Hintergrund
Es ist unbestritten, dass Impfungen zu den wirksamsten Präventionsmaßnahmen gegen viele Infektionskrankheiten gehören [
1]. Aus primärpräventiver Sicht sind Impfungen insbesondere bei bestimmten Bevölkerungsgruppen von immenser Bedeutung, wie z. B. Menschen mit chronischen Grunderkrankungen oder älteren Personen, da diese deutlich anfälliger gegenüber Infektionskrankheiten sind und ein höheres Risiko aufweisen, schwerwiegende Folgen nach Infektionskrankheiten zu entwickeln [
2]. Diese Folgen umfassen längere Krankheitsverläufe, häufigere Hospitalisierungen und eine erhöhte Mortalität [
3]. Dies stellt nicht nur auf individueller Ebene eine große Belastung dar, sondern führt zu einer erhöhten Beanspruchung des Gesundheitssystems, was Ressourcenknappheit und höhere Gesamtkosten mit sich bringen kann. Impfungen tragen neben dem direkten Schutz der Geimpften zudem zur Reduktion der Krankheitslast in der Gesamtbevölkerung bei, indem sie die Verbreitung von Erregern eindämmen und damit vulnerable Gruppen auch indirekt schützen [
4,
5].
Aus diesen Gründen empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) aktuell für Menschen im Alter von über 60 Jahren 4 Impfungen: gegen COVID-19, Influenza, Pneumokokken und Herpes Zoster [
6]. Seit August 2024 empfiehlt die STIKO außerdem eine einmalige Impfung gegen respiratorische Synzytial-Viren (RSV) für Menschen ab einem Alter von 75 Jahren sowie Menschen im Alter von 60 bis 74 Jahren mit einer schweren Grunderkrankung [
6]. Die Impfquoten sind jedoch in dieser Bevölkerungsgruppe auf einem niedrigen Niveau in Deutschland [
7]. So ließen sich lediglich 38 % der Menschen ab 60 Jahren in der Saison 2023/2024 gegen Influenza impfen [
7]. Noch geringer fiel die Impfquote für Pneumokokken im Jahr 2020 aus; lediglich 20 % der Menschen in Deutschland zwischen 60 und 69 Jahren hatten sich für die Impfung gegen Pneumokokken entschieden [
7].
Die individuelle Impfinanspruchnahme ist das Ergebnis eines komplexen Entscheidungsprozesses und wird von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst [
8]. Faktoren auf der Individualebene, wie z. B. persönliche Einstellungen gegenüber Impfungen, impf- oder erkrankungsspezifisches Wissen, Risikowahrnehmung [
9], sowie verschiedene soziodemografische Faktoren wie sozioökonomischer Status spielen eine wichtige Rolle, wobei der sozioökonomische Status sowohl mit höheren als auch mit niedrigeren Impfquoten einhergehen kann und durch Wissen, Einstellungen und Risikowahrnehmung mediiert wird [
10,
11]. Aber auch spezifische regionale Faktoren sind relevant – so kann es beispielsweise räumliche Cluster mit hohen oder niedrigen Impfquoten geben [
12]. Dies zeigen Studienerkenntnisse zu regionalen Unterschieden in der Impfinanspruchnahme. Beobachtet wurden Unterschiede in verschiedenen geografischen Regionen in Deutschland. Die Impfquoten sind beispielsweise für einige Impfungen in den östlichen Bundesländern höher als in den westlichen [
13]. Zwischen den Bundesländern bestehen ebenfalls deutliche Unterschiede [
7]. Auch kleinräumige Variationen in den Impfquoten wurden beobachtet, z. B. für die Kinderimpfungen gegen Masern [
14] oder humane Papillomviren (HPV; [
15]) oder für Impfungen im Erwachsenenalter (Impfung gegen saisonale Influenza bei Schwangeren [
16] oder bei Menschen mit chronischen Erkrankungen [
17]). Erklärungen hierfür können regional unterschiedliche Versorgungsstrukturen sein, wie z. B. unterschiedliche Erreichbarkeit von impfenden Ärzt*innen. Aber auch regional wirksame gesundheitspolitische Maßnahmen könnten die Impfbereitschaft beeinflussen [
18]. Regionale Faktoren der Impfinanspruchnahme auf Basis von bundesweiten Daten wurden bisher nicht untersucht. Es finden sich lediglich vereinzelte, regional begrenzte Studien, wie z. B. die Untersuchung der Inanspruchnahme der Masern-Mumps-Röteln-Impfung in Westfalen-Lippe [
19].
Basierend auf einer Vollerfassung der Daten aller gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland verfolgte die vorliegende Studie folgende Ziele: a) die Berechnung der Influenza-Impfquote bei Personen ab 60 Jahren, b) die Untersuchung räumlicher Variationen und die Identifizierung räumlicher Cluster am Beispiel der Influenza-Impfung und c) die Identifizierung von regionalen Risikofaktoren für eine niedrige Impfquote.
Diskussion
Diese Studie hatte neben der Ermittlung der Influenza-Impfquote zum Ziel, räumliche Muster in der Inanspruchnahme von Impfungen zu analysieren und potenzielle Einflussfaktoren zu identifizieren. Dabei wurde insbesondere untersucht, inwiefern soziodemografische und strukturelle Merkmale mit der Impfquote in Zusammenhang stehen. Die hier errechnete Impfquote von 37 % für Personen ab 60 Jahren entspricht den in der Literatur berichteten Werten [
7], was die Validität unserer Ergebnisse bestätigt und die methodische Robustheit unterstreicht.
Die Analyse der räumlichen Cluster zeigt, dass sich innerhalb Deutschlands benachbarte Regionen hinsichtlich ihrer Impfquote tendenziell ähneln. Hierbei gibt es 2 ausgeprägte räumliche Cluster. Zum einen zeigte sich ein „Hoch-hoch“-Cluster in Ostdeutschland, aber auch in benachbarten westlichen Kreisen (z. B. Ostniedersachsen und im östlichen Teil von Schleswig-Holstein). Die höhere Influenza-Impfquote in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland ist kein neuer Befund und wurde bereits bei einigen anderen Impfungen sowohl bei Kindern und Jugendlichen (z. B. gegen HPV [
15]) als auch bei Erwachsenen (z. B. gegen Pneumokokken [
33] oder Diphtherie-Tetanus-Pertussis [
13]) beobachtet. Ein Teil der Ost-West-Unterschiede bei der Influenza-Impfquote wurde durch die untersuchten Variablen erklärt. Während die Impfquote in der univariablen Analyse in Ostdeutschland um 17 Prozentpunkte höher war als in Westdeutschland, verringerte sich der Unterschied auf knapp 10 Prozentpunkte nach der Kontrolle für weitere Variablen, der Unterschied blieb jedoch statistisch signifikant. Die im Vergleich zu Westdeutschland etwas höhere Impfinanspruchnahme in Ostdeutschland könnte auf eine höhere Impfakzeptanz in der Bevölkerung zurückzuführen sein. In der ehemaligen DDR hatten präventivmedizinische Maßnahmen eine hohe Relevanz [
34], was die auch heute noch vergleichsweise hohen Influenza-Impfquoten der älteren Bevölkerung begünstigen könnte.
Zum anderen fand sich ein „Niedrig-niedrig“-Cluster in Süddeutschland, was durch eine stärkere Impfzurückhaltung beeinflusst sein könnte, die in einigen Bevölkerungsgruppen verbreitet ist. Manche Studien zeigen, dass gerade in wohlhabenderen Regionen mit höherem durchschnittlichen Bildungsniveau teilweise eine höhere Impfskepsis besteht [
11]. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass bestimmte regionale Besonderheiten in der ambulanten Versorgung zum Unterschied der Impfquoten beitragen können. Das Vorhandensein von Selektivverträgen, die vor allem in Baden-Württemberg und Bayern verbreitet sind, könnte beispielsweise Teile der regionalen Unterschiede erklären (siehe Abschnitt „Stärken und Limitationen“).
Für die genauere Betrachtung dieser regionalen Unterschiede sind Analysen zu regionalen Risikofaktoren für eine niedrige Impfquote hilfreich. So spielen vermutlich auch strukturelle Barrieren, wie die Verfügbarkeit von impfenden Ärzt*innen oder Impfstoffen, die Entfernung zur nächsten Impfstelle und verfügbare Impfangebote, eine Rolle [
18]. Unsere Studie zeigt, dass in ländlichen Regionen mit einer geringeren Hausarztdichte die Inanspruchnahme von Impfungen niedriger ausfällt, während in urbanen Gebieten mit gut ausgebauten Gesundheitsangeboten die Impfquoten höher sind. Bis zu 90 % aller Impfungen in Deutschland werden von niedergelassenen Ärzt*innen durchgeführt. Der überwiegende Anteil davon findet wiederum in Hausarztpraxen statt. In einer früheren Untersuchung haben wir gezeigt, dass etwa 90 % aller Influenza-Impfungen von Hausärzt*innen durchgeführt werden [
35]. Wenig überraschend ist daher der Befund zum positiven Zusammenhang zwischen der Impfquote und der Hausarztdichte.
Neben diesen strukturellen Faktoren spielen regional variierende soziodemografische Faktoren, wie beispielsweise die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung und daraus resultierende Barrieren (z. B. Sprachbarrieren), ebenfalls eine wichtige Rolle [
18]. Insgesamt 3 soziodemografische Variablen zeigten in unserer Analyse einen signifikanten Zusammenhang mit der Impfquote: Ausländeranteil, Arbeitslosenquote und Haushaltseinkommen. Ein möglicher Erklärungsansatz für den negativen Zusammenhang zwischen dem Ausländeranteil und der Impfquote kann möglicherweise durch Sprachbarrieren in dieser Bevölkerungsgruppe erklärt werden, die vor allem bei älteren Menschen mit Migrationsgeschichte vorliegen [
36,
37]. In anderen Studien zeigen Personen mit Migrationshintergrund eine geringere Inanspruchnahme niedergelassener Ärzt*innen insgesamt, was sich ebenfalls in den niedrigeren Impfquoten widerspiegeln könnte [
38]. Der positive Zusammenhang zwischen der regionalen Arbeitslosen- und Impfquote ist zunächst nicht eindeutig zu interpretieren. Möglich wäre es, dass in Regionen mit höherer Arbeitslosenquote auch die Krankheitslast insgesamt erhöht ist, was eine häufigere Inanspruchnahme ambulanter Versorgungsstrukturen mit sich bringen könnte. Dieser erhöhte Kontakt zu Ärzt*innen könnte zur Folge haben, dass mehr Menschen mit Impfangeboten konfrontiert sind und sich daher auch impfen lassen. Weiterhin können auch soziale Normen und Netzwerke einen Einfluss auf das Impfverhalten haben. In Regionen mit einer hohen Akzeptanz von Impfungen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Einzelpersonen impfen lassen, da Impfungen als soziale Norm wahrgenommen werden. Umgekehrt können in Regionen mit einer stärkeren impfkritischen Haltung, verstärkt durch soziale Medien oder lokale Gruppendynamiken, niedrigere Impfquoten beobachtet werden [
39]. Leider stehen Daten zur Akzeptanz von Impfungen auf regionaler Ebene nicht zur Verfügung.
Stärken und Limitationen
Es handelt sich um eine Vollerfassung aller GKV-Versicherten mit vertragsärztlicher Leistungsinanspruchnahme in Deutschland, die knapp 90 % der Wohnbevölkerung ausmacht. Aus diesem Grund gehen wir von einer hohen Repräsentativität der Studienpopulation aus. Zu den Limitationen der Studie gehört eine mögliche Unterschätzung der Impfquote in einigen Regionen Deutschlands, in denen Selektivverträge im Rahmen der HzV angeboten werden. Die dort erbrachten Leistungen werden nicht über das KV-System abgerechnet und sind somit in unserem Datenkörper nicht enthalten. Bundesweit nehmen knapp 10 Mio. Personen an der HzV teil. Regionale Daten zur Anzahl der Personen, die im Rahmen der HzV versorgt werden, existieren nicht. Im Onlinematerial stellen wir eine Übersicht über die Anzahl der Kassen mit bestehenden HzV-Verträgen nach 17 KV-Bereichen (Abbildung A2).
Manche berufstätige GKV-Versicherte über 60 Jahren werden im Rahmen einer arbeitsmedizinischen Maßnahme betriebsärztlich gegen Influenza geimpft. Diese Impfungen fehlen ebenfalls in unserem Datenkörper. Der Datenkörper enthält keine Daten zu Privatversicherten, die etwa 11 % der deutschen Bevölkerung ausmachen. Die Impfinanspruchnahme in dieser Bevölkerungsgruppe ist weitgehend unbekannt.
Eine weitere Limitation der Studie sind der ökologische Ansatz und ein daraus möglicherweise resultierender ökologischer Fehlschluss der Untersuchung regionaler Risikofaktoren für eine niedrige Impfquote. Die dargestellten Assoziationen basieren auf einer Analyse von auf Kreisebene aggregierten Daten und können somit nicht als ursächliche Zusammenhänge auf individueller Ebene interpretiert werden. Vielmehr handelt es sich um eine explorativ-deskriptive Analyse. In bestimmten Fällen (z. B. bei hoher Multikollinearität der erklärenden Variablen) kann die GWR-Analyse zu Scheinkorrelationen führen. Ebenfalls besteht die Gefahr einer Überanpassung des Modells beim Einschluss von mehreren erklärenden Variablen. Weiterhin können sich die Ergebnisse je nach gewählter räumlicher Aggregationsebene (z. B. Kreise, Gemeinde, Postleitzahl) unterscheiden. Die kleinräumigeren Analysen der Impfinanspruchnahme bieten detailliertere Ergebnisse, sind jedoch aufgrund der aktuellen Datenschutzbestimmungen auf Bundesebene nicht möglich.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Die Verwendung von den vertragsärztlichen Abrechnungsdaten für die wissenschaftliche Forschung ist in Deutschland durch das Sozialgesetzbuch V geregelt. Eine Genehmigung von der zuständigen Ethik-Kommission sowie eine Einverständniserklärung von beteiligten Patient*innen sind nicht erforderlich, da in dieser Studie routinemäßig erhobene, anonymisierte Daten verwendet wurden. Die Studie wurde im Einklang mit der Deklaration von Helsinki in ihrer aktuellen, überarbeiteten Fassung (75. WMA-Generalversammlung, Helsinki, Finnland, Oktober 2024) durchgeführt.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.