Hintergrund und Fragestellung
Influenzaausbrüche in beschützenden Einrichtungen sowie Pflege- und Altenheimen (kurz: bPA-Einrichtungen) betreffen in besonderem Maße ältere oder multimorbide Menschen, die ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende Krankheitsverläufe tragen. Jährlich treten in den Wintermonaten Grippewellen mit unterschiedlicher Intensität auf. Saisonale Influenzainfektionen gehen mit einer Vielzahl an Erkrankungs- und Todesfällen sowie Krankenhauseinweisungen einher und stellen für die öffentliche Gesundheitsversorgung eine bedeutende Infektionskrankheit mit hohen Kosten dar [
1‐
3]. Die kosteneffektivste Präventionsmaßnahme gegen eine Influenzaerkrankung ist die Impfung, die jährlich vor Beginn der Influenzasaison durchgeführt werden sollte. Neben dem individuellen, gesundheitlichen Nutzen von Impfungen für Einzelne ist die bevölkerungsweite Effektivität abhängig von der Durchimpfung. Durch hohe Impfquoten erhöht sich der gesundheitliche und ökonomische Nutzen, da eine Senkung der Krankheitslast und Verlängerung der ausbruchsfreien Zeiträume zu erwarten ist [
4,
5]. Die ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt eine Influenzaimmunisierung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung durch Grundleiden oder mit beruflicher Exposition sowie für Personen ab 60 Jahren und insbesondere für Bewohner von Alters- oder Pflegeheimen. Seit der Saison 2014/2015 fordert die Europäische Kommission aufgrund der hohen Krankheitslast eine Influenzaimpfquote von 75 % für die ältere Bevölkerung [
6].
Influenzaimpfquoten werden im Rahmen von nationalen und internationalen Qualitätsindikatoren erfasst. Insbesondere wird über Patienten mit chronischen Erkrankungen berichtet [
7‐
10]. In Deutschland liegen bereits bundesweite Studien zu Impfquoten bei Erwachsenen und über 60-Jährigen zur Umsetzung der Influenzaempfehlung auf Basis von Routinedaten vor, welche Hinweise auf regionale Unterschiede in der Inanspruchnahme aufzeigen [
11,
12]. Bödeker et al. geben einen ersten Einblick in die Umsetzung der Influenzaempfehlungen in Alten- und Pflegeheimen. Sie kommen zu dem Schluss, dass Studien zu Influenzaimpfquoten fehlen sowie zu relevanten Faktoren, welche die Impfentscheidung der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen beeinflussen [
13]. Ferner fanden sich in Studien Hinweise auf die Rolle der Hausärzte zur Motivation bei Impfungen [
13‐
18]. Für Patienten in Alten- und Pflegeheimen zeigen verschiedene internationale Studien erreichbare Impfquoten zwischen 81 % und 93 % [
19,
20]. In Deutschland existieren jedoch keine aussagekräftigen Analysen zu den Influenzaimpfquoten von Bewohnern in bPA-Einrichtungen. Diese Lücke soll mit der vorliegenden Analyse auf Basis von Routinedaten verkleinert werden.
Ziel dieser Arbeit ist es, Daten über die deutschlandweiten Impfquoten zur Influenza von in bPA-Einrichtungen vertragsärztlich versorgten Patienten im zeitlichen Verlauf der letzten 6 Impfsaisons (2010/2011 bis 2015/2016) darzustellen und zu untersuchen. Die Impfquoten können erste Hinweise auf die Umsetzung der Empfehlungen der STIKO und der Europäischen Kommission geben [
6,
8].
Diskussion
Die vorliegende Studie liefert erste Einblicke zur Umsetzung der Empfehlung von Influenzaimpfungen der STIKO von in deutschen bPA-Einrichtungen vertragsärztlich versorgten Patienten. Die hier beschriebenen Studienkohorten stellen Subgruppen der Gesamtheit aller Patienten in bPA-Einrichtungen dar. Bisher lagen für Deutschland lediglich Ergebnisse aus Einzelerhebungen in bPA-Einrichtungen vor. Trotz der Einschränkungen auf die beschriebenen Subgruppen bietet sich aufgrund der Größe der Beobachtungsgruppe und der hier angewandten Methode die Gelegenheit, einen relevanten Eindruck über das Impfgeschehen in bPA-Einrichtungen zu erlangen. Die Influenzaimpfempfehlungen wurden durchschnittlich mit einer Quote von 58,5 % über alle beobachteten Impfsaisons umgesetzt. Im Rahmen des bundesweiten Gesundheitsmonitorings (GEDA) des Robert Koch-Instituts (RKI) konnten ähnliche Impfquoten von 54,3 % (2010/2011) bzw. 52,6 % (2011/2012) der ≥60-jährigen Personen ermittelt werden [
26,
27]. Riens et al. schätzen anhand von vertragsärztlichen Abrechnungsdaten Impfquoten von 47 % (2009/2010) bzw. 37,8 % (2013/2014) der ≥60-jährigen Patienten [
11]. Der Unterschied der Impfquoten lässt sich durch die methodische Herangehensweise der Studien erklären. Der prozentuale Anteil gegen Influenza geimpfter in bPA-Einrichtungen versorgter Patienten sank in den letzten 6 Jahren kontinuierlich (2010/2011: 60,3 %; 2015/2016: 56,6 %). Erklären lässt sich die Anzahl nichtgeimpfter Patienten in den Studienkohorten zum Teil durch die Freiwilligkeit der Impfung, wobei die Entscheidung im Rahmen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung erfolgen soll, sowie durch möglicherweise vorliegende Kontraindikationen [
28,
29]. Umfrageergebnisse der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzGA) zeigen, dass nahezu zwei Drittel der Befragten ab 60 Jahren die Grippeimpfung für sich persönlich als „(besonders) wichtig“ einschätzen (63 %). Die große Mehrzahl der Patienten in bPA-Einrichtungen weist geriatrische Krankheitsbilder auf. Die Patienten verbringen oft ihre letzte Lebensphase in den Einrichtungen, dies kann vermutlich die Einschätzung der Wichtigkeit der saisonalen Grippeimpfung beeinflussen. Ein Grund für die Nichtinanspruchnahme der Influenzaimpfungen bei den über 60-Jährigen (51 %) und bei Chronikern (48 %) war der Zweifel an der Wirksamkeit der Impfung. Die Einschätzung, dass Grippe keine besonders schwere Krankheit sei, lag in beiden Gruppen bei 35 % [
30]. Ursachen für die in der vorliegenden Arbeit gefundenen rückläufigen Impfquoten können allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht benannt werden.
Unsere Analysen weisen darauf hin, dass das Impfverhalten stark durch die Inanspruchnahme der hausärztlichen Versorgung (58,7 % mit vs. 24,8 % ohne hausärztliche Versorgung) geprägt wird. Hausärzte spielen eine primäre Rolle hinsichtlich der Impfmotivation [
14,
16]. Patienten mit chronischen Erkrankungen sowie in bPA-Einrichtungen lebende Patienten sollten über den Nutzen der Impfung im Vergleich zum Risiko der Krankheit aufgeklärt werden, um die Entscheidungsfindung zu unterstützen [
30,
31].
Deutliche regionale Unterschiede in den Influenzaimpfquoten zeigen sich konsistent in allen Studienkohorten. In den neuen Bundesländern waren die Impfquoten über die Untersuchungszeiträume durchgängig höher als in den alten Bundesländern. Die Ost-West-Unterschiede der Influenzaimpfquoten könnten auf historische Gegebenheiten (Impfpflicht vs. Impfempfehlung) zurückgeführt werden, welche sich in der Inanspruchnahme der Influenzaimpfung widerspiegeln. Für die Influenzaimpfquoten in den KVen Bayerns und Baden-Württemberg liegt wahrscheinlich eine Unterschätzung vor. Die Daten der im Rahmen der sogenannten hausarztzentrierten Versorgung (HzV) behandelten Patienten sind nicht Bestandteil der verwendeten Datengrundlage. Im Rahmen der KV-Impfsurveillance zeigte sich bei den über 60-Jährigen bereits ein rückläufiger Trend. Der abnehmende Trend der Inanspruchnahme von Influenzaimpfungen zeigt sich ebenso bei in bPA-Einrichtungen versorgten Patienten [
11,
32,
33].
Von den europäischen Ländern wurde der Influenzaimpfschutz in den höheren Altersgruppen (entsprechend den Empfehlungen des jeweiligen Mitgliedstaates z. B. ≥59, ≥60 oder ≥65 Jahre) für die Saison 2012/2013 an das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) gemeldet. Die Impfquoten in den Ländern variierten von 1–77,4 % (Median: 44,7 %). Die höchsten Impfquoten wurden von den Niederlanden (77 %) und England (74 %) gemeldet [
34]. In den USA belief sich die Impfquote der Saison 2015/2016 bei den über 65-Jährigen auf 63,4 %, was im Vergleich zu der Saison 2014/2015 einen Rückgang um 3,3 % bedeutet [
35]. Internationale Studien zeigen Impfquoten von ca. 80 % bis über 90 % für Patienten in bPA-Einrichtungen – Kanada (92 %; [
20]), Frankreich (80,8–91 %; [
36,
37]), USA (76,2 %; [
38]).
Im internationalen Vergleich zeigen sich in dieser Untersuchung für Deutschland niedrigere Impfquoten in den Studienkohorten der in bPA-Einrichtungen vertragsärztlich versorgten Patienten, welche auch im Zeitverlauf rückläufig sind. In anderen europäischen Ländern zeichnet sich ein ähnliches Bild für ältere Patienten ab [
39]. Unterschiedliche nationale Studien beobachteten seit der pandemischen Influenzasaison 2009/2010 eine Abnahme der Impfquoten. Die kontroversen Diskussionen über Sicherheit und Wirksamkeit einer Impfung könnten die Impfbereitschaft in der Bevölkerung negativ beeinflusst haben [
30].
Die Auswertung der Studienkohorten gibt erste Hinweise auf die Abdeckung der Influenzaimpfungen. Die gewählte Methodik lässt jedoch keine vollständigen Aussagen bezogen auf alle Patienten in bPA-Einrichtungen zu. Vor dem Hintergrund, dass jedem Patienten in bPA-Einrichtungen eine Influenzaimpfung empfohlen wird, deren Nutzen die Risiken deutlich überwiegt, sofern keine Kontraindikation vorliegt, lassen die anhand unserer Beobachtung ermittelten Impfquoten einen Nachholbedarf vermuten, bezogen auf die durch die Europäische Kommission geforderte 75 %-Abdeckung.
Stärken und Limitationen
Die verwendeten Routinedaten der vorliegenden Studie bilden erstmals die krankenkassen- und regionalübergreifenden Influenzaimpfquoten von vertragsärztlich versorgten Patienten in bPA-Einrichtungen ab. Auch wenn es sich hier lediglich um eine Subgruppe aller Patienten in bPA-Einrichtungen handelt, können erste Eindrücke zum Impfgeschehen auf dieser Basis gewonnen werden. Die Arbeit leistet einen Beitrag, die Umsetzung von Influenzaimpfempfehlungen in bPA-Einrichtungen auch im zeitlichen Verlauf abzuschätzen. Bisher lagen keine Studien von Influenzaimpfquoten von Patienten in Alten- und Pflegeheimen in diesem Umfang und über einen solchen Zeitverlauf vor.
Die Analysen beziehen sich auf einen Zeitraum von 6 Jahren und erlauben die Beurteilung der Entwicklung des Impfgeschehens für die Subgruppe der in bPA-Einrichtungen vertragsärztlich versorgten Patienten. Eine Einschränkung der vorliegenden Studie liegt in der grundsätzlichen Begrenzung der Aussagefähigkeit von Routinedaten, welche nicht primär für Forschungszwecke erfasst werden und somit mehrere Schwächen aufweisen. So können Influenzaimpfungen möglicherweise im stationären Umfeld aufgrund eines Krankenhaus- und/oder Rehabilitationsaufenthaltes erfolgt und deshalb nicht in die Daten eingeflossen sein. Zudem sind die Ergebnisse abhängig von der Definition und Auswahl der untersuchten Grundgesamtheit sowie der Operationalisierung der Zuordnung von in bPA-Einrichtungen versorgten Patienten. Mit der gewählten Operationalisierung wurde eine inhaltlich medizinisch abgeleitete, transparente und über den Untersuchungszeitraum konstante Kohortenbildung angestrebt, um eine möglichst valide Schätzung der Grundgesamtheit von in bPA-Einrichtungen versorgten Patienten, auch im Zeitverlauf, zu erreichen. Durch die Abrechnung der Besuchspauschale über mindestens 2 Quartale des Aufgreifjahres hinweg wird sichergestellt, dass beispielsweise Patienten in der Kurzzeitpflege nicht eingeschlossen sind. Eine weitere Absicherung, dass die Patienten mindestens eine ambulante Leistung in der Impfsaison erhalten haben, stellte sicher, dass diese sich während der Impfsaison in der bPA-Einrichtung befanden.
Verglichen mit den öffentlichen Statistiken zur Anzahl der vollstationären Pflegeheimplätze ergibt sich für die Jahre 2011, 2013 und 2015 eine durchschnittliche Abdeckung von ca. 56 %. Zum Teil lässt sich die Differenz zur Anzahl der vollstationären Pflegeheimplätze von 44 % dadurch erklären, dass durch die gewählte Operationalisierung zur Zuordnung von Patienten in bPA-Einrichtungen solche Patienten, die in bPA-Einrichtungen leben, deren Inanspruchnahme der vertragsärztlichen Versorgung aber rein in Praxen erfolgt, nicht berücksichtig werden. Zu beachten ist zudem, dass Altenheime oder andere Wohnformen in die öffentlichen Statistiken der vollstationären Pflegeheimplätze nicht eingehen, sodass der Anteil der Studienkohorte an der wahren Anzahl der in Alten- und Pflegeeinrichtungen lebenden Menschen noch deutlich geringer sein wird. Zudem werden privat krankenversicherte Patienten sowie Patienten in regionalen Selektivverträgen und/oder Verträgen der HzV ebenfalls nicht in den vorliegenden Routinedaten erfasst [
25].
Fazit
Die vorgestellten Impfquoten aus der Routinedatenerhebung geben die Möglichkeit, erste Erkenntnisse zu in bPA-Einrichtungen vertragsärztlich versorgten Patienten zu erhalten. Die Ergebnisse zeigen eine Abnahme der Impfquoten von der Impfsaison 2010/2011 bis zur Impfsaison 2015/2016 um 3,7 Prozentpunkte. Weiterhin zeigten sich Hinweise auf einen Zusammenhang hinsichtlich der strukturellen Versorgungsunterschiede und der Inanspruchnahme von Influenzaimpfungen. Für die untersuchte Gruppe wurden die Empfehlungen der Europäischen Kommission zu einer Influenzaimpfquote von 75 % bisher nicht erreicht.
Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit von weiteren gesundheitspolitischen Maßnahmen und einer verstärkten Verbreitung von Gesundheitsinformationen zur Erhöhung der Impfbereitschaft und verbesserten Umsetzung von Impfungen in bPA-Einrichtungen. Dies ist erforderlich, um Morbidität, Mortalität und sensitive Krankenhauseinweisungen aufgrund vermeidbarer Influenzaerkrankungen zukünftig weiter zu verringern.