinder- und Jugendhilfe. Dieser Beitrag untersucht Zusammenhänge zwischen der Inanspruchnahme von elterlicher Psychotherapie, der Nutzung von weiteren familienbezogenen Unterstützungsangeboten und der Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendtherapie.
Hintergrund und Fragestellung
Die Zahl der Diagnosen psychischer Erkrankungen ist angestiegen, was u. a. auf die größer werdende Sensibilität und Offenheit gegenüber psychischen Erkrankungen sowie eine verbesserte Diagnostik zurückgeführt werden kann (Rabe-Menssen et al.
2020). Dadurch wird auch die Wichtigkeit einer bedarfsgerechten psychotherapeutischen Versorgung deutlich, was v. a. für besonders vulnerable Gruppen wie Kinder psychisch kranker Eltern relevant ist, um diese möglichst früh zu erreichen. Knapp 16 % der Bevölkerung im Alter ab 14 Jahren in Deutschland haben einmal eine psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung in Anspruch genommen (Groschwitz et al.
2017). Im kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext haben 40–50 % der behandelten Kinder und Jugendlichen psychisch oder suchterkrankte Eltern (Mattejat und Remschmidt
2008). Kinder und Jugendliche psychisch erkrankter Eltern weisen im Vergleich zur Normalbevölkerung ein bis zu 8‑fach erhöhtes Risiko auf, psychische Auffälligkeiten zu entwickeln (Wiegand-Grefe et al.
2011). Durch zahlreiche Studien konnte außerdem belegt werden, dass die Hauptrisikofaktoren nicht lediglich in der Art der psychischen Erkrankung des Elternteils liegen, sondern vielmehr den Belastungen geschuldet sind, die aus Verlaufsmerkmalen der Erkrankung (Chronizität, Schweregrad) sowie den damit einhergehenden psychosozialen und sozialen Belastungsfaktoren entstehen (Lenz
2014).
Insbesondere die intergenerationale Transmission depressiver Erkrankungen wird von vielen Forschungsarbeiten belegt (z. B. Goodman et al.
2011). Dennoch nehmen Kinder und Jugendliche psychisch erkrankter Eltern höchstens doppelt so häufig therapeutische Unterstützung in Anspruch wie Kinder psychisch gesunder Eltern. Vor dem Hintergrund des deutlich höheren Erkrankungsrisikos stellt dies eine eher unzureichende Versorgungslage dar. Generell nehmen Familien aus städtischen Regionen, mit hoher elterlicher Belastung und einer stärkeren Beeinträchtigung der Kinder durch ihre psychischen Auffälligkeiten häufiger Hilfsangebote in Anspruch (Röhrle und Christiansen
2009; Mattejat
2014). Auch die Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV
2019) liefert ähnliche Ergebnisse: Frauen, Befragte mit höherem Bildungsgrad und in Großstädten wohnende Menschen nehmen häufiger eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch. Auch bei Kindern und Jugendlichen hat die Wohnortgröße einen signifikanten Einfluss auf das Inanspruchnahmeverhalten (Hintzpeter et al.
2014).
Die Familie spielt jedoch nicht nur in der Entstehung von psychischen Erkrankungen im Sinne der intergenerationalen Transmission eine wichtige Rolle, sondern auch in deren Bewältigung. Compas et al. (
2015) zeigen in ihrer Studie auf, dass eine präventiv ausgerichtete behavioral-kognitive Familiengruppe für Kinder mit depressiv erkrankten Eltern langfristige positive Effekte auf die kindlichen Symptome Depression, Depression gemischt mit Angst sowie internale und externale Probleme hat. Dies hebt die Wichtigkeit hervor, ganzheitliche Ansätze für Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil zu entwickeln, um der Entstehung von psychischen Erkrankungen bei Kindern präventiv entgegenzusteuern oder zumindest einem schweren Verlauf entgegenzuwirken.
Die Erreichung von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil gestaltet sich nach wie vor als herausforderungsreich, wenngleich die Inanspruchnahme von Psychotherapie steigt (z. B. Hefti et al.
2016). Bisherigen Studienergebnissen zufolge stellen die Angst vor Stigmatisierung und vor familienrechtlichen Konsequenzen sowie die Sorge um die Versorgung der Kinder, z. B. während eines stationären Aufenthalts, Barrieren für die Inanspruchnahme von Therapie dar (z. B. Kölch und Schmid
2008). Auch die Nichtkenntnis von Angeboten spielt eine entscheidende Rolle (Hefti et al.
2016). Mangelnde Kenntnis von Unterstützungsangeboten betrifft auch in der Kinder- und Jugendhilfe, wie beispielsweise Familien- oder Erziehungsberatung, häufiger Familien mit geringen Bildungsressourcen, sodass deren Versorgungslage insgesamt schlechter ist als die von Familien mit höheren Bildungsressourcen (Eickhorst et al.
2016). Gerade in psychischen Belastungslagen können jedoch (aufsuchende) Beratungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe flankierend zur Therapie wichtige Unterstützung bieten (Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern
2020).
Wenig Beachtung in der Forschung fand bislang die Frage, inwieweit therapeutische und beratende Unterstützungsangebote für psychisch erkrankte Eltern auch der psychischen Gesundheit des Kindes zugutekommen. Immerhin konnte in einer Längsschnittstudie gezeigt werden, dass eine erfolgreiche kognitive Verhaltenstherapie der elterlichen Angststörung einen langfristigen günstigen bzw. reduzierenden Effekt auf die kindliche Psychopathologie hat (Schneider et al.
2013). Diese Befunde geben erste Hinweise darauf, dass sich die Therapie von psychischen Erkrankungen bei Eltern – zumindest hinsichtlich elterlicher Angststörungen – förderlich auf den Belastungsabbau der Kinder auswirkt, möglicherweise über ein positiveres Sozialisations- und Erziehungsklima in der Familie, möglicherweise aber auch aufgrund der Vermittlung in weitere, eher kindbezogene Angebote. Die Frage, welche Effekte und Faktoren explizit hierfür verantwortlich sein könnten, blieb bislang unbeantwortet.
Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt auf der Fragestellung, welche Zusammenhänge zwischen der Inanspruchnahme von Psychotherapie elterlicherseits, der Nutzung von weiteren familienbezogenen Unterstützungsangeboten und der Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendtherapie bestehen. Hierfür wurden Daten des deutschen Familienpanels pairfam (Huinink et al.
2011) herangezogen. Es wurde geprüft, welche Prädiktoren 1) die elterliche Inanspruchnahme von Psychotherapie, 2) die Inanspruchnahme von familienunterstützenden Angeboten und 3) die Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendtherapie vorhersagen.
Bezogen auf Eltern mit erhöhter psychischer Belastung wird eine höhere Inanspruchnahme von Psychotherapie oder medikamentöser Therapie bei Müttern, Eltern mit höherer Bildung, bei einer städtischen Wohnregion sowie bei erhöhter Problembelastung des Kindes erwartet. Ferner werden die Hypothesen geprüft, dass familienunterstützende Angebote häufiger genutzt werden, wenn die Eltern über höhere sozioökonomischen Ressourcen verfügen, die Kinder stärkere Problembelastungen aufweisen und die Eltern Psychotherapie in Anspruch nehmen, das Ausmaß seelisch bedingter Einschränkungen im Alltag jedoch weniger ausgeprägt ist, da auch die Inanspruchnahme von familienunterstützenden Angeboten mit organisatorischem Aufwand verbunden ist. Außerdem wird angenommen, dass eine Kinder- und Jugendtherapie eher in Anspruch genommen wird, wenn der psychisch auffällige Elternteil selbst in psychotherapeutischer Behandlung ist, weitere familienunterstützende Angebote wahrgenommen werden und die Kinder eine erhöhte Problembelastung aufweisen.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Stichprobe
Die vorliegenden Analysen basieren auf deutschlandweit erhobenen Daten des Deutschen Familienpanels (pairfam; Huinink et al.
2011), in dem Personen aus inzwischen 4 Geburtskohorten sowie deren Partner und Kinder befragt werden (Release 12.0; Brüderl et al.
2021). Die Grundlage der hier verwendeten Stichprobe bilden 844 befragte Eltern der älteren 3 Kohorten, die an den Wellen 11 (Erhebungszeitraum Oktober 2018 bis Mai 2019) und 12 (November 2019 bis Juli 2020) des Panels teilgenommen haben, sowie deren insgesamt 1146 Kinder, die selbst an der Kinderbefragung in Welle 12 teilgenommen haben. Die Stichprobenbeschreibung ist in Tab.
1 dargestellt. Die Hauptanalysen beziehen sich auf die Teilstichprobe befragter Kinder von Eltern, deren Angaben auf eine psychische Belastung schließen lassen (s. Abschn. „Indikatoren“).
Tab. 1
Deskriptive Merkmale der Stichproben
Eltern |
Geschlecht, weiblich (% [n]) | 69,2 (584) | 76,4 (113) |
Alter (Jahre; M± SD) | 42,00± 5,32 | 41,35± 5,39 |
Bildungsabschluss mind. Abitur (% [n]) | 48,9 (413) | 39,9 (59) |
Migrationshintergrund (% [n]) | 17,9 (151) | 20,3 (30) |
Alleinerziehend (% [n]) | 14,5 (122) | 24,3 (36) |
Vollzeitbeschäftigung (% [n]) | 47,5 (401) | 37,8 (56) |
Teilzeitbeschäftigung (% [n]) | 39,5 (333) | 37,8 (56) |
Nicht erwerbstätig (% [n]) | 13,0 (110) | 24,3 (36) |
Städtischer Wohnort (vs. ländlich; % [n]) | 71,1 (600) | 70,3 (104) |
Kinder |
Geschlecht, weiblich (% [n]) | 47,4 (543) | 54,1 (105) |
Alter (Jahre; M± SD) | 11,53± 2,17 | 11,63± 2,19 |
Mind. ein Geschwisterkind befragt (% [n]) | 49,7 (570) | 42,8 (83) |
Indikatoren
Detaillierte Informationen zu den Indikatoren finden sich im Zusatzmaterial online und in der pairfam-Skalendokumentation (Thönnissen et al.
2021).
Ergebnisse
Insgesamt 17,5 % der Eltern (n = 148) gaben in der Welle 11 an, in den letzten beiden Jahren eine psychische Erkrankung oder Suchtprobleme gehabt zu haben und/oder wiesen in mindestens einer der beiden Erhebungswellen eine klinisch relevante Depression auf. Insgesamt 8,8 % der Eltern (n = 74) berichten in mindestens einer der beiden Wellen, medikamentöse und/oder psychologische Therapie in Anspruch genommen zu haben. Von den Eltern, die angaben, eine psychische Erkrankung zu haben, nahmen lediglich 30,4 % eine Therapie in Anspruch, 62,8 % dagegen nicht (6,8 % ohne Angabe). Auch 4,8 % der Eltern ohne Angabe einer psychischen Erkrankung nahmen eine Therapie in Anspruch. Insgesamt 3,7 % aller Kinder (n = 42) erreichten hinsichtlich des SDQ einen auffälligen Wert; weitere 7,9 % (n = 91) fielen in den grenzwertigen Bereich. Unter den Kindern, deren Eltern eine psychische Erkrankung berichten, zeigte ein fast doppelt so hoher Anteil einen auffälligen SDQ-Wert (6,9 %, n = 12) oder einen Wert im Grenzbereich (13,8 %, n = 24). Dieser Unterschied zwischen Kindern von Eltern mit vs. ohne (berichtete) psychische Erkrankung ist statistisch signifikant (χ2(2) = 10,346; p = 0,006; Cramers V = 0,103; p = 0,006).
Hinsichtlich der Versorgungslage von Kindern psychisch belasteter Eltern ist relevant, inwieweit auf familienunterstützende Angebote und/oder Kinder- und Jugendpsychotherapie zurückgegriffen wird. Eltern mit selbstberichteten psychischen Belastungen nahmen familienbezogene Angebote zwar häufiger in Anspruch als Eltern ohne solche Erkrankung (12,2 % vs. 5,2 %; χ2(1) = 9,736, p = 0,002; φ = 0,109), aber die große Mehrheit (87,8 %) der psychisch belasteten Eltern blieb in dieser Hinsicht unversorgt. Die Inanspruchnahme von Psychotherapie seitens der Kinder war bei einer selbstberichteten psychischen Erkrankung des Elternteils allerdings nicht statistisch bedeutsam erhöht (10,3 % vs. 8 % ohne psychische Erkrankung des Elternteils; χ2(1) = 1,074, p = 0,300). Bezieht man sich nur auf Kinder psychisch belasteter Eltern mit einem erhöhten SDQ-Problem-Score (grenzwertig oder auffällig, n = 36), befinden sich selbst diese Kinder nur zu 8,3 % in einer Kinder- und Jugendpsychotherapie (n = 3).
Die Befunde von 3 logistischen Regressionen zu Prädiktoren der Inanspruchnahme von (1) Psychotherapie seitens des belasteten Elternteils, (2) familienbezogenen Unterstützungsangeboten und (3) Kinder- und Jugendpsychotherapie seitens der Kinder psychisch belasteter Eltern zeigt Tab.
2. Diese Analysen beschränken sich auf die Teilstichprobe der Kinder psychisch belasteter oder suchterkrankter Eltern. Die logistische Regression zur elterlichen Inanspruchnahme von Therapie weist 4 Faktoren als statistisch bedeutsame Prädiktoren aus (Tab.
2,
Spalte 1): Psychisch belastete Eltern nahmen eher eine Therapie in Anspruch, wenn sie weiblich sind, über einen höheren Bildungsabschluss verfügen, in einer städtischen Region wohnen und ihr Kind einen erhöhten Problemscore aufweist.
Tab. 2
Inanspruchnahme von Therapie durch Eltern und Kinder und Inanspruchnahme familienbezogener Unterstützung in Familien mit psychisch belastetem Elternteil
Elternteil, weiblich | 0,150 | 0,076 | 0,049 | 0,011 | 0,062 | 0,862 | 0,096 | 0,049 | 0,053 |
Elternteil mit Abitur | 0,162 | 0,079 | 0,042 | −0,061 | 0,056 | 0,282 | −0,082 | 0,052 | 0,119 |
Migrationshintergrund | −0,151 | 0,088 | 0,088 | −0,048 | 0,060 | 0,422 | −0,084 | 0,057 | 0,137 |
Wohnort, städtisch | 0,181 | 0,070 | 0,011 | −0,092 | 0,071 | 0,200 | 0,091 | 0,052 | 0,080 |
Elterliche Alltagseinschränkung | 0,025 | 0,019 | 0,177 | 0,046 | 0,017 | 0,008 | −0,011 | 0,010 | 0,256 |
Alter des Kindes | 0,012 | 0,016 | 0,447 | −0,001 | 0,013 | 0,968 | −0,002 | 0,009 | 0,856 |
Kind, weiblich | −0,057 | 0,072 | 0,430 | −0,032 | 0,054 | 0,555 | −0,104 | 0,050 | 0,039 |
SDQ-Gesamtscore | 0,015 | 0,007 | 0,032 | 0,000 | 0,005 | 0,952 | 0,001 | 0,004 | 0,886 |
Inanspruchnahme familienbezogener Angebote | – | – | – | – | – | – | −0,148 | 0,049 | 0,003 |
Inanspruchnahme einer Therapie durch einen Elternteil | – | – | – | 0,047 | 0,065 | 0,473 | 0,195 | 0,071 | 0,007 |
Konstante | −0,505 | 0,296 | 0,090 | 0,121 | 0,235 | 0,607 | 0,283 | 0,165 | 0,089 |
R2 | 0,127 | 0,114 | 0,199 |
Die Inanspruchnahme von familienunterstützenden Angeboten (Tab.
2,
Spalte 2) kann weder durch sozioökonomische Faktoren noch durch das Problemverhalten der Kinder oder die Inanspruchnahme einer Therapie durch die Eltern vorhergesagt werden, sondern ist lediglich bei einem höheren Ausmaß seelisch bedingter Einschränkungen der Eltern im Alltag signifikant erhöht. Hinsichtlich der Inanspruchnahme von Kinder‑/Jugendpsychotherapie (Tab.
2,
Spalte 3) erweisen sich demgegenüber 3 Faktoren als statistisch bedeutsam: Jungen befinden sich häufiger als Mädchen in einer Psychotherapie. Erwartungsgemäß geht die Inanspruchnahme von medikamentöser oder Psychotherapie für psychisch belastete Eltern auch unter der Kontrolle der weiteren Faktoren mit einer höheren Inanspruchnahme von Kinder‑/Jugendpsychotherapie einher. Bei einer Nutzung familienunterstützender Angebote ist demgegenüber die Rate der Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendtherapie vermindert. Der SDQ-Gesamt-Problemwert des Kindes hat keinen Effekt auf seine Inanspruchnahme von Therapie.
Diskussion
Als Beitrag zur Versorgungsforschung befasst sich der Artikel erstens mit der Frage, unter welchen Umständen Eltern mit einer selbstberichteten psychischen Belastung therapeutische Angebote in Anspruch nehmen. Insbesondere nimmt er zweitens die Versorgungslage von Kindern psychisch belasteter Eltern in den Blick. Hierbei ist das zentrale Interesse auf mögliche Zusammenhänge zwischen elterlicher und Kinder- und Jugendtherapie sowie weiteren familienunterstützenden Angeboten gerichtet.
Inanspruchnahme therapeutischer Angebote durch belastete Eltern
Insgesamt zeigt sich, dass die untersuchten Faktoren nur in sehr geringem Maß aufklären können, welche Eltern bei beeinträchtigter psychischer Gesundheit eine Therapie in Anspruch nehmen. Nur jeder dritte betroffene Elternteil hat nach den Daten des pairfam-Panels im betrachteten Zeitraum eine Therapie in Anspruch genommen. Vier Faktoren haben überzufällig zu Unterschieden in der Inanspruchnahme von Psychotherapie seitens psychisch belasteter Eltern beigetragen: Wie aus anderen Studien bekannt (z. B. KBV
2019), findet sich eine häufigere Inanspruchnahme einer Therapie bei Eltern mit höherer schulischer Bildung, bei Frauen sowie bei Personen in einer städtischen Region. Außerdem steigt mit der Problembelastung der Kinder auch die elterliche Inanspruchnahme von Therapie. Möglicherweise kann eine stärkere Problembelastung der Kinder zur Nutzung einer Therapie seitens der Eltern motivieren. Alternativ könnten höhere Belastungen der Kinder von Therapienutzern einer stärkeren Krankheitsbelastung dieser Eltern geschuldet sein. Da das Ausmaß psychisch bedingter Beeinträchtigungen der Eltern im Alltag kontrolliert war und dieses keinen eigenständigen Effekt auf die Inanspruchnahme von Therapie hatte, kann diese Alternativerklärung jedoch ausgeschlossen werden.
Versorgungslage von Kindern psychisch belasteter Eltern
Die Nutzung von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe ist bei Eltern mit selbstberichteter psychischer Belastung erhöht, kann jedoch lediglich durch das Ausmaß seelisch bedingter Einschränkungen im Alltag der Eltern erklärt werden. Weder die Inanspruchnahme von Psychotherapie noch eine erhöhte Problembelastung der Kinder machen die Einbindung in familienbezogene Unterstützungsangebote wahrscheinlicher.
Auch die Inanspruchnahme von Kinder- und Jugendtherapie variiert nur in begrenztem Maß mit den demografischen und kindbezogenen Faktoren. Die elterliche Bildung, der Urbanisierungsgrad des Wohngebiets und selbst die Problembelastung der Kinder (SDQ-Gesamt-Problemwert) sind unbedeutend. Gerade der letztgenannte Befund – dass Kinder psychisch belasteter Eltern mit eigenen Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit nicht häufiger in eine Kinder- und Jugendpsychotherapie eingebunden sind – verdient vermehrte Beachtung. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Schwelle für die Inanspruchnahme von Psychotherapie für Kinder und Jugendliche hoch ist.
Wenn Eltern mit selbstberichteter psychischer Belastung familienunterstützende Angebote der Kinder- und Jugendhilfe nutzen, scheinen sie seltener Kinder- und Jugendtherapie zu nutzen. Dieser Befund legt unterschiedliche Interpretationen nahe: So könnte es sein, dass die Nutzung familienunterstützender Angebote zielführend ist, sodass keine Notwendigkeit einer Kinder- und Jugendpsychotherapie gesehen wird. Dies ist v. a. in Anbetracht der zugrunde liegenden Stichprobe naheliegend, da nur ein Teil der Kinder erhöhte SDQ-Werte aufweist. Auch eingeschränkte zeitliche Kapazitäten der Familie können eine Entscheidung für nur eines der beiden Angebote notwendig machen. Ebenso könnte aufgrund regionaler Versorgungsengpässe bei Kinder- und Jugendpsychotherapie auch nur die Inanspruchnahme familienunterstützender Angebote möglich sein. Jedoch könnten die Ergebnisse auch für eine wenig passgenaue Versorgung der Kinder und einen deutlichen Ausbaubedarf der Kooperation zwischen Gesundheitsversorgung und Kinder- und Jugendhilfe sprechen. Weitere Studien sind notwendig, um Aufschluss zu möglichen Erklärungen zu geben.
Allerdings konnte bestätigt werden, dass eine Therapie des belasteten Elternteils auch häufiger mit einer Therapie des Kindes einhergeht, und zwar unabhängig vom Belastungsgrad der Kinder. Ob dies auf eine Vermittlung zwischen der Gesundheitsversorgung im Erwachsenenbereich einerseits und dem Kinder- und Jugendbereich andererseits hinweisen kann, bleibt unklar. Dennoch ist die Versorgung der Kinder insgesamt lückenhaft. Lediglich 8,3 % der laut dem SDQ auffälligen Kinder von Eltern mit psychischen Belastungen haben eine Kinder- und Jugendtherapie in Anspruch genommen.
Limitationen der Studie
Die Studie unterliegt einigen Beschränkungen, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen. Eine der relevantesten betrifft die Erfassung der psychischen Gesundheit, die nur mithilfe selbstberichteter Depressivität und/oder psychischer bzw. Suchterkrankung erfolgen konnte. Auch wäre die Berücksichtigung der psychischen Gesundheit beider Elternteile für ein umfassendes Bild wünschenswert gewesen. Zudem wurde nur ein begrenzter (zeitlicher) Ausschnitt der Gesundheitsbiografie von Eltern und Kindern betrachtet. Gleichwohl konnte die Inanspruchnahme unterschiedlicher Unterstützungsangebote von Familien mit einem psychisch belasteten Elternteil untersucht und sowohl die Perspektive von Eltern als auch von Kindern berücksichtigt werden. Dieser Beitrag kann somit einen Anstoß zu weiterer, intensiverer Forschung unter Einbezug klinischer Diagnosen bieten.
Fazit für die Praxis
-
Eltern mit einer selbstberichteten psychischen Symptomatik nutzen nur in jedem dritten Fall eine Psychotherapie oder eine medikamentöse Therapie und nur in 12 % der Fälle familienunterstützende Angebote der Kinder- und Jugendhilfe.
-
Es berichten 20,7 % der Kinder psychisch belasteter Eltern selbst von Einschränkungen ihrer psychischen Gesundheit, aber nur 8,3 % dieser Kinder nutzen Kinder- und Jugendtherapie.
-
Eltern mit selbstberichteter psychischer Symptomatik sind häufiger in familienunterstützende Angebote der Kinder- und Jugendhilfe eingebunden als Eltern ohne selbstberichtete psychische Belastung, aber ihre Kinder nehmen in diesen Fällen seltener eine Kinder- und Jugendpsychotherapie in Anspruch.
-
Die Versorgung von Kindern psychisch belasteter Eltern muss sowohl im Gesundheitsbereich als auch in der Kinder- und Jugendhilfe verbessert werden.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Diese Arbeit nutzt Daten des Beziehungs- und Familienpanels pairfam, das von Josef Brüderl, Sonja Drobnič, Karsten Hank, Franz Neyer und Sabine Walper geleitet wird. Die Studie wird als Langfristvorhaben durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Das Beziehungs- und Familienpanel pairfam erhielt von der Ethikkomission der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln eine Unbedenklichkeitsbescheinigung.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.